23. Ablenkung

 

Markus Steller

 

Als er das Klirren von Glas hinter sich hörte, drehte Steller sich nicht um. Es war klar, was das bedeutete. Durch das Treibmittel der Angst beschleunigt, flog er die Mauer hinauf, saß Sekunden später auf der Mauerkrone und zog den nachfolgenden Kollegen nach oben.

Dann musste er doch hinsehen. Durch ein zwei mal zwei Meter großes Fenster schoben sich menschliche Körper. Für den Moment behinderten sie sich gegenseitig. Einzelne Leiber tropften wie zähflüssige Lava auf die Pflastersteine. Weitere Fenster wurden von innen aufgesprengt. Fieber stand in der Mitte des Innenhofes zusammen mit den Büromenschen. Die Verrückten, die als Erstes aus den Fenstern gefallen waren, sprangen auf und rannten auf die Gruppe zu. Fieber hob die MP und schoss. So ein Unsinn. Es waren zu viele. Aber Fieber feuerte nicht auf die Angreifer. Der dicke Werbefachmann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, ging als Erster zu Boden. Dann der Nächste. Fieber benutzte die Waffe präzise, bewegte sich gleichzeitig rückwärts in Richtung der Mauer. Ein weiterer SEKler eröffnete das Feuer. Die Zivilisten brachen nach der Reihe zusammen.

Die beiden Polizisten drehten sich um, sprinteten zur Mauer, sprangen aus vollem Lauf auf die Mülltonnen und flankten akrobatisch hinüber, als erwartete sie auf der anderen Seite ein Swimmingpool und kein gepflasterter Bürgersteig. Die SEK-Männer waren verschwunden.

Steller konnte sich nicht bewegen. Er sah, wie einige der Zurückgebliebenen auf die Mauer zu humpelten. Andere wälzten sich auf dem Boden. Die ersten Angreifer stürzten sich auf die Liegenden, begruben sie unter ihren Körpern. Mittlerweile waren vier oder fünf Fenster zerschlagen. Der Hof wurde mit Körpern geflutet. Ein Mann, der sein Bein nachzog, versuchte auf die Mülltonnen zu steigen. Steller beugte sich hinunter und reichte ihm die Hand. Im nächsten Moment wurde der Verletzte an den Haaren zurückgerissen. Der ganze Innenhof war von Leibern überschwemmt, die Menschen krochen übereinander wie wild gewordene Wanderameisen. Immer mehr schoben sich in den Hof.

Steller bekam die Kontrolle über seinen Körper zurück. Er sprang die Mauer hinunter, kam schwer auf. Ein stechender Schmerz sprang von seinem Fuß die Wade hinauf und blieb in seinem Knie stecken. Hatte er sich das Bein verstaucht? Dann war er tot. Er trat auf, ignorierte den Schmerz und sprintete in Richtung der Fahrzeuge. Die standen auf der Straße, bereits ausgeparkt, alle Türen bis auf drei geschlossen. Die fuhren ohne ihn, ließen ihn hier einfach verrecken. Er rannte so schnell er konnte. Bitte nicht.

Dann sah er zwei SEK-Männer. Sie standen in Höhe der Autos auf dem Bürgersteig. Steller hatte noch fünfzig Meter vor sich. Die Muskeln in seinem rechten Bein blockierten und er fing an zu humpeln. Die beiden Kollegen vor ihm hoben die Maschinenpistolen in den Anschlag. Die wollten ihn umlegen. Warum? Warum fuhren sie nicht einfach weg?

Schüsse fielen.

Steller lief weiter, spürte nichts.

Wieder Schüsse.

Er begriff. Die Meute hatte die Mauer überwunden, jagte ihn. Bloß nicht umdrehen. Wer sich umdreht, verliert die Koordination und fliegt auf die Fresse. »Komm schon, Alter!«, schrie einer der Männer. Steller erreichte die Fahrzeuge, sprang durch die offene Tür von einem X5 auf die Rücksitzbank. Auf dem Fahrersitz erkannte er Flu. Der Mann gab sofort Gas. »Wo muss ich lang?«, schrie er.

»Geradeaus. Ende ... rechts.« Steller versuchte, ohne Luft in den Lungen zu sprechen.

»Das konnten wir von oben nicht einsehen«, schrie der Fahrer.

»Planänderung.« Steller hyperventilierte. »Dynamische Lage. Kennt ihr doch.«

Der X5 machte eine Vollbremsung, schlitterte nach rechts auf die Konrad-Adenauer-Straße. Vor ihnen standen verlassene Fahrzeuge. Der Wagen schleuderte wie bei einer Slalom-Abfahrt. »Ruhig, Junge«, sagte Fieber, der auf dem Beifahrersitz saß. »Einen Unfall können wir uns nicht leisten.«

Steller konnte immer noch nicht richtig atmen und er hatte nicht das Gefühl, dass sich das zeitnah bessern würde. Er drehte sich um. Die beiden anderen Fahrzeuge folgten ihnen. Als er nach vorne blickte, sah er in Fiebers Augen. Der hatte sich im Sitz gedreht. »Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert«, sagte er lächelnd.

Steller blieb stumm.

Wie schnell der Firnis der Zivilisation abblätterte. Fieber hatte nie vorgehabt, die Menschen mitzunehmen. Wenn man das isoliert, ohne moralische Komponente, betrachtete, war es eine vernünftige Entscheidung. Die Zivilisten waren langsam, laut, mussten versorgt werden und waren in keiner Hinsicht hilfreich. Es war schwer genug ohne Ballast. Schwer genug, sich selber am Leben zu halten. Wenn Fieber sich entschieden hätte, die Leute an Ort und Stelle zu lassen, dann hätte Steller das verstanden. Aber was Fieber getan hatte, nannte er Mord. Auch wenn die Flucht ohne Zwischenfall funktioniert hätte, hätte er sie am Ende getötet. In den Fahrzeugen gab es viel zu wenig Platz. Steller war sich sicher, dass Fieber sie spätestens an der Straße zurückgelassen hätte. So, wie sich die Situation darstellte, glich das einem Todesurteil. Fieber befand sich in einem höheren Überlebenskampfmodus. Er sah sich und seine Männer als wichtigstes Gut an, das es zu schützen galt. Die Kosten spielten keine Rolle. Die Schwachen als taktisches Einsatzmittel.

Fiebers Verhalten trug eindeutig psychopathische Züge. Steller glaubte nicht, dass Fieber das Töten Freude bereitet hatte. Es schien ihm vielmehr gleichgültig zu sein, eine nötige, aber belanglose Tätigkeit. Als ob er einen platten Reifen wechselte. Steller fühlte sich selber wie ein platter Reifen. War er selbst irgendwann auch an der Reihe? Oder sah Fieber ihn wirklich als Teil der Gruppe? Er musste höllisch aufpassen. Im Moment war es sicher am klügsten, den Mund zu halten. Cool bleiben, egal um welchen Preis. Spielraum für Trial-and-Error gab es nicht. Die neue Ordnung verzieh keine Fehler.

Was war mit dem Kollegen, der zusammen mit Fieber auf die Zivilisten geschossen hatte. Warum hatte er das getan? Verwirrung? Stress? Oder war das ein Menschenschlag? Er konnte sich nicht erinnern, wer da gefeuert hatte. Das war alles zu schnell gegangen.

Die Fahrzeuge bogen in die Berliner Straße ein, fuhren grob in Richtung Hauptbahnhof. Die Straße besaß pro Fahrtrichtung zwei Fahrbahnen und war recht breit. Überall standen verlassene Fahrzeuge herum. Der Boden war übersät mit Leichen. Steller versuchte, die Toten zu ignorieren. Teilweise umfuhren sie die Hindernisse, indem sie auf den Bürgersteig auswichen. Das gelang nicht immer, dann holperte der BMW ekelig. An zwei Stellen zwang sie die Verkehrslage zum Anhalten. Fieber gab über den internen Funk des SEK-Teams Anweisungen. Seine Leute stiegen aus und schoben Autos beiseite. Stehen zu bleiben war mehr als unangenehm. Steller verrenkte sich nervös den Hals auf der Rückbank, versuchte die Gegend im Auge zu behalten. Es blieb ruhig. Keine kreischenden Irrsinnigen. Keine Tauben. Kein nichts. Doch er ließ sich nicht täuschen. Sie waren da. Das hatte ihre Fluchtaktion deutlich gezeigt. Konnten sie kein Licht vertragen? Vielleicht kamen sie nur aus ihren Löchern, wenn sie Beute witterten. Aber warum nicht jetzt? Der Lärm der Motoren sollte ausreichen. Er sah sich die Fassaden der umliegenden Gebäude an. Geschäfte mit darüber liegenden Büros. Vereinzelnd einige Wohnungen. Bei einigen Läden waren die Schaufenster zerschlagen, aber insgesamt schien alles intakt. Er fragte sich, wie viele Menschen sich in den Wohnungen eingeschlossen hatten. Es musste Tausende von Überlebenden in der Stadt geben. Oder schätzte er die Lage völlig falsch ein? Sie erreichten den Theatertunnel. Wo waren die alle? Diese Irren konnten sich doch nicht in Luft auflösen. Gestern Abend war die ganze Stadt voll gewesen. Steller beugte sich nach vorne, hatte auf einmal begriffen, was los war. »Wir müssen von dem Tunnel weg.«

Fieber drehte sich halb zu ihm um. »Natürlich fahren wir nicht durch den Tunnel. Viel zu riskant. Wir fahren daran vorbei.«

»Du verstehst nicht. Wir müssen hier weg. Die sind da drin.«

Fieber sah ihn erstaunt an. »Woher willst du das wissen?«

Flu schrie auf.

Dann sah Steller sie. Hunderte rannten aus dem Tunnel in ihre Richtung. Sie strömten aus dem Schatten wie ein gigantischer Schwarm Fledermäuse in der Dämmerung.

Flu trat auf die Bremse. »Die Straße ist blockiert.«

»Dann schieb die Karre aus dem Weg. Ramm sie weg.« Fieber drückte die Sprechtaste, die an einem Kabel aus seinem linken Ärmel heraushing. »Achtung, Achtung! Kontakt im Tunnel. Wir fahren rechts vorbei. Hindernisse werden gerammt.« Der X5 stoppte kurz vor einem kleinen koreanischen Auto, nahm Fühlung auf. Dann gab Flu Gas. Der Wagen wurde zur Seite geschoben wie ein Bobbycar.

»Sag was«, schrie Fieber. Damit war Steller gemeint.

»Geradeaus. Über den Platz. Einfach den Straßenbahnschienen folgen.«

Der Willy-Brandt-Platz war frei. Die drei Fahrzeuge schossen an der Neuen Oper vorbei. Fieber presste sich den Kopfhörer ins Ohr, bemüht bei dem Motorenlärm den Funk zu verstehen.

»Was? Was sagen sie?« Steller hasste es, wenn andere Informationen bekamen und er nicht. Er hatte immer das Gefühl, etwas Entscheidendes zu verpassen.

»Die kommen hinter uns aus den U-Bahn-Schächten.«

Da waren sie also. Steller drehte sich um, sah aus der Heckscheibe. Aus der B-Ebene am Willy-Brandt-Platz hetzten sie die Treppen hinauf, wie Statisten in einer Ben Hur-Verfilmung. Man sagte, ein sichtbarer Feind sei besser als ein unsichtbarer. Steller wusste nicht, was er von dem Spruch halten sollte. »Fahr weiter in die Münchener. Einfach geradeaus.« Die Straße schien befahrbar. Flu gab Vollgas. Steller wurde gegen die Rückenlehne gedrückt. Erst am Ende der Straße blockierten liegen gebliebene Straßenbahnen den Weg. »Links. Da rein.« Wieder Vollgas. »Jetzt rechts.«

Sie befanden sich auf der Gutleutstraße. Hier war kein Durchkommen mehr. »Auf den Bürgersteig.« Der Wagen hüpfte, dass Steller mit dem Kopf an den Wagenhimmel schlug. Sie erreichten den Basler Platz. Jetzt war es nicht mehr weit. Hier gab es auch keine U-Bahn und damit auch keine B-Ebene. Am Hauptbahnhof war es sicher richtig schlimm. Aber den umfuhren sie gerade. Jedenfalls, wenn die Straßenbedingungen das zuließen. Sie holperten zurück auf die Fahrbahn.

Ein dumpfer Schlag. In Stellers Kopf schlug eine riesige Glocke an, Sekundenbruchteile später verwandelte sie die Welt in einen Stummfilm.

Er sah durch die Frontscheibe.

Das Universum drehte sich. Straße. Häuser. Straße.

Der Innenraum füllte sich mit weißen Luftballons.

Die Fahrt war beendet.