48. Loss-loss-situation

 

Aila Torbeck

 

Nach der Besprechung blieb Torbeck alleine im Kommandantenraum zurück. Sie hatte sich zurückgelehnt und starrte gegen die Wand. Den Versuch, die Puzzleteile ihrer Gedanken zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen hatte sie aufgegeben. Was war mit Karl? Wie sollte sie ihn aus der Quarantäne befreien? Wie ging es Katta? Würde Keim etwas finden, das ihnen weiterhalf? Sie verlor das Gefühl für die Zeit. Wie spät war es? Was hatten sie für einen Wochentag? Womöglich war es besser sich einfach treiben zu lassen. Sie konnte nichts mehr unternehmen. Die Satelliten waren down. Katta damit für sie außer Reichweite. In der Anlage gab es nichts zu tun. Nein, stopp. Was war mit dem Selbstmord? Sie wollte eine Ansprache an das Personal halten. Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und gähnte. Wann hatte sie das letzte Mal geschlafen? Früher oder später musste sie sich hinlegen. Schlafmangel war gefährlich.

Trautheim. Der Ortsname sprang ihr ins Gedächtnis. Torbeck stand auf und verließ ihren Raum. Im Leitstand herrschte Stille. Gärtner sah sie an.

»Sagt Ihnen das Dorf Trautheim etwas?«

»Nein«, antworteten er.

»Nicht wichtig.« Ihr wurde plötzlich übel. »Ich muss mich kurz entschuldigen.« Torbeck drehte sich um und wollte den Leitstand verlassen.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

Mit leerem Kopf lief Torbeck durch die Korridore, ging zur Messe. Sie musste etwas essen, ansonsten würde sie umfallen. Die drei Schluck Kaffee und der Alkohol, den sie bis jetzt zu sich genommen hatte, waren kein Grundstock, um dauerhaft bei Besinnung zu bleiben. In der Messe befanden sich nur wenige Mitarbeiter. Sie versuchte sich erneut an einem Sandwich, suchte einen einsamen Tisch und würgte das labbrige Brot in sich hinein. Danach blieb sie gedankenverloren am Tisch sitzen. Sie dachte an ihr Haus und daran, dass sie bald den Rasen mähen musste. Rasen mähen. Sie hasste Gartenarbeit, aber im Moment gäbe es nichts, was sie lieber täte. Wie schön die Rosen geblüht hatten.

 

Sie bemerkte nicht, dass Theißen vor ihr stand. »Hier sind Sie. Ich konnte Sie nicht über Ihr NanoCom erreichen.«

Sie sah ihn überrascht an. »Das muss ich überhört haben.«

Er kam gleich zum Punkt. »Sie haben gesagt, Ihre Tochter wollte sich auf den Weg in die Uniklinik machen.«

Torbecks Puls beschleunigte. »Was ist passiert?«

»Die Drohne hat auf dem Rückweg zu Fenris zwischen Frankfurt und Neu-Isenburg die Landung eines riesigen Objektes beobachtet.«

»Ein Raumschiff?«

»Ich befürchte, ja.«

War das also tatsächlich alles wirklich? »Wie groß ist das Objekt?«

»Es hat die Ausmaße eines Wolkenkratzers.«

»Mein Gott.« Torbeck nahm das NanoCom von ihrem Gürtel. »Wir müssen die anderen informieren.«

»Warten Sie.«

»Was?«

»In der Nähe des Landeortes befindet sich ein länglicher See, an dem sich ein Gebäudekomplex anschließt. Laut Karte handelt es sich um den Jacobiweiher. Die Gebäude gehören zu einer Geflügelfarm. Dort gibt es auffällig starke Bewegungen. Auf dem Gelände wimmelt es von Infizierten.«

»Und?« Das Herz schlug ihr gegen die Rippen. »Sagen Sie schon!«

»Die Drohne hat in unmittelbarer Nähe zu der Farm die Wärmesignatur eines Fahrzeuges festgestellt. Der Motor strahlt Restwärme ab. Das Fahrzeug steht dort erst seit Kurzem. Es handelt sich um einen Rettungswagen.«

»Das ist Katta.« Die Gruppe hatte es in die Uniklinik geschafft und sich einen Rettungswagen organisiert. Aber warum hatten sie dort gehalten? »Sie haben gesagt, dass es auf dem Gelände von Infizierten wimmelt.«

»Ja.«

»Haben Sie Leichen gefunden?«

»Nein. Aber das hat wenig zu bedeuten. Die Lage ist unübersichtlich.«

Torbeck ließ die Hände in den Schoß sinken.

»Vielleicht kann ich Ihrer Tochter helfen.«

»Wie?«

»Kommen Sie mit. Ich erkläre es Ihnen unterwegs.«

 

Als Torbeck und Theißen Minuten später den Leitstand betraten, wurde sie von einer Soldatin angesprochen. »Frau Generalmajor?« Das geschlossene silberne U auf ihren Schulterstücken wies sie als Stabsunteroffizier aus. »Einen Moment.« Torbeck hob abwehrend die Hand.

»Kein Problem. Sie können mir dabei sowieso nicht helfen«, sagte Theißen und ließ sie stehen. Er schlug einem Feldwebel auf die Schultern, zeigte ihm an, dass er ihm folgen solle. Die beiden Männer verschwanden im NATO-Befehlsraum. Torbeck blieb nur die Hoffnung, dass Theißens Idee, die er ihr auf dem Weg zum Leitstand erklärt hatte, funktionierte.

»Was wollen Sie?« Torbeck sah der jungen Soldatin in die Augen.

»Tut mir leid, wenn ich sie unterbreche, aber ich habe mitbekommen, dass Sie vorhin nach dem Ort Trautheim gefragt haben. Ist das noch aktuell?«

»Ja. Es ist nicht wichtig, aber ich habe das Gefühl, dass ich den Namen schon einmal gehört habe. Ich frage mich allerdings in welchen Zusammenhang.«

»Das wird vermutlich im Fernsehen gewesen sein. Trautheim ist der Hauptsitz der Genesis-Sekte. Um die hat es in der Vergangenheit oft Wirbel gegeben. Die Mitglieder sind Kreationisten. Sie lehnen die Evolutionstheorie ab und verbieten ihren Kinder am Biologieunterricht teilzunehmen. Außerdem geht bei denen einmal im Jahr die Welt unter.«

Vor Torbecks innerem Auge sah sie Kranz mit ihrem Kruzifixanhänger spielen. Sie musste mit Dr. Hartmann reden. Wenn die Psychologin zu der Sekte gehörte, erklärte das, warum sie mit den Nerven am Ende war. Ob das stimmte, sollte der Doktor in Erfahrung bringen. Vielleicht war es nötig, Kranz unter Hausarrest zu stellen. Jemand, der vom Jüngsten Tag fabulierend durch die Gänge irrte, fehlte ihr gerade noch. Ihr fiel noch etwas anderes wieder ein. Die Ansprache an die Bunkerbesatzung. Das musste sie jetzt endlich hinter sich bringen. Theißen konnte sie nicht helfen. Es war besser, sie ließ ihn in Ruhe. Ihr fiel auf, dass Gärtner nicht anwesend war. Warum nicht? Der hatte doch Dienst. Aber da würde sie sich später drum kümmern müssen. Im Moment gab es Wichtigeres. Torbeck drehte sich um und ging zu ihrem Raum, um mit Hartmann Kontakt aufzunehmen, als einer der Soldaten ihr etwas zurief. »Wir haben eine Störungsmeldung aus der Forschung. Ein Schleusensystem zwischen dem S4- Labor und der Forschungsabteilung meldet einen Defekt.«

»Was für einen Defekt?«, fragte Torbeck. Was war nun schon wieder los?

»Die Schleuse steht offen. Laut Anzeige ist derzeit eine ungesicherte Passage vom S4-Labor in die Forschungsabteilung möglich.«

Das konnte nicht sein. Bei der Schleuse handelte es sich genau genommen um zwei miteinander verbundene Schleusen, die nacheinander zu betreten waren. Im S4-Labor herrschte ein permanenter Unterdruck. Durch das gestaffelte Schleusensystem wurde eine Druckkaskade aufgebaut.

»Das ist unmöglich. Vielleicht eine Fehlmeldung?«, fragte Torbeck. »Überprüfen Sie die Druckverhältnisse im Labor und die Subroutinen für die Türschließsysteme.«

»Verstanden.« Der Soldat klickte sich durch ein Menügewirr.

Die Tür des Leitstandes öffnete sich. Gärtner kam hereingerannt. »Stellen Sie sofort die Anlage unter Quarantäne!«, schrie er.

»Was?«

»Kranz hat die Laborangestellte umgebracht. Sie ist im S4-Labor. Sie müssen die Anlage sofort unter Quarantäne stellen.«

»Beruhigen Sie sich. Woher zum Teufel wissen Sie das?«

Gärtner hatte Torbeck erreicht und hielt ihr einen Ausweis unter die Nase. »MAD. Ich befehle Ihnen, die Anlage unter Quarantäne zu stellen oder ich lasse Sie absetzen.«

Gärtner war vom Militärischen Abschirmdienst. Das erklärte einiges. »Frau Generalmajor. Ich habe keinen Zugriff auf die Subroutinen«, sagte der Soldat, den Torbeck beauftragt hatte, die Türsysteme zu überprüfen.

»Wir haben einen Druckanstieg im Labor«, meldete sich ein anderer.

Gärtner sah Torbeck an. Die nickte nur. »Kontaminierungsalarm«, rief Gärtner. Auf dem Leitstand wurde es hektisch. Das Alarmsignal ertönte. Fenris‘ weibliche Computerstimme meldete sich.

 

 

***

 

Karl Wiegner

 

Wiegners Schulter pochte vor Schmerzen. Eigentlich hätte er gerne mit Torbeck gesprochen, aber die war nicht zu erreichen. Vermutlich hatte sie alle Hände voll zu tun. Das Gefühl der Hilflosigkeit machte ihm zu schaffen. Was sollte er tun? Er war zur Handlungsunfähigkeit verdammt. Das war inakzeptabel. Er beschloss, wenigstens gegen seine Schmerzen vorzugehen. Wiegner ging zum Krankenzimmer, erklärte über das ComSys, was er wollte, und wurde hineingelassen. Die medizinische Mitarbeiterin versprach ihm, dass der Arzt sofort kommen würde. Egal, er hatte es nicht eilig. Wiegner setzte sich auf die Liege. Der Schmerz in seiner Schulter nahm zu. Unter Stöhnen legte er sich auf den Rücken und schloss die Augen. Die Stimmung in der Quarantäneabteilung war gedrückt. Die Soldaten trauerten um ihre Kameraden. Wiegner hatte schon mehrfach Befehle geben müssen, die anderen Menschen das Leben gekostet hatten. Daran konnte er sich nicht wirklich gewöhnen. Das war schlimm genug. Diesmal allerdings war es bedeutend schlimmer. Diesmal hatte er versagt. Ob die Soldaten das verstanden hatten, war ihm nicht klar. Vielleicht nicht. Er selber hatte es begriffen. Die Schuldgefühle würden er nicht mehr loswerden. Das wusste er.

Der Lautsprecher knackte. Eine Frauenstimme erfüllte den Raum. Er kannte die Stimme. Das war Fenris.

 

»Achtung! Es wurde Kontaminierungsalarm ausgelöst. Ich wiederhole. Es wurde Kontaminierungsalarm ausgelöst. Begeben Sie sich in den nächstgelegenen Raum. Das Quarantäne Protokoll startet in sechzig Sekunden. Bitte bewahren Sie Ruhe.«

 

Seine Schmerzen waren verflogen. Er sprang auf die Füße. Die Durchsage wiederholte sich. Dann begann der Countdown.

 

»Neunundfünfzig, achtundfünfzig ...«

 

Über der Schleuse zur Forschungsstation leuchtete eine Anzeige auf. Wiegner bekam Besuch.

 

 

***

Aila Torbeck

 

»Schalten Sie die Korridore der Forschung auf den Schirm«, rief Torbeck. Die Bildwand änderte ihr Aussehen, glich jetzt einem riesigen Schachbrett. In jedem der Felder erschien die Aufnahme einer anderen Überwachungskamera. Die meisten Bilder zeigten leere Flure oder geschlossene Türen. Torbecks Blick sprang von einem Rechteck zum nächsten.

 

»Siebenundfünfzig, sechsundfünfzig ...«

 

»Da. Sehen Sie!«, schrie einer der Soldaten. »B 10.«

Torbeck orientierte sich. Dann hatte sie den Bildausschnitt gefunden. Auf einem der Korridore gab es ein Handgemenge.

 

»Vierundfünfzig, dreiundfünfzig ...«

 

»Vergrößern!« Torbeck ging instinktiv einen Schritt auf die Anzeige zu. Das Rechteck blähte sich auf, nahm jetzt die halbe Bildwand ein. »Oh, mein Gott!« Torbeck hielt sich eine Hand vor den Mund.

Ein Mann im weißen Kittel riss eine Frau zu Boden. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine Vergewaltigung. Zwei andere Männer versuchten der Frau zu helfen, schauten auf und rannten plötzlich weg. Eine Sekunde, nachdem sie aus dem Blickfeld der Kamera verschwunden waren, sah Torbeck mehrere verwischte Erscheinungen, die ihnen hinterher jagten.

 

***

Karl Wiegner

 

»Zweiundfünfzig, einundfünfzig ...«

 

Die Schleuse öffnete sich und Dr. Hort wankte herein. Er hielt eine Hand vor das Gesicht und versuchte, sich mit der anderen an einem Rollwagen abzustützen, verlor das Gleichgewicht. Wiegner griff an sein Gürtelholster und fasste ins Leere. Da war keine Pistole. Der Arzt drehte sich auf den Rücken. Sein Kittel war zerrissen und blutverschmiert. Er sah Wiegner an, gab keinen Laut von sich, musterte ihn mit kalten Augen, wie ein Raptor seine Beute. Wiegner blieben nur Sekunden. Auf einen waffenlosen Nahkampf wollte er es nicht ankommen lassen. Er sprang zu der sich schließenden Schleusentür, drückte sich durch den Spalt. Die Schiebetür stoppte und glitt wieder auf.

 

»Achtundvierzig, siebenundvierzig ...«

 

Das war nicht gut. Er hämmerte auf den Knopf zum Schließen. Der Doktor lag auf dem Boden, hatte seinen Oberkörper leicht aufgerichtet, damit er ihn weiter beobachten konnte. Wiegner sah durch Horts Augen hindurch ins Nichts. Dessen Hirn wurde gerade vom Virus überschrieben. Hoffentlich hielt dieser Zustand eine Weile an.

Die Tür schloss sich.

Der Arzt begann zu brüllen, sprang auf die Beine.

 

 

***

Aila Torbeck

 

»Dreiundvierzig, zweiundvierzig ...«

 

Gärtner gab den Befehl, den Verbindungsflur zwischen Forschungsbereich und Militärkomplex auf den Schirm zu schalten. Im Moment war in dem Bereich niemand zu sehen.

 

»Vierzig, neununddreißig ...«

 

Was sollte sie tun? Die Antwort war einfach. Das, was nötig war. Torbeck riss dem nächsten Soldaten das Headset vom Kopf, hielt sich das Mikrofon vor den Mund. »Fenris. Hör zu!« Der Countdown wurde unterbrochen.

 

»Fenris hört«, sagte die Frauenstimme.

 

»Hier spricht die Kommandantin. Aila Torbeck, B077563.«

 

»Stimme akzeptiert. Aila. Was ist dein Befehl?«

 

»Broken wing. Notfallabtrennung der Forschungsabteilung.«

 

»Ich wiederhole. Broken wing. Notfallabtrennung der Forschungsabteilung. Ist das richtig?«

 

»Positiv.«

 

»Achtung! Die Forschungsabteilung wird in fünf Sekunden abgetrennt. Fünf, vier ...«

 

 

***

Karl Wiegner

 

 

Der Mediziner sprang auf die Beine, raste auf die Schleusentür zu. Das erahnte Wiegner nur noch, die Tür war fast geschlossen. Instinktiv ging er rückwärts, bis er mit dem Rücken an der zweiten Schleusentür anstieß. Die Tür vor ihm schloss. Es klickte. Eine Anzeige leuchtete auf. Es knallte gegen die Tür. Wiegner zuckte zusammen. Die Tür konnte mit einem Code geöffnet werden. Der Arzt kannte den Code, konnte ihn aber sicher nicht mehr einsetzen. Der Virus hatte sein Gehirn formatiert. Für das Erste war er in Sicherheit. Wiegner bemerkte, dass der Countdown gestoppt hatte. Warum? Natürlich gab es die Möglichkeit, den Alarm abzubrechen. Allerdings stellte sich die Lage so dar, dass es dafür keinen vernünftigen Grund zu geben schien. Ein Fehlalarm war es jedenfalls nicht. Eine Fehlfunktion, die zu einem Abbruch geführt hatte? Unwahrscheinlich.

Dann verstand er es. »Aila. Tu das nicht!«, schrie er. »Das kannst du nicht machen.«

 

***

Aila Torbeck

 

»Da sind welche!«

Mehrere Personen rannten einen Korridor in der Forschungsabteilung entlang, näherten sich dem Übergang zum Militärbunker. Waren die infiziert? Torbeck konnte es nur hoffen. Denn, wenn die Abteilung abgeriegelt wurde, war das kein Spaß.

 

»Zwei, eins. ... Abtrennung erfolgt.«

 

Die Menschen auf dem Bildschirm schwenkten in den Übergangskorridor ein, als die Decke einbrach. Eine geleeartige graue Masse begrub sie unter sich. Aus einer über dem Korridor angebrachten Kammer waren dreißig Tonnen Flüssigmetall in den Gang geklatscht. Die Metalldispersion in Epoxidharz veränderte ihre Farbe, begann augenblicklich auszuhärten.

 

»Forschungsabteilung ist abgetrennt. ... Kontaminierungsalarm. Setze Countdown fort. Neunundzwanzig, achtundzwanzig ...«

 

Torbeck setzte sich auf einen Stuhl und starrte auf die Bildwand. Eine der vergrößerten Kacheln zeigte die aushärtende Versiegelungsmasse. Die Forschungsabteilung war nur noch eine in Bernstein eingefrorene Sauerstoffblase. Die Umweltanlage, die Trinkwasserversorgung. Alles hatte sich entkoppelt. Nur der Strom war geblieben. Aber auch das ließe sich ändern.

Torbecks Atem ging schwer, ihr Herz raste. Sie griff sich mit der Linken an die Brust. Ihr wurde kalt. Wie viele Menschen befanden sich zum Zeitpunkt der Versiegelung in der Forschungsabteilung? Fünfzig? Siebzig? Die waren nicht alle infiziert. Sicher hatten sich viele retten können, sich irgendwo eingeschlossen. Torbeck hatte sie alle lebendig begraben. Die Menschen waren bereits tot. Verhungern und verdursten mussten sie. Elendig verrecken. Verschüttet wie Grabräuber in einer Inka-Pyramide. Wieder eine Sache, mit der man leben musste. Nicht daran denken. Einfach wegschieben, zu dem anderen Unrat, den sie gedanklich unter den Teppich gekehrt hatte.

 

 

***

Karl Wiegner

 

Die riegelten die Forschungsanlage ab. Darum hatte der Countdown ausgesetzt. Der neu eingeleitete Alarm der Notfallabtrennung war nur auf dem Leitstand zu hören. Das war insoweit logisch. Wenn die Situation eintrat, dass die Forschungsabteilung verschüttet werden musste, dann wollte man niemanden dort warnen. Dann sollte es um jeden Preis verhindert werden, dass Menschen die Abteilung verlassen konnten. Natürlich wäre es sinnvoll, den ursprünglichen Alarm in der Forschungsabteilung weiterlaufen zu lassen. Das war sicher ein Softwarefehler. Mit dieser Art von kleinen Problemen hatte sich Wiegner in den letzten Monaten tausendfach herumgeschlagen. Wenn er recht hatte, dann würde jeden Moment der ursprüngliche Kontaminierungsalarm weiterlaufen. Wie zum Beweis begann Fenris wieder zu zählen.

 

»Neunundzwanzig, achtundzwanzig ...«

 

Ende der Geschichte. Wiegner rutschte mit dem Rücken an der Wand zu Boden. Er hatte zwei Wahlmöglichkeiten. In weniger als dreißig Sekunden würden sich alle Türen in der gesamten Anlage verriegeln. Dann wäre er gefangen wie in einer Schachtelpuppe. Im Berg, in der Forschungsabteilung, in der Schleuse. Die Notfallabtrennung hatte die Forschungsabteilung von der restlichen Anlage getrennt. Der Kontaminierungsalarm würde in ganz Fenris die Türen verriegeln. Noch konnte er die Schleusentüren öffnen. In das Behandlungszimmer der Quarantänestation wollte er nicht zurück. Dort zerlegte der Doktor gerade das Inventar. Blieb die andere Seite. Hinein in die Krankenabteilung. Da könnte er sich halbwegs frei bewegen. So wie er sich erinnerte, wurden die Außentüren von zusammenhängenden Bereichen verschlossen, die Türen innerhalb dieser Bereiche nicht. Wollte er das? Was machte das für einen Unterschied? Mehr Platz, vermutlich etwas zu trinken, vielleicht ein wenig zu essen. Und was dann? Außerdem. Wer war auf der anderen Seite?

 

»Dreizehn, zwölf ...«

 

Die Zeit lief. Noch knappe zehn Sekunden und er würde bis zum Ende der Zeit auf fünf Quadratmetern beerdigt sein. Nein, auf keinen Fall. So wollte er nicht verrecken. Hektisch sah es sich um. Hier gab es nichts, was man als Waffe benutzen konnte. Er zog seinen Gürtel aus und wickelte ihn um die rechte Hand. Also gut. Dem Ersten würde er ganz bestimmt alle Zähne ausschlagen. Der Rest würde sich ergeben. Keine Zeit mehr, um Pläne zu schmieden. Er drückte auf den Türöffner und trat in die zweite Kammer der Schleuse ein. Hier hingen Schutzanzüge an der Wand. Es gab eine Glaskabine, die an eine Dusche erinnerte. Sie war zur Desinfektion der Schutzanzüge gedacht. Das war wohl mittlerweile unnötig. Wiegner betätigte das Öffnungssystem der nächsten Schleusentür.

 

 

***

Aila Torbeck

 

»Protokoll bei Kontaminierung durchgeführt. Die Anlage ist fragmentiert. Aufzüge außer Betrieb. Unterkünfte verriegelt. Treppenhäuser verriegelt. Verbindungstüren der Korridore verriegelt. Brandschutztüren verriegelt. Bewahren Sie Ruhe. Es wird an einer Lösung des Problems gearbeitet.«

 

»Ist ein Infizierter durchgebrochen?«, fragte Torbeck mit dünner Stimme in den Raum hinein. Die Frage stellte sie mehr an sich selbst. Räumlich gesehen war die Anlage jetzt in Hunderte von kleinen Waben aufgeteilt. Infiziert oder nicht. Keiner bewegte sich mehr. Nicht vorwärts und nicht zurück. So betrachtet spielte es keine Rolle, ob es ein Kranker aus der Forschung herüber geschafft hatte. Die Seuche konnte sich nicht weiter ausbreiten.

Jemand redete mit ihr, aber sie verstand die Worte nicht. Sie sah das Gesicht ihres Freundes vor sich. Wiegner war in der Quarantänestation und die Quarantänestation war in der Forschungsabteilung. Sie hatte Karl getötet.