28. Mutterliebe

 

Aila Torbeck

 

Torbeck saß an ihrem Schreibtisch im Kommandantenraum. Vor wenigen Minuten hatte sie über das Kommunikationssystem eine Ansprache an das Personal gehalten. Sie hatte erklärt, in welcher Situation man sich befand und ihre Rede mit einigen Motivationsfloskeln beendet. War das die richtige Entscheidung gewesen? Torbeck dachte an die Worte der Psychologin und konnte nur hoffen, dass die Bunkerbesatzung den Schock verkraftete. Auch wenn die meisten bereits eine ungefähre Vorstellung von der Situation hatten, so machte eine amtliche Bestätigung aus ängstlichen Vermutungen fürchterliche Gewissheit. Sie hatte mit sich gerungen und lange überlegt, ob und in welcher Form sie sich an das Personal wenden sollte. Die Wahrheit barg immer Gefahren. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass die Menschen das Recht besaßen, aufgeklärt zu werden. Irgendwann wäre dieser Moment ohnehin gekommen. Allerdings hielt sie einen Teil der Wahrheit zurück. Die Tatsache, dass viele von ihnen den Cluster und somit den Virus im eigenen Körper trugen, behielt sie für sich.

Der Computer der Anlage wählte weiterhin in regelmäßigen Abständen alle Handys von vermisstem Personal an. Auch das von Katta. Inzwischen nur noch in einem Dreistundenrhythmus. Eigentlich war das überflüssig. Jetzt, wo die Anlage versiegelt war, durfte sie ohnehin niemanden mehr hereinlassen. Ganz unabhängig von einer möglichen Außenmission. Torbeck nahm ihr Satellitentelefon in die Hand und biss sich auf die Unterlippe. Obwohl es Unfug war anzurufen, tippte sie Kattas Nummer ein. Sie schloss die Augen und lauschte dem Freizeichen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Besprechung. Sie hatte einiges an Informationen zu verdauen. Genau genommen konnte ...

»Mama!?«

Torbeck hüpfte aus dem Bürostuhl. »Katta!«

»Ja. Geht es dir gut, Mama? Mir geht es gut!«

»Wie geht es dir?«

»Gut, Mama. Alles gut.«

»Wo bist du, was ist passiert? Geht es dir gut?«

»Mama, Mama. Beruhige dich. Ich bin in Sicherheit. Ich gebe dir jetzt einen Mann, der mit dir reden möchte.«

»Was? Was für ein Mann?«

Pause.

»Mein Name ist Fieber. Ich bin Kommandoführer beim SEK Kassel. Mit wem spreche ich?«

SEK? Das war doch Polizei. Sie versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu behalten. Jetzt nur nicht hysterisch wirken. »Mein Name ist Generalmajor Aila Torbeck. Die junge Frau ist meine Tochter.«

»Generalmajor?«

»Ich bin Kommandantin einer Bunkeranlage im Schwarzwald.«

»Was für eine Anlage?«

»Sie haben davon in den Nachrichten gehört.«

»Die Anlage? Diese Bioforschungsanlage?«

»Genau die.«

Pause.

»Können Sie uns helfen?«, fragte Fieber.

»Sind Sie alleine?« Bitte lass ihn nicht alleine sein. Ob er Katta etwas antut?

»Sie brauchen sich keine Sorgen machen.« Als hätte er ihre Gedanken erraten. »Um Ihre Frage zu beantworten. Nein. Wir sind zu siebt. Außerdem noch ein Zivilpolizist und drei weitere Zivilisten, ihre Tochter eingeschlossen.«

Das war gut. Eine Gruppe war moralisch stabiler als eine Einzelperson. Das bot Schutz. Oder? Er hatte gesagt, sie seien zu siebt. Seine Leute? Vermutlich. Dann bot die Gruppe vielleicht doch keinen Schutz. Kadergehorsam. Korpsgeist. Sie war beim Militär, sie kannte das. Die Freude, Kattas Stimme gehört zu haben, wich einem beklemmenden Gefühl. »Sie werden meiner Tochter nichts antun.« Das war dumm. Wenn der Mann das wollte, würden ihn ihre Worte nicht abhalten.

»Warum sollte ich?«

»Bei Katastrophen. Im Krieg. Die Menschen vergessen sich.«

»Sie können unbesorgt sein. Aber ich kann Ihnen auch nicht versprechen, dass ich sie auf Dauer schützen kann. Unsere Lage ist schwierig.«

»Verstehe.«

»Ich schlage Ihnen ein Abkommen vor«, hörte Torbeck sich sprechen. Am anderen Ende der Leitung blieb es still. »Der Bunker, in dem ich mich befinde, ist derzeit einer der sichersten Orte auf der Welt. Ich werde Sie und Ihre Gruppe hineinlassen. Bringen Sie mir meine Tochter. Lebend.« Pause. »Bringen Sie mir mein Kind. Um den Rest kümmere ich mich.«

Die Antwort kam ohne Zögern. »Einverstanden.«

Torbeck atmete auf. »Dann haben wir einen Deal?«

»Ja. Jetzt erklären Sie mir, was hier eigentlich los ist.«

»Wir wissen es nicht. Eine Pandemie. Der Virus ähnelt der Tollwut.«

»Wie kann sich eine Krankheit dermaßen schnell verbreiten?«

»Das wüssten wir auch gerne.«

»Sie sollten mir keine Informationen vorhalten.« Die Drohung versteckte sich im gleichmäßigen Klang seiner Stimme.

»Es gibt Arbeitshypothesen. Die helfen Ihnen nicht weiter. Alles, was relevant ist, werde ich Ihnen sagen. Vergessen Sie nicht, dass meine Tochter bei Ihnen ist. Ich habe ein großes Interesse, dass Sie es gemeinsam bis hierher schaffen.«

»Da haben Sie recht.« Die Schärfe in den Untertönen war verschwunden. Möglicherweise hatte sie sich das auch nur eingebildet.

»Es ist keine gewöhnliche Krankheit. Mehr kann ich Ihnen derzeit nicht sagen. Die Übertragungswege sind nicht bekannt. Wir vermuten, dass eine Ansteckung hauptsächlich durch einen Biss erfolgt. Analog der Tollwut. Eine Übertragung durch Tröpfcheninfektion ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ein Kontakt mit Infizierten ist unbedingt zu vermeiden.«

»Das haben wir bereits bemerkt.«

»Tut mir leid.«

»Wie sieht es außerhalb der Stadt aus?«

»Die Katastrophe ist global.«

»Das habe ich befürchtet. Ist es wirklich so schlimm?«

»Es könnte nicht schlimmer sein.«

»Wie kommen wir zum Bunker?«

»Die Anlage befindet sich vierzig Kilometer südöstlich von Karlsruhe. In der Nähe eines Berges, der Teufelsmühle heißt. Meine Tochter kennt die genaue Position. Sie heißt übrigens Katta.«

»Die Frage lautet, wie kommen wir dahin? Wenn wir es aus der Stadt schaffen, dann habe ich Hoffnung. Aber ich weiß nicht, inwieweit die Straßen befahrbar sind. Zu Fuß werden wir scheitern. Da bin ich mir sicher.«

»Wie ist Ihre Position? Ist die zu halten?«

»Fürs Erste. Aber dauerhaft einrichten können wir uns nicht. Wir sind in einem Gebäude des Behördenzentrums. Das ist in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof.«

»Bleiben Sie dort. Ich lasse mir etwas einfallen.«

»Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Ach ja. Da wäre noch etwas. Diese Irren mögen keine Helligkeit. Sie scheinen das Tageslicht zu meiden. Sagt Ihnen das etwas?«

»Nein. Aber ich werde diese Information an unsere Forschungsabteilung weitergeben.« Pause. »Ich möchte mit meiner Tochter reden.« Für eine Sekunde hatte sie Angst, dass Fieber das ablehnen würde. Stattdessen sagte er: »Natürlich. Einen Moment.«

Wenig später meldete sich Katta. »Hör mir zu«, sagte Torbeck mit eindringlicher Stimme.

»Ja.«

»Ich bin im Bunker. Die Männer werden dich zu mir bringen. Wenn sie das tun, lasse ich euch alle herein.«

»Das darfst du nicht.«

»Ich lasse euch herein.«

»Ja.«

»Wie sieht der Akku aus?«

»Schlecht.«

»Habt ihr noch Strom?«

»Weiß ich nicht.«

»Versuche, das Handy aufzuladen, wenn es geht. Schalte es aus. Ich rufe um 1700 wieder an. Hast du das verstanden?«

»Ich schalte das Handy aus und um 17:00 Uhr wieder an.«

»Gut, Schatz. Ich mache jetzt Schluss.«

»Mama?«

»Ja.«

»Ich habe Angst.«

»Vertrau mir, ich lasse mir was einfallen.«

»Ist gut.«

Torbeck legte auf. Es kam ihr vor, als würde sie das Seil loslassen, an dem ihre Tochter über einem Abgrund baumelte. Und jetzt? Sie musste die Nummer ihrer Tochter aus der Anrufroutine nehmen. Das automatische Anwählen wäre jetzt kontraproduktiv. Sie suchte die entsprechende Datei im Computer und löschte die Nummer von Katta. Und wie ging es weiter? Sollte sie bekannt machen, dass sie Kontakt mit ihrer Tochter aufgenommen hatte? Ihr Bauchgefühl sprach dagegen.

Sie hatte gesagt, dass ihr etwas einfallen würde. So weit die Theorie. Was sollte ihr einfallen? Frankfurt war weit und sie saß in diesem Bunker fest. Selbst, wenn sie ihn verließ. Was dann? Alleine nach Frankfurt fahren und Katta abholen? Das war keine Option. Sollte sie einen Zug Fallschirmjäger schicken? Mit welcher Begründung? Dass sie ihre Tochter retten wollte? Viele Angehörige waren noch da draußen. Ein solches Kommandounternehmen in eigener Sache würde sicherlich keine Akzeptanz erfahren. Frankfurt war ungefähr hundertsiebzig Kilometer von hier entfernt. Eigentlich ein Katzensprung. Aber unter den Voraussetzungen fast eine Weltreise. Sie musste der Gruppe von hier aus helfen. Aber wie? In ihrem Inneren waberten lose Gedankenfäden umher. Da war etwas, aber sie konnte die Puzzleteile nicht zusammensetzen. Es summte an der Tür. Auf dem Monitor des ComSys erkannte sie Wiegners Gesicht. Sie berührte eine Schaltfläche und die Tür glitt auf. Der Oberst trat ein. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, sein Gesicht war bleich.

»Karl. Was ist denn los mit dir?«

»Mir geht es gut.«

»Nimm mich nicht auf den Arm. Gestern Nacht sahst du bereits krank aus. Heute keinen Deut besser. Was stimmt nicht?«

Wiegner hob abwehrend die Hand. »Es ist alles in Ordnung.«

Torbeck hatte keine Ressourcen frei, um mit ihrem Stellvertreter zu streiten. Ihre Gedanken kreisten um ihr Kind. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich wollte dir Bericht erstatten. Wir werden um 1300 ausrücken. Drei Boxerpanzer. Ich nehme eine Gruppe Fallschirmjäger mit. Außerdem einige wissenschaftliche Mitarbeiter.«

»Du willst die Außenmission begleiten?«

Wiegner fuhr sich mit den Händen über seine kurzgeschorenen Haare. »Ja.« Torbeck öffnete den Mund. Er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich weiß, dass das nicht erlaubt ist. Aber ich bin der Einzige mit operativer Einsatzerfahrung.«

Das war nicht falsch. Dass ihr Stellvertreter sich einer solchen Gefahr aussetzen wollte, verstieß allerdings gegen jeden Führungsgrundsatz. Das wusste ihr Stellvertreter genauso gut wie sie. Trotzdem wollte er die Mission begleiten. Da steckte mehr dahinter.

»Du wartest darauf, dass sie sich meldet.« Mit dem Satz sprengte Wiegner ihren Gedankengang.

»Was?«

»Du hoffst, dass Katta sich meldet.« Er deutete mit einer kurzen Geste in Richtung ihrer Hände.

Torbeck bemerkte, dass sie mit dem Satellitentelefon spielte, es unbewusst in den den Händen drehte. »Ja.« Sie legte das Telefon zur Seite. Karl durfte nicht gehen. Was, wenn ihm etwas zustieß? Dann wäre sie auf sich alleine gestellt. Nein, sie brauchte ihn dringend. Es beruhigte sie bereits, ihn in ihrer Nähe zu wissen. Zeitgleich mit diesen Gedanken sprang sie eine Idee an. Plötzlich hatte sie eine konkrete Vorstellung, wie sie Katta helfen konnte. Dafür war es besser, wenn Karl nicht neben ihr stand. »Warum hast du gestern nichts gesagt?«, fragte Torbeck.

»Was meinst du?«

»Als ich den Hubschrauber abschießen ließ.«

»Ich wollte deine Autorität nicht untergraben. Du bist die Kommandantin. Du hast die Befehlsgewalt.«

»Was hättest du getan, wenn ich den Befehl nicht gegeben hätte?«

Wiegner atmete hörbar aus. »Dann hätte ich den Befehl gegeben.«

»Du hättest mich abgesetzt?«

»Tut mir leid.«

»Warum?«

»Weil das keine Angelegenheit ist, wo man einen Klassensprecher wählt und danach eine groß angelegte Debatte über das weitere Vorgehen abhalten kann. Das Ding mit der Demokratie ist erst mal auf Eis gelegt. Wenn man überleben will, muss ein Preis gezahlt werden.« Pause. »Ich bin froh, dass du mich nicht gezwungen hast, dich zu überstimmen. Deine Entscheidung war richtig.«

»Es ist mir nicht leicht gefallen.«

»Das darf es auch nicht. Es würde heißen, dass du dir deiner Verantwortung nicht bewusst bist.«

»Du weißt, dass ich dich nicht gehen lassen kann. Du kennst die Befehle besser als ich.«

Wiegner presste die Lippen zusammen. Ihm war sicherlich bewusst, dass er sich gerade mit seinem Statement zur Befehlstreue selber ins Aus argumentiert hatte. »Ich weiß. Aber ich glaube, dass der Mission entscheidende Bedeutung zukommt und ich der Einzige bin, der so ein Kommando führen kann. Ich muss das machen.«

Sie konnte sich nicht erinnern, dass Karl jemals um etwas gebeten hätte. Sonderbar. Sie hatte Angst um ihn. Noch mehr Angst hatte sie aber um ihre Tochter. Sie musste Wiegner Katta zuliebe gehen lassen. »Dir ist klar, dass du nach der Mission in Quarantäne musst?«

»Natürlich.« Er lächelte gequält.

»Dann mach das. Aber pass auf dich auf.«

»Das verspreche ich.« Er stand auf und zögerte. »Gib die Hoffnung nicht auf.«

Torbeck zog die Stirn in Falten. Als Wiegner sich umdrehte und den Raum verließ, ertappte sie sich dabei, wie sie wieder mit dem Handy spielte.

 

Einige Minuten, nachdem der Oberst gegangen war, rief sie Oberstabsfeldwebel Theißen zu sich. Der Plan, um ihrer Tochter zu helfen, hatte sich immer weiter ausgeformt. Der stämmige Soldat ließ sich auf einen der Stühle fallen. Torbeck kam sofort zur Sache. »Gestern haben Sie kurz die Drohne erwähnt.«

»Ja.«

»Ich möchte gerne mehr über sie erfahren.«

»Was wollen Sie wissen?«

»Alles. Besonders interessiert bin ich an einer möglichen Bewaffnung.«

»Die Drohne ist unbewaffnet.«

Torbeck stellte zwei Gläser auf den Tisch, zog eine Schublade ihres Schreibtisches auf und förderte eine halb volle Flasche Whisky ans Tageslicht. Die hatte sie völlig vergessen, als sie Karl den schäbigen Ouzo angedreht hatte. Das sollte er besser niemals erfahren. Sie füllte beide Gläser bis zur Hälfte. »Ach, kommen Sie. Fenris ist vollgestopft mit milliardenschweren Wundern. Da wird doch in irgendeiner Abstellkammer etwas zu finden sein. Für einen richtigen Techniker gibt es immer einen Weg.«

Der Stab lächelte. »Sie meinen, ich kann auf Vorschriften scheißen?« Er zuckte zusammen. »Tut mir leid, Frau Generalmajor. Ich ...«

Torbeck winkte ab. »Genau. Scheißen Sie auf die Vorschriften. Machen Sie, aber machen Sie es richtig.«

Theißen lächelte, nahm sein Glas und schüttete sich den Whisky in den Mund. »Wenn Sie mich so fragen, hätte ich da was im Angebot.«