47. Geflügel

 

Demir Kara

 

Demir fühlte sich, als wäre er in einer Wäscheschleuder eingesperrt. Im Rettungswagen war es eng und er fand keinen sicheren Halt. Immer wieder würfelten die Insassen durcheinander, tauschten gegen ihren Willen die Plätze. Zu allem Überfluss flog das medizinische Material durch die Luft. In den Kurven regnete es Einwegspritzen. Demir und Katta hielten sich so gut es ging gegenseitig fest. Den einzigen halbwegs vernünftigen Platz hatte Steller ergattert. Er saß in einer Ecke nahe der Fahrerkabine und stemmte die Füße gegen die Halterung der Trage, sodass er seine Position einigermaßen halten konnte. Auf seinem Schoß saß rittlings Anna. Sie hatte die Arme ausgestreckt und klammerte sich an seinem Oberkörper fest. Steller starrte mit leerem Blick in die Ferne. Auch Demir hatte mitbekommen, wie Schwede stehen gelassen wurde. Nicht dass er scharf darauf gewesen wäre, mit einem vermeintlich Infizierten auf engstem Raum zusammengepfercht zu sein. Aber die feine englische Art war das nicht. Fieber war offensichtlich völlig ruchlos und wie es aussah, trugen seine Männer dessen trockene Führungsart bedenkenlos mit. Mittlerweile konnte er immer mehr verstehen, warum Steller ihm die Waffe zugesteckt hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie selber an der Reihe waren.

Der RTW bremste. Die Insassen wurden in Richtung der Fahrerkabine komprimiert. Dann gab die Kiste wieder Vollgas und gemeinsam stolperten sie gegen die Heckklappe. Das Schlimmste war, dass Demir nicht sehen konnte, was draußen geschah. Es gab einen Schlag. Blech auf Blech. Der Motor heulte auf und Demir spürte, wie der Rettungswagen etwas zur Seite schob. Es blieb zu hoffen, dass die da vorne die Karre nicht festfuhren. Als er während eines Fahrmanövers zur Fahrerkabine geschleudert wurde, schlug er mit der Faust gegen die Plexiglasscheibe. Fiebers Gesicht erschien. »Wie sieht es aus?«, schrie Demir.

Fieber hob den Daumen und verschwand wieder aus seinem Sichtbereich. Ein erhobener Daumen also. Das konnte man glauben oder nicht. Das Rütteln ging weiter. Er tröstete sich damit, dass Rütteln Bewegung bedeutete und Bewegung Sicherheit versprach. Solange sie fuhren, bestand Hoffnung. So ging es einige Minuten lang weiter. Dann wurde die Fahrt ruhiger. Demir spürte, wie sie immer mehr beschleunigten. Offensichtlich war die Straße frei. Er schaffte es, sich neben Katta zu setzen. »Wie geht es dir?« Sie hob den Daumen. Die Geste machte anscheinend Schule. Demir versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. Die Blässe war einer gesünderen Hautfarbe gewichen. Ansonsten sah sie noch immer völlig verschreckt aus. Er war froh, dass es hier keinen Spiegel gab. Seine eigene Geistererscheinung wollte er gar nicht erst sehen.

Für einen Wimpernschlag verlor er die Bodenhaftung, schwebte mit seinem Hintern in der Luft. Bodenwelle? Dann wieder, diesmal war der Effekt stärker. Der RTW wurde aus den Stoßdämpfern gehoben. Demir spürte, wie das Fahrzeug den Kontakt zur Straße verlor. Sein Magen bewegte sich nach oben, wie in einem Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt. Das Fahrzeug begann zu schlingern. Der RTW wurde abgebremst.

Bevor Demir eine Frage an die Allgemeinheit loswerden konnte, wurden sie alle in einer harten Linkskurve an das Blech der gegenüberliegenden Fahrzeugseite geschmissen. Obwohl sie nur noch langsam fuhren, nahm das Holpern kein Ende. War das ein Erdbeben? Dann blieb der RTW ruckend stehen. War es das jetzt? Sollten sie alle nach draußen stürzen? Oder ging die Fahrt gleich weiter? Er sah sich um. Seine Mitreisenden waren genauso ratlos wie er. »Gehen wir raus?«, fragte er in die Runde. Bevor jemand auf die Frage reagieren konnte, flog die Heckklappe auf. »Alle raus!«, schrie Fieber.

Sie sprangen aus dem RTW. Demir orientierte sich. Er stand auf einem von Gebäuden umgebenen betonierten Platz. Zuerst fiel ihm die Helligkeit auf. Die schwarze Nacht war einer diffusen Beleuchtung gewichen. Außerdem warfen die Bauwerke um ihn herum seltsam verzerrte Schatten. Demir erkannte den Grund. Das Licht kam nicht von oben, sondern von der Seite. Er blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Vom Ende des Platzes führte eine schmale Straße zwischen Feldern hindurch. Nach dreihundert Metern machte sie einen Schwenk nach links und folgte dem Rand eines Waldstücks. Waren am Waldrand Bewegungen zu sehen? Demir versuchte, seine Augen zu fokussieren.

»Warum haben wir angehalten?«, fragte Katta.

Fieber winkte ab. »Dafür haben wir keine Zeit. Sie kommen von überall. Die Straße ist völlig dicht gewesen. Wir mussten in diesen Weg abbiegen. Das ist eine Sackgasse. Außerdem ist irgendetwas Großes gelandet. Nicht weit von hier. Wir müssen uns verstecken.«

»Was ist gelandet?«

»Jetzt sofort«, schrie Fieber.

Da waren tatsächlich Bewegungen. Demir sah Schatten, die der Straße folgten und aus Richtung des Waldes auf sie zukamen. Er zog Katta am Ärmel. »Der Mann hat recht. Wir müssen weg.«

Die SEK-Männer rannten in Richtung des Hauptgebäudes. Steller und Anna hatten ebenfalls eine Entscheidung getroffen und befanden sich auf dem Weg zu einer Halle, die dem Haus gegenüberlag und durch einen auf Pfeilern ruhenden Übergang mit ihm verbunden war. Die Halle war mindestens zweihundert Meter lang und fünfzig Meter breit. Warum lief der Mann in eine andere Richtung? Instinktiv spürte Demir das Verlangen Steller zu folgen. Katta erging es anscheinend ähnlich. Sie sprintete hinter dem Kripomann und dem Mädchen her. Demir folgte ihr. Während er rannte, sah er, wie Steller die Halle erreichte, sich mit der Schulter gegen eine Tür warf und vergeblich die Klinke drückte. Gar nicht gut. Es sah so aus, als begangen sie gerade einen großen Fehler. Bei einem flüchtigen Blick sah er, wie die anderen Polizisten an dem Hauptgebäude ankamen und eine Scheibe einschlugen. Noch konnte er sich umorientieren. »Katta!«, schrie er.

Sie reagierte nicht. Demir lief ihr weiter nach, drosselte ein wenig das Tempo. Steller erreichte die nächste Tür. Er drückte die Klinke und stemmte den Körper gegen das Türblatt. Es rührte sich nichts.

»Katta. Wir müssen zu den anderen.« Demir joggte. Der Drang, die Richtung zu wechseln, wurde größer. Dann war Steller plötzlich verschwunden. Gott sei Dank. Demir sah Steller, der sich aus dem Türrahmen nach draußen beugte und ihnen zuwinkte. Er beschleunigte und überholte Katta. Beim Vorbeirennen griff er ihre Hand und zog sie hinter sich her. Eine unsinnige Handlung, die die beiden nur langsamer machte. Gemeinsam rannten sie durch die Tür. Steller schmiss sie zu. »Hilf mir! Wir müssen sie verriegeln«, schrie er gegen den Lärm an. In der Halle wurde Geflügel gezüchtet. Abertausende Puten gackerten und wackelten durcheinander. Die Masse der Tiere bedeckte den Boden vollständig. Das durch das verglaste Dach einfallende Licht tauchte die Halle in leblose Dämmerung. Demir sah sich um. Unweit der Tür waren Haken an der Wand angebracht, an denen Werkzeuge hingen. Er griff sich eine Schaufel und verkeilte sie so, dass die Klinke blockiert war. »Was jetzt?«, fragte Katta. Am anderen Ende der Halle wurde es besonders laut. Es klang, als ob die Tiere in die Höhe stoben.

»Sind die in die Halle gekommen?« Demir bemühte sich, etwas zu erkennen.

»Ich will es nicht herausfinden.« Steller packte Anna und rannte auf einen Flachbau zu, der sich in der Halle befand. Demir und Katta folgten den beiden.

Die Tür stand offen. Sie fanden sich in einer Art Lagerraum wieder. Von dem Raum gingen einige Türen ab, die in Büros führten. Demir meinte, dass die Tiere draußen lauter wurden. »Da ist etwas«, zischte Katta.

Steller legte den Zeigefinger auf die Lippen. Sie schlichen in ein Büro und schlossen die Tür möglichst leise. Demir sah kaum noch die Hand vor Augen. Es blieb keine Zeit mehr, um die Tür zu blockieren. Zusammen suchten sie Schutz hinter einem Schreibtisch. Steller nahm die MP von der Schulter und richtete die Mündung auf den Eingang. Demir zog seine Pistole aus dem Gürtel. Er konzentrierte sich auf die Geräusche. Der ungleichmäßige Lärmpegel des nervösen Geflügels ließ keine weiteren Rückschlüsse zu.

Demir resignierte. Ihre Situation hatte sich seit dem Verlassen der Klinik deutlich verschlechtert. Jetzt saßen sie auf einer Geflügelfarm fest, dagegen war das Ambiente der Intensivstation regelrecht gemütlich gewesen. Dort hatten sie wenigstens etwas Verpflegung besessen und er hätte ein Bett zum Schlafen gehabt. Das Wichtigste aber war, dass die Türen fest verschlossen gewesen waren. Was hatten sie mit ihrem Ausflug gewonnen? Nichts. Die Minuten dehnten sich.

Was jetzt? Wie lange sollten sie warten? Demir öffnete den Mund und wollte über die Lage diskutieren, einen Vorschlag machen, als sich die Türklinke bewegte. Er hielt den Atem an. Katta legte Anna eine Hand auf den Mund. Die schüttelte sie ab. Demir hatte keinen Zweifel, dass das Kind die Ruhe bewahren würde. Er sah, wie Steller die Schulterstütze seiner Waffe fester gegen den Körper drückte. Das würde ein kurzer Kampf werden. Langsam wurde die Tür einen Spalt aufgedrückt. Demir streckte den Arm mit der Pistole aus.

»Seid ihr hier?«

Steller senkte die MP. »Wolf?«

»Scheiße. Ja. Ich mache mir gleich in die Hose. Hier ist es dunkel wie in einem Pumaarsch. Sind die anderen auch bei dir?«

»Ja. Katta, Demir und Anna.«

»Ich will euch zu den anderen bringen.«

Die Gruppe verließ ihr Versteck hinter dem Schreibtisch. »Wir dachten, dass Infizierte in die Halle eingedrungen seien.« Steller wirkte vorsichtig.

»Ich glaube nicht«, sagte Wolf. »Ich hoffe es zumindest. Ist alles ein wenig unübersichtlich.«

»Wo sind die anderen?«, fragte Katta.

»Im Hauptgebäude von dieser dreckigen Farm.«

»Denkst du, dass es dort sicher ist?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe gesehen, dass ihr zur Halle gerannt seid. Ich dachte mir, dass es kaum schadet, wenn ich auf euch aufpasse.«

»Wie kommen wir zu den anderen?«, fragte Steller.

»Draußen habe ich eine Treppe gesehen, die führt vielleicht zu dem Übergang. Ansonsten weiß ich es auch nicht. Raus können wir nicht mehr.«

»Warum rufst du deine Leute nicht über Funk und fragst, wie die Lage bei ihnen ist?«, fragte Demir.

»Ich habe beim Abseilen mein Funkgerät verloren.«

Schlechtes Timing für Verlustmeldungen. »Bist du vorhin abgeschmiert?«, fragte Steller.

»Ja.«

Sie verließen das Büro. »Geh vor«, sagte Steller zu Wolf. Demir meinte einen argwöhnischen Unterton in seiner Stimme zu hören.

»Warum?«

»Weil du der Profi bist.«

Wolf gab einen grunzenden Laut von sich, übernahm aber die Spitze. Sie folgten ihm die Treppe hinauf. Oben angekommen standen sie vor einer Tür mit eingelassener Glasscheibe in Kopfhöhe. Nacheinander sahen sie hindurch. Demir erkannte den Übergang zum Hauptgebäude. Er war fünf Meter breit und ungefähr dreißig Meter lang. An beiden Seiten gab es eine Reihe von Fenstern. Der Übergang war ein roher Tunnel aus grauem Beton. So wie es aussah, war der Gang leer. Er hatte keine Vorstellung, was sie auf der anderen Seite erwartete.

»Riskieren wir das?«, fragte er.

»Was sollen wir sonst tun?«, stellte Wolf die Gegenfrage.

Demir sah Steller an. Der zuckte mit den Schultern. Ihm fiel auf, dass der Polizist Annas Hand umfasst hielt und ihr dabei ohne Unterbrechung mit dem Daumen über den Handrücken streichelte.

Wolf drückte die Tür auf und betrat den Gang. Als sie das erste Fenster erreichten, gingen sie in die Knie. Sie kamen nicht weit. Keiner konnte es sich verkneifen, einen Blick nach draußen zu riskieren.

»Jesus«, presste Wolf hervor.

Auf dem Gelände der Farm tummelten sich Hunderte Menschen.

»Wo kommen die alle her?«, fragte Steller.

»Keine Ahnung«, flüsterte der SEK-Mann. »Aber ich glaube nicht, dass wir die so schnell loswerden.«

»Du hast doch vorne gesessen. Was ist passiert?« Steller sah Wolf an.

»Das ist nicht der richtige Ort für solche Fragen.«

»Hier ist nirgendwo der richtige Ort. Also?«

»Wir sind ganz gut aus der Stadt rausgekommen. Kurz vor dem Stadion haben wir uns Richtung Neu-Isenburg gehalten. Zunächst war die Straße frei. Dann wurde es hell. Fast taghell. Die Erde hat gebebt. Wir konnten sehen, wie etwas gigantisch Großes gelandet ist.«

»Gelandet?«

»Ja. Definitiv. Es näherte sich ganz langsam dem Boden.«

»Wie groß?«

»Weiß ich nicht. Dafür war es zu weit weg. Das Ding sah aus wie ein lang gezogener Wassertropfen. Unten dick. Nach oben wurde es immer dünner. Ich schätze, dass es wenigstens zweihundert Meter hoch war.«

»Und dann?«

»Dann war die Straße urplötzlich voller Menschen. Es war, als würden wir in einen Demonstrationszug rasen. Die kamen von überall. Wir mussten von der Straße runter und sind hier gelandet. Mehr kann ich dir auch nicht sagen.«

Katta schrie auf. »Was ist das?«

Demir suchte das Gelände ab. »Was meinst du? Ich...« Dann sah er es. Zunächst hielt er es für einen Hund. Aber das konnte es nicht sein. Von der Größe her ähnelte es eher einem Tiger. Außerdem hatten Hunde ein Fell und keine sechs Beine. Bevor er richtig begriff, was er da gesehen hatte, verschwand das Wesen wieder aus ihrem Sichtbereich.

»Was zur Hölle ist das?« Steller drückte Anna an sich heran.

»Ich weiß, was das ist«, sagte das Kind. Alle blickten sie an. »Das ist ein Dämon.«

So richtig widersprechen mochte ihr keiner.