29. Gesetz ist Gesetz

 

 

Markus Steller

 

Steller interessierte das unerwartete Telefonat nicht. Er war mit seinen Gedanken woanders. Hatte er wirklich Ben gesehen? Konnte das sein? Als er den Plan gefasst hatte, sich auf die Dienststelle zu flüchten, war seine ganze Hoffnung gewesen, dass sich irgendjemand von seinem Team hierher gerettet haben könnte. Dann hätte er jemanden auf seiner Seite gehabt, hätte nicht mehr alleine gestanden. Diese Hoffnung war gestorben. Steller war sich mittlerweile sicher, dass sie alleine waren. Hier war niemand, das fühlte er. Weder Gesunde noch Kranke. Wie hatte er annehmen können, dass er auf der Dienststelle jemanden finden würde? Wie naiv der Mensch doch war, wenn er hoffte. Aber war das überhaupt von Belang, wenn da draußen Ben herumlief?

Alle konzentrierten sich auf das Telefonat. Zu Stellers Rechten lag die Tür, die in den Arbeitsbereich führte. Sie stand wie gewöhnlich offen. Der Arbeitsbereich war schlauchartig und bestand aus drei hintereinanderliegenden Büros, die jeweils durch eine Tür miteinander verbunden waren. In jedem der Büros befanden sich zwei Schreibtische, auf denen Computer standen. An normalen Tagen saßen hier die Kollegen und schrieben ihre Berichte. Steller registrierte, dass es noch Strom gab. Die Computer summten unbeeindruckt von den Ereignissen der letzten Stunden vor sich hin. Aus einem Regal, in dem unter anderem Handys und Funkgeräte aufbewahrt wurden, nahm er sich ein Fernglas. Hastig lief er zu einem Fenster, von dem aus er in die Richtung sehen konnte, aus der sie gekommen waren. Dabei bemühte er sich, möglichst tief im Raum zu stehen, um von draußen nicht gesehen zu werden.

Der Weg zwischen den Gebäuden war leer. Er suchte die Umgebung mit dem Feldstecher ab. Nichts. Die konnten sich doch nicht in Luft auflösen. Nervös joggte er durch die zusammenhängenden Büros des Arbeitsbereiches zur anderen Gebäudeseite. Von hier aus konnte er die Südseite des Bahnhofs überblicken. Auf einigen Gleisen standen Züge. Das wirkte beunruhigend gewöhnlich. Die Haupthalle konnte er nicht einsehen. Ansonsten bot sich ihm das mittlerweile bekannte Bild von verstreut herumliegenden Leichen und gestrandeten Autos. Sonst nichts. Als hätte er sich alles eingebildet. Dann sah er etwas.

Am Hauptgebäude des Bahnhofs bewegten sich Gestalten. Als das Fernglas scharf stellte, verschwanden sie aus seinem Blickfeld. Er ließ das Glas sinken. Seine Beine zitterten. Hatte er vorhin im Auto wirklich Ben gesehen? Das konnte nicht sein. Der Mann war mehr als hundert Meter in die Tiefe gestürzt. Das überlebte keiner. Steller glaubte nicht an Geister. Er glaubte nicht, dass sie es mit Zombies zu tun hatten. Das wollte er auch nicht glauben. Aber selbst wenn, konnte es nicht Ben gewesen sein. Der müsste mit gebrochenen Knochen über den Boden fließen. Laufen ging nicht mehr. Weder als Mensch noch als wandelnder Toter. Und wenn es doch Ben war? War er gekommen, um ihn zu holen? Steller schüttelte sich, legte das Fernglas weg und ging zu den anderen. Einbildung, nichts weiter als Einbildung. Er durfte nicht die Kontrolle verlieren.

Als Steller wieder bei der Gruppe ankam, sah er, wie das Mädchen gerade das Telefonat beendete. Der Kommandoführer ergriff sofort das Wort und gab weiter, was die Mutter des Mädchens zu ihm gesagt hatte. Es handelte sich also um eine Krankheit, die der Tollwut ähnelte. Das erklärte nicht, warum sie zur gleichen Zeit wie von einem Timer gesteuert ausgebrochen war. Aber dazu gab es keine weiteren Informationen. Man sollte sich von den Infizierten fernhalten. Da mussten alle Anwesenden kurz trocken lachen. So in etwa musste die Stimmung in einem Schützengraben des 1. Weltkriegs gewesen sein. Der Leutnant erklärt, dass sie in einer halben Stunde die Franzosen angreifen würden und erzählt dabei einen Witz, um die Stimmung aufzulockern.

Das Problem war weltweit. Das überraschte Steller nicht. Trotzdem war die Nachricht ein derber Schlag, der dem vorherigen Stimmungsmacher die Wirkung nahm. Nachdem er mit den schlechten Nachrichten fertig war, erklärte Fieber seinen Plan für das weitere Vorgehen. Der Plan entpuppte sich eher als eine Art Grundidee. Ziel war es, die Stadt zu verlassen und Zuflucht in einer Bunkeranlage im Schwarzwald zu suchen. Von dem Bunker hatte Steller gehört. In den Medien ging es seit Wochen um kaum etwas anderes. Eine Art Genforschungsanlage. Ob in dieser Anlage die Ursache ihrer Probleme lag? Vielleicht war der Bunker das Auge des Hurrikans. Kein schöner Gedanke. Andererseits, lieber im Auge des Sturms sitzen, als im Wirbel durch die Welt geschleudert zu werden. Auf jeden Fall schien die Mutter des Mädchens dort die Chefin zu sein.

»Katta steht ab sofort unter unserem Schutz.« Dabei deutete Fieber auf das Mädchen, das zwischen den beiden Türken saß. Die Jungs waren mittlerweile entwaffnet und verhielten sich angepasst. Steller besah sie sich genauer. Der Hübsche wirkte in Ordnung, aber der andere sah scheiße aus. Der Typ war zweifelsohne ein kleinkriminelles Arschloch. Steller hatte oft genug mit diesem Menschenschlag zu tun. Dafür hatte er ein Auge. Das war aber bedeutungslos. Der einzig gefährliche Mensch in diesem Gebäude war Fieber. Diesen Gedanken schien der Kommandoführer gehört zu haben und versuchte ihn direkt zu bekräftigen, indem er sein Messer zog. »Da das Geschäftliche jetzt beendet ist, kommen wir zum Privaten.« Fieber zog den hässlichen Jungen an den Haaren in die Höhe. »Wegen dir habe ich einen Mann verloren. Ich musste ihm selber in den Kopf schießen. Dafür schneide ich dich in Scheiben.«

Einen Mann verloren? Davon hatte Fieber bereits vor dem Telefonat gefaselt, aber Steller hatte die Information aufgrund kognitiven Kapazitätenmangels nicht verarbeiten können. Er erinnerte sich daran Schüsse gehört zu haben, hatte aber gedacht, sie galten den Tollwütigen. Es konnte sich nur um ihren Fahrer handeln. Tatsächlich. Flu fehlte. Steller hatte noch gesehen, dass er von anderen Kollegen getragen wurde. Anscheinend nicht schnell genug. Mangelnde Entschlusskraft konnte man Fieber nicht vorwerfen. Das erklärte auch, warum der so angepisst war. Sollte er Fieber aufhalten? Zu gefährlich. Er versuchte, in den Gesichtern der anderen zu lesen. Regungslos, keine Gefühle. Kein potenzieller Meuterer in den eigenen Reihen? War die Gruppe so homogen? Die Kollegen standen da, besahen sich das Schauspiel. Das Mädchen, das Fieber Katta genannt hatte, sprang auf. »Lass ihn in Ruhe.«

Stellers Muskeln spannten sich. Nicht die Kleine. Fieber knallte den jungen Türken an die Wand. Es klimperte, durchsichtige Glaskugeln rollten über den Boden. Dem Mann fielen die Murmeln aus der Hose. Fieber trat zwei Schritte zurück. Ohne den Unglücklichen aus den Augen zu lassen, bückte er sich und nahm einige der Steinchen auf. »Was ist das?«

Stille.

»Mann. Ich habe dich etwas gefragt.«

Der Hübsche gab Antwort. »Das sind Diamanten.«

»Diamanten.« Fieber starrte auf seine offene Handfläche. »Wo zum Teufel habt ihr die her? Familienerbstücke?«

»Hör zu. Mein Name ist Demir. Demir Kara. Und er«, Demir deutete auf seinen Kumpel, »heißt Bilal.«

Genau. Nenne deinen Namen. Das macht das Töten persönlicher und schwieriger. Nur schade, dass das Fieber nicht interessieren würde.

»Noch mal. Woher habt ihr die Steine?«

Bilal antwortete: »Wir wollten einen Kurier überfallen?«

Na, schau mal an. Gar nicht so kleinkriminell wie gedacht.

»Wolltet?«

»Ja. Wir wollten. Aber dann geschah diese Scheiße. Der Kurier hat die Steine fallen lassen. Ich habe sie genommen«, sagte Bilal.

»Fallen gelassen?« Fieber wirkte nicht überzeugt.

»Ja.«

»Warum?«

»Weil der Mann dachte, dass er gleich gefressen wird.«

Fieber nickte. »Was ist mit dir? Du hattest keine Angst?«

Bilal sah zu Boden. »Ich habe nur den Beutel mit den Steinen gesehen.«

»War das Mädchen dabei?«

»Nein. Ich kenne die gar nicht.«

Fieber holte tief Luft. »Gut. Im Namen des Volkes verurteile ich euch beide hiermit zum Tode.«

Jetzt wurde es irre.

»Bist du verrückt?« Katta schubste Fieber von der Seite. Der reagierte nicht. »Ich habe dich was gefragt?« Sie schrie ihn an.

»Verrückt?« Er legte die Stirn in Falten. »Schwer zu sagen.«

Katta war nicht dumm. Sie hatte erkannt, dass Fieber keinen Spaß machte. Das war todernst.

»Aber du hast recht. Sie sollten einen ordentlichen Prozess bekommen. Das Problem ist, dass das Landgericht derzeit nicht besetzt ist. Darum übernehme ich das. Tja, mal sehen. Ich könnte das Urteil in eine Haftstrafe umwandeln. Wenn ich die Typen hier einsperre, kommt das einem Todesurteil gleich. Für einen Gefangenentransport fehlen uns die Ressourcen. Laufen lassen kann ich sie nicht. Du siehst, es ist keine leichte Entscheidung.«

»Hör auf damit. Wenn du den beiden ein Haar krümmst, kommt keiner von euch in den Bunker.«

Fieber sah Katta an. Das erste Mal schenkte er ihr seine volle Aufmerksamkeit. »Willst du mir drohen?«

»Das war eine Feststellung. Lass die beiden in Ruhe.«

Der Kommandoführer dachte nach. Steller stand mit der rechten Körperseite an der Wand gelehnt. Niemand konnte sehen, wie er vorsichtig sein T-Shirt über das Holster schob, um schneller ziehen zu können.

Fieber würde er ohne Zweifel erwischen. Vermutlich noch zwei oder drei seiner Kollegen. Aber alle? Nur im Film.

»Was ist mit dir?« Katta sah in Stellers Richtung. Meinte die ihn? Irritiert drehte er sich um und musste feststellen, dass er Dallas übersehen hatte. Der stand schräg hinter ihm. So eine Scheiße. Dallas musste seine Vorbereitungshandlungen zum Shoot-out gesehen haben. Unangenehme Situation.

»Ich meine dich.«

Steller wandte sich wieder Katta zu. »Was ist mit mir?«

»Du bist doch auch Polizist. Bist du nicht höherrangig?«

Das hatte sie sicher von ihrer Mutter gelernt. Nicht schlecht.

»Ja.«

»Dann sollte es deine Entscheidung sein.«

Fieber lächelte. »Das ist richtig. Herr Hauptkommissar, was sagen Sie?«

Gute Frage. Die beiden Typen interessierten ihn nicht. Viel wichtiger war die Frage, was geschehen würde, wenn sich Dallas und Fieber unterhielten. Das Ergebnis konnte nicht vertrauensbildend sein. Also gut, direkt von der Defensive in den Angriff umschalten. »Wir sollten unter vier Augen sprechen«, sagte Steller. Kommentarlos folgte Fieber Steller in den Spindraum. Aus den Augenwinkeln bemerkte Steller, wie Dallas sich anspannte. Richtig vermutet. Der hatte alles gesehen und wusste jetzt nicht, ob er gleich Alarm schlagen sollte. Es hatte den Anschein, als würde er vorerst die Nerven behalten. Steller schloss die Tür hinter sich. In dem Raum befanden sich mehrere Reihen von Spinden und zwei aufgeklappte Feldbetten. Eine weitere Tür führte zu den Duschen. Steller musste daran denken, dass die Räumlichkeiten noch nicht durchsucht wurden. Das war schlampig. Er verdrängte den Gedanken. Ohne Vorankündigung öffnete Fieber seinen Overall und stand im Unterhemd vor ihm. Wollte der sich jetzt mit ihm boxen? Der SEK-Mann drehte Steller den Rücken zu und zog das Unterhemd nach oben. »Und? Wie sieht das aus?«

»Dürfte bald grün und blau werden.«

»Kannst du sehen, ob Rippen gebrochen sind?«

»Woran soll ich das erkennen?«

»Steht da irgendwo ein Knochen ab? Ist eine Art Beule zu sehen?«

»Nein.«

»Gut. Wäre ein schlechter Moment für einen Bruch.«

»Woher hast du das?«

»Der Unfall, glaube ich.«

Steller nickte. »Schmerzt das beim Atmen?«

»Kein Problem.«

»Was ist mit deiner Platzwunde?«

Fieber fasste sich an die Stirn. »Hat aufgehört zu bluten. Das wird eine ordentliche Narbe geben.«

Fieber hatte kein Gramm Fett am Körper. Steller fiel eine Tätowierung an seinem linken Oberarm auf. Ein Schwertfisch, umrahmt von einem Spruch: Lerne leiden, ohne zu klagen. Das Symbol kannte Steller. Der Schwertfisch war das Zeichen der Kampfschwimmer. Der Spruch, ihr Motto. Fieber war kein Angeber, der sich mit geliehenen Insignien wichtig machen wollte. Der Mann musste in einem anderen Leben Kampfschwimmer gewesen sein. Das erklärte einiges. Die Eliteeinheit musste sich nicht vor anderen verstecken. Weder vor den Navy Seals noch vor dem englischen SAS. Kein Wunder, dass die Jungs ihm folgten. Sie sahen zu ihm auf. Fieber zog sich wieder an. »Und? Was sollen wir mit den beiden anstellen?«, fragte Fieber.

»Hattest du vor, dem Mädchen etwas anzutun?«

»Nein.«

»Es hatte den Anschein. Ich muss dir sagen, dass ich die Hand schon an der Waffe hatte. Wenn du dem Kind etwas getan hättest, dann hätte ich geschossen. Tut mir leid, aber ich muss da klare Verhältnisse schaffen.«

Fieber sah ihn an. Lange. Seine Augen verrieten nicht, ob er gleich anfangen würde zu lachen oder daran dachte, ihm in den Kopf zu schießen. Er entspannte sich. »Wir haben alle unsere Prinzipien. Außerdem habe ich nicht vergessen, dass die Kleine wichtig ist. So verrückt bin ich noch nicht.«

Wie er das sagte, klang es fast so, als ob er begriff, dass er dabei war, den Verstand zu verlieren. War das gut oder schlecht? »Was die beiden anderen angeht. Die sind mir egal. Aber ich sehe eine Verbindung zwischen ihnen und dem Mädchen«, sagte Steller.

»Ja.«

»Darum sollten wir sie verschonen.«

»Das sind Verbrecher.«

Steller dachte an die Zivilisten im Hinterhof. Waren das auch Verbrecher gewesen? »Wenn du sie hinrichtest, verlieren wir das Mädchen. Das ist es nicht wert. Ich würde sie nicht unterschätzen.«

»Was schlägst du vor?«

Jetzt kam der Moment, in dem er sich ein wenig auf Fiebers Wahnsinn einlassen musste. »Wir nehmen sie mit. Dieser Demir hat zu dem Mädchen ein enges Verhältnis. Er wird auf sie aufpassen. Das sollten wir nutzen. Außerdem sehe ich in den beiden keine Gefahr. Wenn wir im Bunker sind, stellen wir sie vor ein Militärgericht.«

»Militärgericht?« Fiebers Blick verklärte sich.

»Die Diamanten stellen wir sicher. Du kannst sie mitnehmen, wenn du willst. Oder wir hinterlegen sie hier in einem Waffentresor.«

»So wird es gemacht. Die Steine nehmen wir mit. Als Beweismittel. Willst du sie an dich nehmen?«

»Nein. Das Extragewicht tausche ich lieber gegen ein zusätzliches Magazin.« Am Ende würde Fieber ihm noch vorwerfen, mit den Diamanten durchbrennen zu wollen. Der Kommandoführer klopfte ihm auf die Schulter. »Richtige Entscheidung. Da gibt es allerdings ein weiteres Problem.«

»Welches?«

»Die haben Flu auf dem Gewissen. Vor allem dieser Bilal. Der ist gefahren. Scheiß auf die Diamanten. Ich habe ein persönliches Problem mit diesem Wichser.«

»Hast du Flu erschossen?«

»Er war ohnmächtig und zu schwer. Die Jungs konnten mit seinem Gewicht nicht schnell genug rennen. Darum habe ich ihn erschossen. Denkst du, es wäre humaner gewesen, ihn einfach liegen zu lassen?« Er sah Steller an, gespannt auf dessen Reaktion.

Der gab sich ungerührt. »Das war sicher keine leichte Entscheidung.«

»Man tut, was man tun muss.«

»Lass sie leben. Denk an das Mädchen.«

»Glaubst du wirklich, dass die ihr etwas bedeuten?«

»Ich würde es nicht ausprobieren. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie blufft.«

Fieber nickte. »Vielleicht hast du recht. Also abgemacht. Die beiden bleiben am Leben. Vorerst. Ausgestanden ist die Sache nicht.«

Nein, da gab es einiges, das nicht ausgestanden war. Daran hatte Steller überhaupt keinen Zweifel.

»Noch etwas.« Fieber sah Steller fest in die Augen. »Ich habe schon Menschen gesehen, die ausgeweidet an Bäumen hingen. Ich weiß, wie man der Hölle entkommt. Wenn du das hier überleben willst, musst du dich fokussieren. Verstehst du? Du darfst nicht zögern, du darfst nicht an Vergangenes denken, du darfst keine Sekunde abgelenkt sein. Sonst kannst du dir jetzt schon eine Kugel in den Kopf jagen.«

»Ich werde mich konzentrieren. Das verspreche ich.«