42. Schutzengel

 

Markus Steller

 

Steller konnte sein Glück nicht fassen. Er kniete vor dem Wandschrank. »Anna. Du kannst rauskommen. Ich will dir helfen.« Das Kind sah ihn an. Stellers Blick zuckte kurz zu der Frau, die den Schrank mit Anna teilte. Sie hatte sich bis jetzt keinen Millimeter bewegt, das Gesicht in den Handflächen versteckt. Er ahnte, was geschehen war. Die Kleine war es gewohnt mit einem Monster zu leben. Als der Horror begann, hatte sie instinktiv gehandelt. Steller war sich sicher, dass Anna die Pflegerin mit in den Schrank gezogen hatte. Vor seinem inneren Auge sah er die Szene. Die beiden hockten in dem Versteck. Anna hielt der Schwester die Hand vor den Mund, damit sie nicht schrie, während draußen der Terror herrschte. Mein Gott, wie lange saßen die beiden schon da drin? Sie mussten kurz vor dem Verdursten stehen. Schnell zog er seine halb volle Wasserflasche aus dem Rucksack, drehte den Verschluss ab. »Ich habe was zu trinken«, sagte er. Anna sprang aus dem Schrank, riss ihm die Flasche aus den Händen, setzte sie an den Mund und warf den Kopf in den Nacken. »Nicht so hastig.« Er nahm ihr die Flasche ab. Sie sah ihn an. »Wenn du zu schnell trinkst, wird dir schlecht.« Anna nickte und Steller gab ihr die Flasche zurück. »Ich habe Durst«, sagte die Frau, die Steller bereits vergessen hatte. Er reichte ihr die Hand. »Kommen Sie. Ich helfe Ihnen.«

»Sind die alle weg?«

»Auf der Station ist niemand mehr.«

»Oh mein Gott. Ich dachte, wir würden hier sterben. Ich habe mich nicht getraut, die Tür aufzumachen.«

»Das war die richtige Entscheidung.« Immer noch streckte er ihr die Hand entgegen.

»Sind die wirklich weg?«

»Hören Sie. Sie müssen da rauskommen.«

»Ich kann nicht.«

Steller kam ihr näher. »Kommen Sie. Ich nehme Sie mit. Ich bin nicht alleine, andere sind bei mir.« Die Frau schüttelte den Kopf. Er ließ seinen Arm sinken. »Falls Sie hierbleiben wollen, ist das Ihre Entscheidung. Aber ich werde jetzt mit Anna gehen, auch ohne Sie. Und ich werde nicht wieder zurückkommen.«

»Lassen Sie mich nicht alleine.«

Er streckte seinen Arm erneut aus. Zögernd nahm sie seine Hand. Im Schrank roch es nach Urin. »Wie heißen Sie?« Während Steller das fragte, beobachtete er Anna. Sie hatte die Flasche mittlerweile leer getrunken.

»Sofia.«

»Gut, Sofia. Wir müssen hier weg. Verstehen Sie das?« Sie nickte. »Wir brauchen zwei Dinge. Wasser und etwas zu essen. Gibt es auf der Station was zu trinken?«

»Neben dem Schwesternraum ist eine Küche.«

»Das zweite ist Kleidung. Anna muss aus dem Schlafanzug raus. Sie braucht Straßenkleidung.« Sofia quälte sich mit Stellers Hilfe auf die Beine. »Zuerst gehen wir in die Küche. Sie sind Krankenschwester?«

»Nein, ich putze.«

Steller überlegte. »In Ordnung. Wenn wir gleich auf meine Begleiter treffen und sie gefragt werden, dann sagen Sie, dass Sie Krankenschwester sind.«

»Warum?«

»Vertrauen Sie mir. Tun Sie es einfach.« Er wandte sich dem Kind zu. »Anna. Komm zu mir.« Anna stellte sich an seine Seite. Er legte den Arm um ihre Schulter und spürte ihr Zittern. Er ging in die Hocke. »Du brauchst vor mir keine Angst haben. Ich bin nicht böse.« Ob sie ihn erkannte? Er hoffte, dass das nicht der Fall war. Sie blieb stumm. Steller fiel die Stoffpuppe auf, die Anna im Arm trug. Es war ein Engel. »Wer ist das?«

»Mein Schutzengel.« Sie sah die Puppe an und warf sie achtlos beiseite.

»Warum tust du das?«

»Weil der Engel doof ist. Er hat mich nie beschützt.«

»Dann lass ihn liegen. Ab jetzt bin ich dein Schutzengel.«

»Wirklich? Bist du ein Engel?«

Steller zögerte kurz. »Ich bin dein Schutzengel.«

Anna begann zu weinen. »Wo bist du denn gewesen? Ich habe so auf dich gewartet.«

Steller drückte das Kind an sich, küsste sie auf die Stirn. »Nun bin ich da und bleibe bei dir.«

»Bleibst du wirklich bei mir?«

»Bis zu meinem Tod. Das schwöre ich dir.«

Sie lächelte zaghaft. »Engel sterben nicht.«

»Umso besser.«

»Haben Sie nicht gesagt, dass wir weg müssen?«, fragte die Putzfrau.

»Richtig.« Steller stand auf. Er musste sich konzentrieren. Zwar war er sich sicher, dass sie auf der Station alleine waren, aber das musste nicht so bleiben. »Gehen wir. Erschreckt euch nicht, hier gibt es Leichen.« Die Frau begann zu schluchzen. Steller nahm die Maschinenpistole in beide Hände und ging voraus. Sie besorgten sich Getränke und Nahrungsmittel aus der Küche und suchten nach Kleidung. Die Putzfrau folgte ihnen wie ferngesteuert. Tat einfach das, was Steller ihr sagte. Sie stand unter Schock. Anna bewegte sich vorsichtig und mit Bedacht. Sie hatte Angst, war aber nicht gelähmt. Nachdem sie etwas zum Anziehen gefunden hatten, band Steller dem Mädchen die Schuhe zu. Wie lange war er schon von den anderen getrennt? Zehn Minuten? Sein Zeitgefühl war verschwunden. Die würden ihn bereits suchen. Oder? Vielleicht waren die da oben längst fertig und hatten sich ohne ihn aus dem Staub gemacht. Bei dem Gedanken wurde er hektisch. »Los jetzt.« Sie liefen den Flur entlang. An der Tür zum Treppenhaus gab er den beiden ein Zeichen. Sie sollten warten. Hätten die nicht nach ihm gesucht? Vielleicht waren sie auf Infizierte gestoßen. Was, wenn die alle tot waren? Er hatte aber keine Schüsse gehört.

Steller öffnete die Tür und begutachtete das Treppenhaus. Es war leer. Er versicherte sich, dass Anna und die Putzfrau ihm folgten. Als er sich wieder herumdrehte, starrte er in Fiebers Gesicht. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht. Die Mündung seiner Waffe war auf Steller gerichtet, seine Wagenmuskulatur zuckte.

»Da bist du ja!«, rief Katta, die in diesem Augenblick die Treppe herunterkam.

»Das war knapp.« Fieber senkte die Waffe. »Fast hätte ich dich erwischt.« Katta fragte ihn etwas, aber Steller hörte sie nicht. Er hatte eine Offenbarung. Stellers Erinnerung spulte drei Sekunden zurück. Er sah Fiebers Gesicht in Großaufnahme. Ganz deutlich. Das Zucken der Wangen, die Blitze in den Augen. Das war der Moment gewesen, in dem Fieber den Entschluss gefasst hatte, ihn zu töten und Steller wusste auch, warum.