7. Überfall
Demir Kara
Um 21:50 Uhr öffnete Bilal die Augen, drehte den Sitz hoch und startete den BMW. Er war so unvermittelt erwacht und übergangslos in den Betriebsmodus gewechselt, dass Demir vor Schreck zusammenzuckte. Zehn Minuten später parkten sie zweihundert Meter von der Commerzbank entfernt in einer Parkbucht ein. Die Befürchtung aufzufallen schien unbegründet. Die Stadt war gesättigt mit Menschen. Niemand nahm Notiz von ihnen. Nach einigen Minuten öffnete Demir die Tür.
»Was hast du vor?«
»Ich vertrete mir mal die Beine.«
»Jetzt?«
»Ich bin rechtzeitig wieder da.«
»Das will ich hoffen.«
Demir stieg aus und ging Richtung Bank. Der Commerzbank-Tower besaß fünfundsechzig Stockwerke und wuchs dreihundert Meter in die Höhe. Als architektonisches Highlight galten die Themengärten, die sich teilweise über mehrere Stockwerke erstreckten. Es gab Bäume, die in der neunzehnten Etage aus dem Boden wuchsen und deren Kronen bis in den zweiundzwanzigsten Stock ragten. Der Wolkenkratzer stand auf einer Art Podest. Die halbkreisförmig angelegte Treppenanlage maß dreißig Meter in der Breite und führte von der Straße zum Eingang. Wenn man die Bank durch die Drehtür betrat, stand man im Atrium, einer Art Innenhof, der erst in einhundertfünfundsechzig Metern Höhe seine Decke fand. Das Atrium durchzog ein Gewirr aus Treppen und Galerien. Drang man tiefer in das Gebäude ein, lag rechter Hand ein Tresen aus teurem Tropenholz. Hier standen zwei Frauen in Kostümen herum. Das war der Informationsschalter. Mehr interessierte Demir, dass die Fahrstühle ein ganzes Stück von der Drehtür entfernt lagen. Man musste vom Eingang kommend das Atrium durchqueren, an der Information vorbei, bis zum Ende des Gebäudes. Sollte der Kurier in die Bank flüchten, so hatte man noch eine Chance ihn zu stellen. Zumindest aus zeitlicher Sicht. Ob es intelligent war, einen Bewaffneten in ein Gebäude zu verfolgen, während man keine Sicht auf ihn hatte, stand auf einem anderen Blatt. Demir beendete seine Erkundungstour und setzte sich wieder zu Bilal in den Wagen.
Sie warteten.
Die Nervosität schien die Zeiger von Demirs Armbanduhr zu verkleben. Ständig drehte er sein Handgelenk, sah auf das Zifferblatt und stellte fest, dass die Zeit nicht in die Gänge kam.
Sie warteten.
Demir sah auf seine Uhr.
»Lass das.« Bilal klang gereizt.
»Ich bin nervös.«
»Ich werde auch gleich nervös, wenn du nicht damit aufhörst.«
Demir zwang sich den Impuls zu unterdrücken, starrte durch die Windschutzscheibe. Irgendwann wurde es ihm zu viel. Er ertrug es nicht mehr. Ein kurzer Blick. »Es ist 22:52 Uhr. Ich hoffe, die kommen noch.«
»Die kommen. Wer weiß schon, was am Flughafen los ist. Vielleicht hat die Maschine Verspätung.«
Ein schwarzer Audi A8 fuhr an ihnen vorbei. Die beiden streckten den Hals. »Scheiße. Wenn man darauf achtet, fahren alle einen schwarzen A8.« Demir drehte den Funkscanner lauter. Sie hörten den Einsatzkanal der Polizei mit. »Bei denen brummt es.« Ohne Unterlass gingen Aufträge heraus. Eine häusliche Gewalt dort, ein Unfall hier, dazwischen Schlägereien.
»Ist doch gut. Dann fehlt ihnen die Zeit für uns«, sagte Bilal.
»Was wirst du mit deinen Diamanten machen?«
»Das geht dich nichts an. Besser, du weißt es nicht.«
Auch wieder wahr. Sie würden sich ohnehin nie wiedersehen. Demirs mit heißer Nadel gestrickter Fluchtplan sah vor über Bulgarien in die Türkei einzureisen. Dort wollte er die Diamanten zerstückeln und verkaufen. Er hatte Beziehungen. Ob die reichten, war unklar. Eventuell zerstückelten seine Beziehungen erst die Diamanten und dann ihn. Wenn alles gut ging, musste er einen sicheren Weg finden, seiner Mutter Geld zu schicken. Nach Deutschland führte kein Weg zurück. Kein Anruf, keine Postkarte. Nichts. Ein neues Leben. Demir hatte null Ahnung von Polizeiarbeit, aber er wusste, dass die Bullen in solchen Fällen hartnäckig sein konnten und nicht so leicht locker ließen. Er fragte sich, ob Bilal wirklich bereit war, die Beute mit ihm zu teilen. Er musste achtgeben.
Demir fühlte, dass er kurz davor stand, seiner Existenz den Gnadenstoß zu versetzen. Wenn er hierbei erwischt wurde, schloss der Laden für immer. Aber wenn er Bilal jetzt sagte, dass er keinen Bock mehr auf die Aktion hatte, dann würde er ihm die Zähne einschlagen. Mindestens. Vor drei Jahren hatte Demir ernsthaft versucht, sein Leben in neue Bahnen zu lenken. Er hatte eine Berufsschule besucht. Nach zwei Monaten flog er. Die Schulleitung hatte ihm vorgeworfen mit Drogen zu dealen. Das war Schwachsinn. Er hatte im ganzen Leben keine Drogen verkauft. Aber einmal Arschloch immer Arschloch. Darüber durfte er sich nicht beschweren. Den Ruf hatte er sich erarbeitet. In der Vergangenheit hatte er das eine oder andere krumme Ding gedreht. Nur gewalttätig war nie gewesen. Letztes Jahr klappte es dann doch fast. Er stand kurz davor, einen Modelvertrag zu unterschreiben. Ihm wurde nachgesagt, dass er ein attraktiver Junge sei. Am Ende platzte der Traum. Er stellte fest, dass es neben ihm noch genügend Typen gab, die außer gutem Aussehen wenig zu bieten hatten.
»Wir sollten die Walkie-Talkies einschalten. Wenn es losgeht, denken wir nicht mehr daran«, sagte Demir.
Schweigend drehte Bilal an dem Knopf des kleinen Funkgeräts, das an seinem Gürtel hing. Bilal fand die Idee mit den Funkgeräten blöd. Demir sah das anders. Wer wusste, wie die Sache laufen würde. Wegschmeißen könnte man die Dinger immer noch. Er lehnte sich zurück und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Seine Hände schwitzten. Ein größer werdender Teil seines Ichs hoffte darauf, dass der Kurier nicht kam. Höchste Zeit, um vom Zug abzuspringen. Noch hatte er nichts Unrechtes getan. Nur ein paar Stunden mit Bilals Gesellschaft verplempert. Aber er sprang nicht ab, sondern blieb wie gelähmt im Wagen sitzen und rauchte die nächste Zigarette.
Sie warteten.
»Den Streifenwagen sehe ich jetzt zum dritten Mal«, sagte Demir.
»Du siehst Gespenster.« Bilals Stimmung näherte sich dem absoluten Nullpunkt. »Die Ficker fahren hier immer durch die Gegend.« Er machte mit dem Finger eine kreisende Bewegung. »Tag und Nacht. Suchen nach Kanaken.«
»Wir sind Kanaken.«
»Schnauze.«
Demir zupfte an dem T-Shirt, das an seiner Haut klebte. Es war 23:00 Uhr. Mittlerweile hatte die Hitze des Tages sich verabschiedet, das Schwitzen blieb. Der Kurier war überfällig. Wenigstens ließ der Verkehr nach. Vor einer Viertelstunde hatte er Bilal gefragt, wie lange er noch warten wollte. »Bis er kommt«, lautete die Antwort. Demir glaubte nicht mehr daran. Dass der Kurier nicht kam, erleichterte ihn. Das Ganze war eine Schnapsidee gewesen. Vier Millionen Euro waren ein strahlendes Licht, das den Verstand blendet. Jetzt, wo dieses Licht verlosch, kehrte der Realitätssinn zurück. Er wäre im Knast gelandet oder im Grab. Demir schloss die Augen. Er sollte nach Hause gehen, einen Joint rauchen und sich einen Film reinziehen. »Scheiße, die Bullen«, sagte Bilal.
Demir saß schlagartig kerzengerade. Versetzt hinter ihnen hielt ein Streifenwagen. Das Blaulicht flackerte. Zwei Beamte stiegen aus. »Das sind die Gleichen. Ich habe es doch gesagt. Die haben ihre Kanaken gefunden.«
»Alter, halt einfach die Fresse.« Bilal zog sein Shirt über das Griffstück seines Revolvers.
Die Polizisten teilten sich auf. Einer nahm den Bürgersteig, näherte sich der Fahrertür. Der zweite ging auf der Straße. Im Außenspiegel erkannte Demir, dass seine rechte Hand auf dem Griff der Waffe lag. In der Linken hielt er eine Taschenlampe, die hin und her wackelte. Der Lichtstrahl blendete ihn durch den Spiegel. Demir ließ die Scheibe herunter. »Guten Abend«, sagte er. Der Polizist antwortete nicht. Der Strahl der Lampe wanderte im Innenraum des BMWs umher. Demir hörte, wie es auf der Fahrerseite summte. Bilal öffnete das Fenster.
»Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere«, forderte der Polizist auf der Fahrerseite.
»Stimmt was nicht?«, fragte Bilal.
Der Polizist an Bilals Seite wirkte angespannt. »Das kann man sagen. Erstens ist die TÜV-Plakette schon seit einem Jahr abgelaufen. Zweitens sind die Kennzeichen für einen Golf ausgegeben. Leute. Wenn ihr meint, so Steuer und Versicherung zu sparen, dann ist das eine blöde Idee. Oder ist die Karre geklaut?«
Demir hätte Bilal am liebsten eine gescheuert. Wie blöd konnte man sein?
»Natürlich nicht. Das ist ein Missverständnis«, sagte Bilal.
»Das werden wir sehen. Also. Was ist mit den Papieren?«
»Moment.« Bilal beugte sich zum Handschuhfach. Da gab es weder Papiere noch einen Führerschein zu finden. Sie waren im Arsch. Bilal schindete Zeit, mit der sie nichts anfangen konnten. Immer weiter beugte er sich zur Beifahrerseite. Demir sah, wie das T-Shirt seines Partners hochrutschte, und hielt die Luft an.
»Waffe im Fahrzeug!« Die Polizisten traten zurück, zogen ihre Pistolen. Demir schloss die Augen, wartete auf die Schreie und Kommandos, legte die Hände flach auf das Armaturenbrett. Es blieb still. Der Polizist an Demirs Seite griff nach dem Mikrofon seines Funkgeräts, das an seiner Schutzweste hing. Er legte den Kopf schräg, lauschte. Was immer er hörte, es saugte seine Aufmerksamkeit auf. Hektisch winkte er seinem Partner über das Fahrzeugdach hinweg zu. Dann schrie er. Demir verstand ihn nicht. Unvermittelt rannten die Polizisten zurück zum Streifenwagen, sprangen hinein. Die Streife jagte mit quietschenden Reifen an ihnen vorbei.
»Was ist jetzt los?«
»Wir haben Schwein gehabt. Das ist los.« Bilal startete den Motor. »Wir verschwinden.«
Demir blickte nach rechts. Ein schwarzer Audi A 8 mit getönten Scheiben passierte sie. Vorne saßen zwei Männer. F-GG 313 stand auf dem Kennzeichen. »Das ist der Kurier.« Das durfte nicht wahr sein. Demir begriff die Welt nicht mehr.
»Alter. Wir ziehen das jetzt durch«, sagte Bilal.
»Was ist mit den Bullen?«
»Scheiß drauf. Denk an die Kohle.« Demir nickte. Sein Verstand, vor einer Sekunde noch eingeschaltet, setzte umgehend aus. Jagdfieber erfasste ihn. »Alles klar.« Er griff nach der Sturmhaube in der Seitenablage und zog sie über den Kopf. Der BMW sprang aus der Parkbucht.
Das Kurierfahrzeug hielt direkt vor der Bank. Die Beifahrertür schwang auf. Ein Mann in einem grauen Anzug stieg aus. Demir sah die Aktentasche, leckte sich nervös über die Lippen. Der Kurier schlug die Wagentür zu, federte über den Asphalt und erreichte den Bürgersteig. Ihr BMW stoppte hinter dem Audi. Sie sprangen nach draußen. Der Kurier mit der Tasche war jetzt an der Treppe, nahm mit jedem Schritt zwei Stufen zugleich. Demir setzte ihm nach. Kurz sah er aus dem Augenwinkel, wie Bilal sich dem Audi näherte. Er würde den Fahrer beschäftigen. Vermutlich trugen beide Männer Waffen. Der Demirs Mann befand sich auf halbem Weg zum Bankeingang, er zog die Pistole aus dem Gürtel. »Bleib stehen!«
Der Kurier stoppte, drehte sich herum. Seine Augen weiteten sich, aber er sah Demir nicht. Stattdessen starrte er über dessen Schulter hinweg, an ihm vorbei. »Lass die Tasche fallen!« Demir hob die Mündung der Waffe und richtete sie auf die Brust des Kuriers. Keine zehn Meter trennten die beiden. Demir zuckte zusammen. Von Ferne hörte er ein schrilles Kreischen, das langsam anschwoll. Was war das?
Noch immer zielte er mit der Sig Sauer auf den Mann vor ihm. Der Kurier ging rückwärts. Die auf ihn gerichtete Automatik nahm er nicht zur Kenntnis. Plötzlich ließ der Mann die Aktentasche fallen, sprang hektisch die Stufen nach unten. Er stolperte, kugelte ein Stück die Treppe hinab, raffte sich auf und rannte weiter.
Demir hatte die Stirn in Falten gelegt. Was war das für ein Lärm? Ein abstürzendes Flugzeug? Er vergaß den Kurier, drehte sich um. Für eine Sekunde sah er Bilal, der am Kurierfahrzeug stand. Sein Blick wanderte weiter in Richtung Hauptwache.