27. Ferngespräch

 

Demir Kara

 

Demir wagte es nicht, sich zu bewegen. Der Uniformierte fuchtelte immer noch mit der Maschinenpistole vor seinem Gesicht herum und beleidigte ihn auf das Übelste. Dann beugte sich Katta nach vorne, streckte ihren Arm aus und hielt dem Kerl das Satellitentelefon unter die Nase. »Ich kann uns hier rausbringen. Ich kann uns hier rausbringen.«

»Was ist das?«, schrie der Aufgeregte.

»Satellitentelefon.«

Zu Demirs Beruhigung sank der Lauf der MP. Der Mann setzte zum Sprechen an, als plötzlich der gerammte X5 rückwärts auf sie zu jagte. Noch so ein Irrer. Der BMW hielt neben dem Audi. Auf dem Fahrersitz saß ein Mann ohne Uniform. Das Beifahrerfenster war heruntergelassen. Die beiden Typen schrien sich gegenseitig etwas zu.

»Fahrt uns nach«, schrie der Uniformierte, dann sprang er in den X5.

Demir wusste nicht, was er tun sollte. Zombies, Unfall, Bedrohung mit tödlicher Waffe. Das war zu viel, in zu schneller Folge. Katta schrie. »Sie kommen.«

Bilal startete den Wagen, während Demir versuchte, den schlappen Airbag unter Kontrolle zu bringen.

»Ich will denen nicht nachfahren«, sagte Bilal.

»Keine Zeit zum Diskutieren.« Demir hatte sich gefangen. Er deutete mit dem Finger zur Windschutzscheibe. Weniger als zweihundert Meter vor ihnen lag die Friedensbrücke, die die Innenstadt über den Main mit den südlichen Stadtteilen verband. Die Irren kamen unter der Brücke hervor, rannten in ihre Richtung. »Die kommen von überall. Fahr ihnen nach.« Das war überflüssig. Bilal hatte seine Meinung bereits geändert, wendete den Audi und schickte sich an den anderen Fahrzeugen zu folgen.

»Wir sind gleich mittendrin«, flüsterte Katta. Die Masse strömte zwischen ihnen und dem letzten BMW auf die Straße.

»Halt einfach drauf. Der Wagen ist gepanzert. Halt drauf!« Demir stemmte beide Füße gegen das Bodenblech. Bilal beschleunigte. Zwei Körper wurden durch die Motorhaube aufgebockt, schlugen in die Windschutzscheibe ein, glitten darüber hinweg auf das Wagendach. Menschen rannten von allen Seiten gegen den Audi. Ein Kopf klatschte an Demirs Seitenscheibe, auf dem Glas blieb ein roter Schleier zurück. Katta kreischte. Demir wollte es ihr gleich tun, bekam aber keinen Ton über die Lippen. Der Transporter und einer der X5 hatten die Kreuzung zum Hafentunnel erreicht. Der BMW, der unmittelbar vor ihnen fuhr, wurde langsamer, blieb fast stehen. »Links dran vorbei.« Demir versuchte, in den Wagen zu schauen, als sie ihn überholten. Durch sein verschmiertes Seitenfenster erkannte er kaum etwas. In dem BMW saßen der Irre und der andere Typ in Zivil.

Sie fuhren an ihnen vorbei. Was war bei denen los? Benzin leer? Bilal rammte einen Golf, der wie angespültes Treibgut mit offenen Türen im Weg herumstand. »Auf den Bürgersteig.« Demir versuchte Halt in dem hüpfenden Auto zu finden, stieß mit dem Kopf schmerzhaft gegen die B-Säule. Die Fahrzeuge voraus bogen in Richtung Hafentunnel ab. Hinter ihnen holte der X5 wieder auf.

»Alter, wieso halten die?« Bilal jagte über den Bürgersteig, dann zurück auf die Straße.

»Was?« Demir hob es aus dem Sitz.

Vor ihnen ging es nicht mehr weiter. Bilal stieg auf die Bremse, brachte den Audi knapp vor dem Heck des Transporters vor ihnen zum Stehen. Hinter ihnen bremste der BMW. Türen flogen auf. »Sind die dumm?« Bilal schlug mit den Händen gegen das Lenkrad. Demir hatte die Tür geöffnet und war ausgestiegen. Jetzt erkannte er das Problem.

Beide Fahrstreifen wurden durch ineinander verkeilte Autos verstopft. Ein Lastwagen hatte erfolglos versucht über den Gehweg dem Chaos zu entkommen, bildete eine Barrikade quer zwischen Häuserfront und Straße. Es bestand nicht die geringste Chance dort hindurchzukommen. Der Mann in Zivil schrie: »Sie kommen aus dem Tunnel. Es ist nicht weit. Wir müssen rennen.« Der Zivilist gab den Weg vor. Die Männer rannten los. Bis auf den einen trugen alle diese Kampfuniform. Drei von ihnen schleppten einen ihrer Kollegen. Die Gruppe bewegte sich schnell.

»Was machen...« Demir ließ Bilal nicht aussprechen. »Hinterher.«

Katta hatte das Fahrzeug verlassen und Bilal folgte ihr. Zu dritt hetzten sie den Uniformierten nach. Aus Richtung des Hafentunnels hörte er Geräusche, als ob man Tausend Getränkedosen zerdrückte. Ein flüchtiger Blick. Hunderte von Menschen liefen über die Autos hinweg auf sie zu. »Wo sollen wir hin?« Katta hatte sie auch bemerkt. Demir hatte keine Ahnung. Er rannte einfach den Actiontypen hinterher, vertraute darauf, dass sie ein Ziel hatten. Sie überholten das Trio, das den Bewusstlosen trug. Aufgrund ihrer Last waren sie deutlich langsamer als die anderen. Viel zu langsam. Der Anführer der Uniformierten, der bereits ein Stück vorneweg lief, stoppte und kehrte um. Er schrie die Träger an. Die Männer ließen ihre Fracht zu Boden. Der Chef hob die MP und schoss dem Verletzten in den Kopf.

Demir hatte die Szene beobachtet. Er hatte sich umgedreht und war rückwärts weitergelaufen. Wer immer diese Typen waren, sie gingen die Angelegenheit mit allem Ernst an.

Hundert Meter hinter ihnen hetzte die Meute durch die kleine Grünanlage. Wenn er stehen bliebe, dann hätte er noch zehn Sekunden. Maximal. Er drehte sich um und rannte den anderen nach. Die überquerten gerade eine schmale Fußgängerbrücke, die in das Herz des Behördenzentrums führte. Der anschließende Weg verlief zwischen zwei achtstöckigen Gebäuden hindurch. Für einen Moment waren sie außerhalb des Sichtbereichs ihrer Verfolger. Der Mann in Zivil lief auf einen der Eingänge zu, fummelte an einem Kasten herum, der neben der Tür hing. Er zog sie auf. Katta fiel zurück. Demir verzögerte kurz, bis sie aufgeschlossen hatte. »Komm schon. Gleich haben wir es geschafft.« Die Gruppe stolperte in einen Empfangsbereich. Die Uniformierten hoben ihre Waffen, sahen sich sichernd um. Demirs Lunge brannte. »Hier lang.« Der Kerl, der sie in das Gebäude gelassen hatte, zeigte auf eine Tür. Er hinkte auf sie zu, hielt eine Art Chip an ein Lesegerät. Es klickte. Sie liefen in ein Treppenhaus, es ging nach oben. Schon wieder nach oben. Das letzte Dach hatte ihm nicht gefallen. Bis jetzt hatten sie zwei Glastüren passiert, das wirkte nicht sonderlich sicher. Im dritten Stock öffnete der Mann eine weitere Tür. Wieder Glas. Demir dachte daran, wie die Verrückten in der letzten Nacht durch das Sicherheitsglas in dem Commerzbank-Tower geplatzt waren. Gar nicht gut. Sekunden später saßen Demir, Bilal und Katta in einem Büroflur auf dem Boden. Die Uniformierten stapelten in Windeseile Büromöbel vor der Tür. Demir hockte dicht neben Katta. Sie rang nach Atem und fing an zu husten. In einem hilflosen Versuch klopfte er ihr auf den Rücken. Er selber bekam seine Atmung langsam unter Kontrolle. Der Anführer der Uniformierten hob den Finger an den Mund: »Leise. Ruhe jetzt«, zischte er. Augenblicklich sank der Lärmpegel. Wenn ihre Verfolger hochkamen, dann nicht geräuschlos. Darauf konnte man sich verlassen. Minutenlang lauschten sie. Es blieb still. Schließlich nickte der Chef der Polizeisoldaten. »Gut«, sagte er. »Ich denke, wir haben sie abgehängt.« Der Mann stand auf und ging in ihre Richtung, zog seine Pistole aus dem Holster. Sein Gesicht glich einer Maske mit bösen funkelnden Augen. »Wegen euch blöden Pennern ist mein Kamerad gestorben. Ich mache euch kalt.«

Der Mann in Zivil sprang dazwischen. »Du solltest hier nicht herumballern. Der Lärm zieht sie an.«

Der Bewaffnete blieb stehen, sah den Zivilisten an. »Hast du auch wieder recht.« Er steckte die Pistole weg und zog ein Kampfmesser aus einer am Oberschenkel befestigten Scheide. »Dann schneide ich euch den Hals durch.« Er griff Bilal an den Kragen und zog ihn nach oben. »Mit dir Penner mache ich den Anfang.«

Ein Telefon klingelte.

Alle sahen Katta an. Das Geräusch kam aus ihrer Handtasche. Bilal wurde losgelassen, sackte zu Boden. Der Mann in Zivil fand als Erster seine Stimme wieder: »Vielleicht solltest du rangehen. Könnte wichtig sein.«