22. Platzregen

 

Demir Kara

 

Die Gondel quälte sich für Demirs Geschmack viel zu langsam die Fassade hinauf. Was passierte, wenn der Strom ausfiel? Er wusste, dass man den Außenaufzug mit einer Kurbel bewegen konnte. Aber das würde ewig dauern. Vielleicht war der Strom bereits ausgefallen. Hatte ein Bankhochhaus eine Notstromversorgung?

»Was sollen wir jetzt tun?«

Demir hatte keine Ahnung. »Ich weiß es nicht.«

Katta hatte sich mittlerweile mit der Höhe arrangiert, wirkte selbstsicherer. Demir fielen ihre Augen auf. Sie hatten einen weichen, hellbraunen Farbton. Katta hatte zweifelsohne schöne Augen. Aber interessanter als das, war ihr klarer Blick, der trotz der sichtbaren Angst gefasst wirkte. »Das wird heute genauso heiß wie gestern. Da oben gibt es kaum Schatten. Auch mit Wasser können wir das nicht lange aushalten. So etwas sind die Leute nicht gewohnt«, sagte sie.

Nein, natürlich sind sie das nicht gewohnt. Die sind es gewohnt mit der Tüte Chips auf der Couch zu liegen. Das waren alles Weicheier. Bei der Einschätzung sparte er sich selber nicht aus. Er war selber ein ziemlich nasser Sack. »Wir werden das Dach verlassen«, sagte Demir.

»Mit der Gondel? Dann müssen wir zweimal fahren. Wie soll das gehen? Sollen die Ersten, die unten ankommen, auf der Straße warten?«

Woher sollte er das wissen? »Habe ich Abitur oder du?« Katta zeigte sich eingeschnappt und sagte nichts mehr. Ein paar Meter und sie hätten sie das Dach erreicht. Demir sah über die Stadt hinaus. Die Rauchsäulen, die in den Himmel stiegen, waren ihm bisher nicht aufgefallen. Das sah nicht gut aus.

Katta schrie auf. Aus dem Augenwinkel sah Demir, ein großes rot verpacktes Geschenk an der Gondel vorbeifallen. Er beugte sich über das Geländer, versuchte dem Paket hinterherzuschauen.

Das durfte nicht wahr sein. Da segelte die Frau im roten Kleid zu Boden.

Der Aufzug erreichte die Dachkante. Die Gruppe der Überlebenden hatte sich aufgeteilt. Die meisten standen geschlossen in der Nähe des Dachrandes, wenige Meter von der Gondel entfernt. Drei der Banker klebten an der Tür zum Treppenhaus. Die haben sie aufgemacht. Diese Vollidioten haben die verdammte Tür geöffnet.

Zu dritt stemmten sich die Männer im 45-Grad-Winkel gegen das Türblatt. Für den Augenblick herrschte ein Gleichgewicht der Kräfte. Einen Spaltbreit stand die Tür offen. Nicht mehr als zehn Zentimeter. Arme ragten aus dem Treppenhaus heraus und verhinderten, dass sie ins Schloss fiel. Es war eine Frage der Zeit, bis der Druck von innen die Tür aufsprengen würde.

Demir sprang auf das Dach und zog die Pistole aus dem Hosenbund. Wenn er das ganze Magazin in den Spalt schoss, gaben die Irren vielleicht die Tür frei. Katta hielt ihn am Arm fest. »Bleib hier. Wir müssen runter.« Sie hatte recht. Es war zu spät. Demir drehte sich um und stieg zurück in die Gondel.

Einer der Männer, die sich gegen das Türblatt stemmten, verlor die Nerven und rannte davon. Eine panische und planlose Aktion. Er lief nicht zur Fensterputzergondel. Stattdessen jagte er in die entgegengesetzte Richtung, als gäbe es dort einen Ort, der Sicherheit bot. Aber da war nur der Kieselsteinbelag des Daches, umsäumt von einem dreihundert Meter tiefen Abgrund.

Die Tür flog auf wie der überlastete Wall eines Staudammes. Der Rest der Gruppe drängte in die Gondel. Zusammen mit Katta waren sie nun zu neunt. Die vier vom Cateringservice, der alte Mann mit den weißen Haaren, die Bankerin und ihr fetter männlicher Gegenpart. Demir zog an dem Hebel und der Aufzug sank in Zeitlupe nach unten. Er konnte noch kurz den flüchtigen Banker sehen, wie er einem aufgescheuchten Huhn gleich im Kreis lief. Die anderen beiden waren bereits in einer Flut von Körpern verschwunden. Als Demir die Sicht auf das Dach verlor, hatten die Verrückten bereits die Hälfte des Weges zur Gondel überbrückt. Langsam glitten sie tiefer. Die Irren mussten einfach nur in die Gondel hüpfen. Alle sahen gebannt nach oben.

Einige Sekunden geschah nichts. Dann regnete es Körper. Ihre Verfolger stürzten sich wie Lemminge über den Dachrand, flogen, durch den Schwung zu weit getrieben, knapp an der Gondel vorbei. Die Menschen in der Gondel drängten sich möglichst nah an die Hausfassade, bemüht den Abstand zwischen sich und dem Platzregen aus Fleisch und Knochen groß zu halten.

Dann schlug es direkt in ihrer Mitte ein. Ein Mann knallte auf den Boden der Gondel. In letzter Sekunde hatte die Gruppe eine Lücke gebildet. Ihr Besucher kam auf die Beine. Ohne nachzudenken, packte Demir ihn an den Beinen und versuchte, den Kerl aus dem Aufzug zu schmeißen. Katta half ihm. Gemeinsam schafften sie es, den Mann über die Brüstung zu drücken. Sein Oberkörper schwebte im Nichts. Der Mann zappelte, krümmte sich wie ein Fisch am Haken. Er schnappte nach Katta. Demir ging in die Hocke, stemmte sich gegen die Oberschenkel des Mannes und drückte sie nach oben, bis er fiel. Demir sah dem trudelnden Körper nach.

Mittlerweile hatte die Gondel fünfzig Meter Abstand zum Dach gewonnen. Der Menschenregen hatte aufgehört. Demir stoppte ihr Gefährt.

»Warum halten wir an?«, fragte eine der Cateringdamen.

»Weil wir uns überlegen müssen, was wir tun, wenn wir unten ankommen«, sagte Demir.

»Wir sollten wieder hochfahren«, sagte der alte Mann, der seine Frau im Treppenhaus verloren hatte. »Da oben ist nichts mehr zu sehen.«

»Auf keinen Fall«, sagten Katta und Demir gleichzeitig. Der Alte schien sie nicht zu hören. Katta zog ihn leicht am Ärmel. Er drehte sich zu ihr um. »Die sind immer noch da«, sagte sie in einem möglichst beruhigenden Ton.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es genauso, wie ich gewusst habe, dass sie noch vor der Tür stehen.«

Der Mann schwieg.

»Was sollen wir jetzt tun?« Die Bankerin sah Demir an. Ihre Lippen bebten und Tränen liefen ihr die Wangen hinab.

»Ich weiß es nicht.«

»Wieso weißt du das nicht? Du hast uns hierher geführt.« Die Frau zeigte wütend auf Demir. »Du bist schuld, dass wir in dieser Lage sind.«

Demir reagierte nicht.

»Hier können wir nicht bleiben. Noch weniger als auf dem Dach«, sagte Katta.

»Vielleicht kö... «

Die Diskussion wurde durch ein abruptes Rucken beendet. Der Außenaufzug rutschte ohne Zutun der Reisenden einen Meter in die Tiefe.

Alle schrien auf. Die Gondel blieb stehen. Was war das? Sie waren zu schwer. Aber das musste das Ding doch aushalten. Zulässiges Gewicht hin oder her. Sie lebten in Deutschland, da gab es Sicherheitstoleranzen für Sicherheitstoleranzen. Demir sah nach oben. Bewegte sich da die Halterung? Das Dach war zu weit weg, um das erkennen zu können.

Erneut ein Rucken. Demir fühlte, wie sich seine Innereien anhoben, während er sich für eine Zehntelsekunde im freien Fall befand. Die Gondel kam erneut zum Stehen.

»Was ist das?« »Ich will hier raus.« »Warum hilft uns denn keiner?«

So schwer konnten sie einfach nicht sein. Das musste dieses Ding aushalten. Nein, nicht so. Nicht jammern und flehen. Wenn ein Schiff sank, ertranken die meisten, weil sie darauf warteten, dass ihnen irgendjemand den Hintern rettet. Sie vergaßen dabei, dass irgendjemand sich gerade sehr um seinen eigenen Hintern bemühen musste und keine Zeit hatte. Er griff nach dem Schraubenschlüssel und schlug die nächstliegende Scheibe ein. Der Außenaufzug vibrierte. Er zog Katta zu sich heran. »Los, rein da!«

»Ich will nicht.«

»Wir stürzen ab. Rein da!«

Demir stieß Katta durch den Fensterrahmen und sprang hinterher. Er verlor das Gleichgewicht, torkelte durch den Raum und knallte gegen einen Wandschrank. Als er sich wieder gefangen hatte, sah er sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Büro. Die Tür zum Flur war geschlossen. Er wandte sich dem Fenster zu, wollten den anderen sagen, dass sie hereinkommen sollten. Aber das war unnötig. Einer nach dem anderen schoben sie sich durch den Fensterrahmen und landeten unsanft auf dem Boden. Demir half ihnen beim Aufstehen, um Raum für die Nachfolgenden zu schaffen. Es dauerte keine Minute, da waren alle im Büro versammelt. Die Gondel wackelte und rutschte weiter an der Hausfassade nach unten. Gut, er hatte gehandelt. Hatte sich nicht mit der unsinnigen Frage nach dem Warum und dem Weshalb befasst, sondern das getan, was getan werden musste. Vielleicht hatte er mehr drauf als gedacht.

»Wir müssen aus diesem Hochhaus«, flüsterte Katta. Demir nickte. Wie standen ihre Chancen? Der ganze Mist hatte gestern Abend angefangen. Das war ein Samstag gewesen. Viele hatten da sicher nicht gearbeitet. Ein Großteil des Gebäudes musste menschenleer sein. Das hoffte er jedenfalls. Wo es keine Menschen gab, gab es keine Irren. So weit, so gut. Die Wahnsinnigen, die oben die Party versaut hatten, stammten von der Straße. Viele von ihnen lungerten jetzt auf dem Dach herum oder lagen zerschmettert unten auf der Straße. Wie viele Meter lagen zwischen ihnen und dem Dach? Fünfzig Meter? Achtzig Meter? Wenn sie Glück hatten, befanden sich die Verrückten alle über ihnen. Sie mussten nur leise sein. Demir sah sich die Leute an. Ein erbärmlicher Haufen. Waren die in der Lage geräuschlos Dutzende Stockwerke hinunter zu laufen? Eher nicht. Was, wenn sie unterwegs doch welche trafen? Er hatte noch zehn Patronen im Magazin. Gegen ein oder zwei konnte er sich durchsetzen. Danach würde es heißen: Rennen, was das Zeug hält. Aber wohin eigentlich? Das war keine Situation, bei der man sich den nächsten Schritt in Ruhe nach Beendigung des vorherigen bei einer Tasse Kaffee überlegen konnte. Ganz im Gegenteil. Der Plan lautete, die Stadt zu verlassen. Aber wie sollten sie das anstellen? Laufen war keine Option.

Demir sah sich um. Die Leute saßen apathisch auf dem Boden. Wie lange hatten sie nichts mehr getrunken? Zwölf Stunden? Das war weit davon entfernt, lebensbedrohlich zu sein, aber es forderte bereits körperlichen Tribut. Die Wassereimer standen in der Gondel und die war fort. Er und Katta hätten trinken können. Aber sie hatten einfach nicht daran gedacht. Die Zeit lief.

Er blickte zu Katta, deren Stirn in Falten lag. »Was ist da oben passiert?«, fragte sie. Demir fand die Frage überflüssig. Es war klar, was geschehen war. Auf der anderen Seite hatte er gerade kein besseres Programm auf Lager. Also hielt er sich zurück. Der dicke Banker antwortete. »Wir haben beschlossen, die Tür zu öffnen.«

»Ich habe das nicht beschlossen«, fauchte der Mann vom Catering.

Der Dicke ließ sich nicht beirren. »Wir haben dem Mädchen die Chipkarte abgenommen. Wir waren uns sicher, dass die Verrückten weg waren.«

Demir hätte ihm am liebsten in die Schnauze geschlagen. »Was ist mit dem Mädchen passiert?«

»Ich weiß nicht. Als wir die Tür öffneten, ging es gleich los. Wir haben versucht, sie wieder zu schließen. Aber es ging nicht.«

»Das habe ich gesehen«, sagte Demir.

Der ältere Mann flüsterte: »Sie ist einfach vom Dach gesprungen. Warum hat sie das getan?«

»Panik«, sagte Demir. Vielleicht war sie am schlausten von ihnen allen gewesen. Sie hatte jetzt wenigstens keine Probleme mehr. Warum hing man eigentlich so am Leben? Gerade in einer solchen Situation. War es nicht viel klüger, einfach aus dem Fenster zu springen? Er schüttelte den Gedanken ab. »Wir müssen das Gebäude verlassen. Sind wir uns da einig?« Niemand reagierte, was Demir als Zustimmung interpretierte. Er erklärte seine Einschätzung der Situation. Als er fertig war, sagte er: »Daher denke ich, dass wir Chancen haben, unbehelligt nach unten zu kommen.«

»Und dann?«, fragte der alte Mann.

»Wir müssen die Stadt verlassen«, sagte Katta.

Der Mann vom Catering mischte sich ein. »In der Tiefgarage steht unser Bus. Das heißt, es sind drei Busse. Aber ich habe nur die Schlüssel von einem.« Der Mann fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über das Gesicht. Zum Beweis holte er mit zitternder Hand einen Autoschlüssel aus seiner Hosentasche.

»Wir nehmen die Treppen bis in die Tiefgarage, schnappen uns die Karre und verlassen die Stadt.« Demir wollte nicht daran denken, wie viele Unbekannte es bei diesem Plan gab.

»Warum fahren wir nicht mit dem Fahrstuhl?«, fragte der alte Mann.

»Momentan ist der Strom da. Wer weiß, wie lange noch. Wenn der Aufzug stecken bleibt, wird niemand kommen, um uns zu befreien. Wir werden sterben.« Alle schauten unglücklich. Aber keiner wagte zu widersprechen.

»Wir müssen los«, sagte Katta.

Demir hatte Angst. Daher schien es verlockend, lieber bis in den späten Abend das Für und Wider ihrer Möglichkeiten zu debattieren. Er ging zur Bürotür und legte die Hand auf die Klinke. Die Gruppenmitglieder quälten sich auf die Füße. Nur der alte Mann mit den weißen Haaren und die Bankerin blieben sitzen. »Was ist?«, wollte Katta wissen.

»Ich bleibe hier«, sagte der Mann. »Ich habe keine Kraft mehr. Wenn Sie unterwegs auf Hilfe stoßen, dann sagen Sie Bescheid, dass hier noch jemand ist.«

Was für Hilfe? Da ist niemand. Aber vermutlich wusste der Alte das selber ganz genau.

»Ich bleibe auch. Ich kann da nicht raus. Lieber verdurste ich.«

»Sie müssen mitkommen.« Demir versuchte die Frau zu überzeugen. »Sie werden sterben. Niemand wird kommen, um sie zu retten.«

Die Frau blieb sitzen, zog die Beine eng an den Körper. »Dann ist es so. Ich kann da nicht rausgehen.«

Demir und Katta versuchten es weiter. Es nutzte nichts. Die beiden hatten ihre Entscheidung getroffen. Vermutlich war es besser so. Sie hätten die Gruppe nur in Gefahr gebracht. »Versuchen Sie, hinter uns die Tür zu blockieren. Falls sie hier eindringen.« Demir zögerte kurz. »Dann sollten Sie aus dem Fenster springen.« Pause. »Ist nur ein Rat.«

Die Frau fing an zu weinen, blieb aber sitzen. Demir wandte sich ab, öffnete die Tür, sah sich kurz um und verließ das Büro. Katta folgte ihm. Sie hatte den Riemen ihrer Handtasche fest um die Schulter gebunden, sah aus wie Indiana Jones. Demir hatte den Eindruck, dass sie seine Nähe suchte. Das war in Ordnung. Ihm ging es nicht anders. Er würde versuchen, auf sie aufzupassen. Falls das noch etwas zählte.

Auf dem Gang waren die Büros geschlossen. Hier war gestern niemand gewesen. Da war er sich sicher. Das Bild der Schließkarte sprang in seinen Kopf. Die lag jetzt oben auf dem Dach und half keinem mehr. Was, wenn sie auf ihrem Weg auf verschlossene Türen trafen? Aufbrechen? Einschlagen? Womit sollten sie das hinkriegen? Außerdem wäre das viel zu laut.

Nach einigen Schritten blieb Katta stehen, winkte Demir zu sich heran. Sie zeigte auf einen Plan, der an der Wand hing. Rettungswege. So wie es aussah, befand sich das große Treppenhaus direkt vor ihnen. Das nächste der kleinen Treppenhäuser, die nur einige Stockwerke miteinander verbanden, lag weiter den Gang hinab. Das war eine Alternative. Die Infizierten hatten sich im Haupttreppenhaus befunden. Mit etwas Glück konnten sie die kleinen Treppen nutzen, um nach unten zu gelangen.

Vorsichtig näherten sie sich dem Haupttreppenhaus. Demir spähte durch das Glasfenster in der Tür. Niemand zu sehen.

Sie ließen das Treppenhaus links liegen und schlichen weiter. Der Flur machte einen Bogen. Abrupt endete ihr Ausflug vor einer verschlossenen Glastür. Demir biss sich auf die Lippe. Er hätte diese Chipkarte niemals aus der Hand geben dürfen. Somit blieb nur der Weg über das große Treppenhaus. Sie kehrten um. Demir bedeutete den anderen, dass sie warten sollten. Vorsichtig betrat er das Treppenhaus. Er schloss die Augen und lauschte. Nicht das geringste Geräusch. Er winkte der Gruppe zu.

Einzeln folgten sie ihm und begannen behutsam die Treppen hinabzusteigen. Demir kam es fürchterlich laut vor. Wie viele Stockwerke waren es bis nach oben? Zwanzig? Wie weit trug der Schall? Die Truppe kam gut voran. Aber sie wurden immer schneller und lauter, bis Katta die Hände hob und mit Gesten zu verstehen gab, dass sie sich alle beruhigen sollten. Demir drosselte das Tempo. Fünfundzwanzig Stockwerke lagen hinter ihnen, als es im Treppenhaus anfing zu poltern. Dann hörte er Schreie. Waren das der alte Mann und die Frau, die sie im Büro gelassen hatten? Natürlich. Das war absehbar gewesen. Warum hatte er das nicht gleich verstanden? Vor seinem inneren Auge sah er, wie der alte Mann die Treppen nach oben schlich, um seine Frau zu suchen. Das war der Grund, warum er nicht mitwollte. Gleichzeitig lief die von ihm alleingelassene Bankerin gerade polternd die Treppen hinab, um Anschluss an die Gruppe zu finden. Die beiden legten eine ideale Fährte.

»Was ist da los?« Katta sah Demir an.

Die Schreie wurden lauter, schwollen zu einem Kreischen an.

»Scheiß drauf«, schrie Katta. »Rennt!« Sie stolperten die Treppenstufen hinunter. Der Lärm, den sie verursachten, spielte keine Rolle mehr. Kamen die jetzt alle heruntergerannt? Wie viele Stockwerke hatten sie Vorsprung? Fünfunddreißig? Wie viel war das umgerechnet in Minuten? Demir wurde schwindelig. Er sprang die Treppen hinab. Bei jedem Absatz versuchte die Fliehkraft ihn an die Wand zu klatschen. Er klammerte sich mit der linken Hand an das Geländer und flog um die Kurve wie der Sitz eines Kettenkarussells. Im Erdgeschoss spuckte ihn das Treppenhaus aus und er stolperte in das Atrium. Demir zog die Pistole und kreiselte um seine Körperachse. In seinem Kopf drehte sich alles. Er strauchelte, fing sich wieder. Die an ihm vorbeirauschenden Bilder entschleunigten sich und kamen zum Stehen.

Überall standen gewaltige Kübel mit breitblättrigen Pflanzen herum. Demir sah nach oben. Über ihm schien es keine Decke zu geben. Nur Leere und Galerien. Im Eingangsbereich waren die Fenster zerschlagen, der Boden mit Glasscherben gesprenkelt. Nicht weit von hier, musste die tote Empfangsdame liegen. Er drückte den Gedanken weg und sah zum Treppenhaus. Es war keiner hinter ihm. »Katta.« Er wollte auf sie aufpassen. Schon hatte er versagt.

Dann polterte die Gruppe heran. Katta lief an dritter Stelle. Gott sei Dank.

Bis auf Katta hetzten alle an ihm vorbei. Auch der Typ mit den Schlüsseln. »Hey. Wir müssen runter in die Tiefgarage«, schrie Demir. Der Mann rannte weiter in Richtung Ausgang. »Hey!« Demir riss die Pistole hoch, wollte dem Arsch in den Rücken schießen. Seinetwegen würde er nicht verrecken.

Katta zog seinen Arm nach unten. »Nein. Tu das nicht.«

»Was soll ich denn sonst machen?«

»Wir müssen weg.«

Sie rannten auf die Straße. Der Rest der Gruppe hatte Vorsprung und lief geschlossen in Richtung Taunusanlage. Demir zögerte.

»Wir müssen weiter«, schrie Katta.

»Wohin? Einfach nur rennen?«

Er sah sich in alle Richtungen um. Überall standen Autos. Natürlich. Die Menschen hatten fluchtartig ihre Fahrzeuge verlassen. Bei der einen oder anderen Kiste musste der Schlüssel stecken. »Wir nehmen uns einen Wagen.«

Katta nickte. »Ja, okay.«

In diesem Moment öffnete sich direkt vor ihnen die Hintertür eines Audis, der am Straßenrand stand. Das war das Kurierfahrzeug. Demir hob die Waffe. Vor ihm sprang Bilal auf die Straße. »Alter. Du lebst?« Demirs Waffe und Kinnlade senkten sich gleichzeitig. Bilal wirkte verändert. Eine aschfahle Erscheinung mit runden ängstlichen Augen im Kopf. Die letzte Nacht hatte ihn ausgewrungen wie einen Spülschwamm. »Komm.« Mehr hatte Bilal nicht zu sagen. Er riss die Fahrertür des Audis auf und sprang hinein. Aus dem Augenwinkel nahm Demir eine Bewegung in der Bank war. Katta schien die ebenfalls bemerkt zu haben. »Scheiße.« Sie hechtete auf die Rückbank. Demir rannte um den Wagen herum und landete auf dem Beifahrersitz. Bilal drehte den Zündschlüssel. Der Anlasser eierte vor sich hin, ohne dass der Motor startete. »Mach das Ding an!« Demir versuchte, an Bilal vorbei in Richtung der Bank zu blicken. Noch war alles ruhig.

»Junge. Was denkst du, was ich hier mache?« Er versuchte es erneut. Wieder nichts. Die Batterie war leer. In der Nacht hatte er die mit Autos verstopften Straßen gesehen. Überall hatten die Scheinwerfer gebrannt. Wer schaltete schon das Licht aus, wenn er in Panik aus der Kiste sprang?

»Wir müssen hier raus«, schrie Katta. Demir langte nach dem Türgriff. Was nützte die ganze bekloppte Elektronik, wenn die nicht einmal die Scheinwerfer absch...

Der Motor heulte auf. Der Audi fuhr mit quietschenden Reifen an. »Wohin? Wo sollen wir hin?«, schrie Bilal.