30. Außenmission

 

Karl Wiegner

 

Der Raum wirkte gestaucht, die Luft komprimiert. Das Atmen fiel ihm schwer. Die Decke hing unangenehm dicht über seinem Kopf. Wiegner hob den Arm und drückte seine Handflächen gegen den kalten Beton. War sie niedriger als gestern? Er bräuchte einen Zollstock. Er hasste Räume, in denen er die Decke berühren konnte.

Die Antidepressiva halfen als Morphium für die Psyche. Aber genauso wenig wie Morphium einen Bauchschuss kurierte, so wenig halfen die Psychopharmaka seine Klaustrophobie zu heilen. Die Medikamente verhinderten die Panikattacken nicht, milderten nur die Qualen. Dass das Zeug ihm überhaupt half, war ein Glücksfall.

Es kostete ihn Mühe, sich gerade hinzustellen. Am liebsten wäre er unter sein Bett gekrochen und nicht mehr hervorgekommen. Wiegner musste hier raus. In der Außenmission hatte er seine Chance erkannte. Sie würden tatsächlich das Tor öffnen und jemanden nach draußen lassen. Als er Torbeck aufgesucht hatte, um sie zu bitten, die Mission begleiten zu dürfen, hatte er wenig Hoffnung gehegt. Es entsprach nicht der Führungsdoktrin und war schlichtweg nicht zu verantworten. Die Argumente, die er zu bieten hatte, waren sachgerecht, durften jedoch keine Rolle spielen. Um so mehr hatte es ihn erstaunt, dass Aila nach kurzem Zögern ihr Einverständnis gegeben hatte. Das wirkte merkwürdig, interessierte ihn derzeit aber nicht. Es zählte die Tatsache, dass er dieser Gruft entfliehen konnte. Alles andere war sekundär. Wiegner schlug sich mit der Hand zweimal ins Gesicht. »Reiß dich zusammen. Reiß dich bloß zusammen.« Er verließ sein Quartier und machte sich auf den Weg zur Einsatzbesprechung.

 

Die Besprechung fand in der Fahrzeughalle statt. Drei einsatzbereite Boxer- Truppenpanzer standen in einer Reihe nebeneinander. Die achträdrigen Schützenpanzer maßen acht Meter in der Länge, waren drei Meter breit bei einer Höhe von zweieinhalb Metern. Die Besatzung bestand aus dem Fahrer, einem Kommandanten und dem Bordschützen. Neben der Besatzung konnten weitere acht Mann transportiert werden.

Um Wiegner herum bildeten die Teilnehmer der Mission einen Halbkreis. Es waren zwanzig Soldaten und drei wissenschaftliche Mitarbeiter. Sie alle lauschten seinen Ausführungen. Vor wenigen Minuten hatte er die Truppe über den Einsatz aufgeklärt, die taktischen Ziele erklärt. Er hätte die Nervosität mit den Händen greifen können. Scharrende Füße, flackernde Gesichter. Männer, die versuchten gelassen zu wirken. Aber die Furcht saß ihnen wie ein unsichtbares Äffchen im Nacken. Zeit, etwas den Druck zu nehmen. Er klopfte mit der Faust gegen die Flanke eines Boxers. »Grundpanzerung aus Panzerstahl. Darüber eine AMAP-Verbundpanzerung. Wofür steht AMAP, Soldat?« Er zeigte wahllos auf einen der Fallschirmjäger.

»Advanced Modular Armour Protection, Herr Oberst.«

»Sehr gut. Keine Ahnung, warum die Idioten das nicht auf Deutsch sagen können. Im Prinzip ein Haufen von Keramikplatten, die der Schockabsorbierung dienen.« Er ging einige Schritte rückwärts und deutete auf die geöffnete Heckklappe. »Der Innenraum ist mit Kevlar-Gewebematten verkleidet. Falls doch ein Splitter den Weg durch die Panzerung finden sollte.« Er zeigte nach oben. »Auf dem Dach sehen Sie eine 30-mm-Maschinenkanone und ein Maschinengewehr mit dem Kaliber 7,62 mm. Angetrieben wird das Fahrzeug mittels eines 720 PS starken Turbodiesels. Auf der Straße kann der Boxer auf bis zu 105 Kilometer pro Stunde beschleunigen. Seine Reichweite beträgt maximal 1.000 Kilometer.« Er hielt kurz inne. »So, was meinen Sie? Kann man mit dem Panzer in ein Gefecht ziehen?«

Ein Chor antwortete. »Jawohl, Herr Oberst.«

»Danke, Männer. Das glaube ich auch. Das Schöne ist jetzt, dass wir den ganzen Mist kaum brauchen. Wenn uns tatsächlich ein paar Psychopathen angreifen, werden sie sich gepflegt die Fingernägel ruinieren.«

Gelächter.

»Im Ernst. Sprechen wir wie Erwachsene. Wir haben Angst. Jeder von uns.« Er ließ seine Worte wirken. »Das ist in Ordnung. Keiner weiß, was uns erwartet. Aber wir benötigen Informationen und nur wir können sie beschaffen. Glaubt mir. Ich bin wirklich dankbar, dass ich mit echten Fallschirmjägern da raus fahren darf. Die Fallschirmjäger haben es immer gerichtet. Ist das nicht so?«

»Jawohl, Herr Oberst«, antwortete der Chor.

»So wird es auch diesmal sein. Denkt daran. Wir besitzen einen großen Vorteil. In einem Gefecht gibt es in der Regel keinen völligen Schutz. Da nutzt die stärkste Panzerung nichts. Da ist immer jemand, der eine so große Knarre hat, dass er dich damit in Metallspäne verwandeln kann. Das ist bei uns heute anders. Und das ist die beste Nachricht des Tages. Im Panzer sind wir hundertprozentig sicher. Wisst ihr, was das bedeutet? Es bedeutet, dass wir einen Schutzraum mit uns führen. Eine uneinnehmbare Festung. Das nenne ich Luxus.«

Gemurmel.

»Wir müssen los.« Er hob seine Stimme an. »Aufsitzen!«

 

Die Mission startete. Das Außentor öffnete sich. Wiegner kratzte sich nervös an der Nase. Jetzt ging der Spaß los. Dass sie der Panzer schützte, war keine Lüge. Stiegen sie aus, konnte sich die Sicherheitslage allerdings ganz schnell drehen. Es war ein psychologischer Vorteil, wenn die Männer davon überzeugt waren, einen sicheren Rückzugsort mit sich zu führen. Er musste die Sache mit Gefühl angehen. Das war kein gewöhnlicher Einsatz. Die Bilder, die er heute Morgen gesehen hatte, wirkten in ihm nach. In seinem Magen kribbelte es. Wegen der Aufnahmen hatte er sich dafür entschieden, dass die Soldaten keine Schutzanzüge trugen. Nur die Wissenschaftler waren wie Astronauten eingepackt. Die Soldaten führten lediglich Partikelfiltermasken mit sich. Die schützten zwar nicht gegen Gas, halfen aber recht zuverlässig gegen biologische Stoffe. Wenn der Professor sich nicht irrte, brauchte es zu einer Infektion einen ziemlich intimen Kontakt. Den galt es ohnehin zu verhindern. Natürlich versprach ein Schutzanzug größere Sicherheit. Was allerdings aus kampftaktischer Sicht schwerer wog, war die Unförmigkeit der Anzüge. Sie schränkten die Bewegungsmöglichkeiten und das Sichtfeld erheblich ein. In den Anzügen wurde ein künstlicher Überdruck erzeugt. Man bewegte sich in ihnen wie ein aufgepumpter Donut. Außerdem besaßen die Anzüge ein weiteres Manko. Sie waren zwar autark und verfügten über eine eigene Sauerstoffversorgung. Waren die Sauerstoffflaschen jedoch leer, so mussten die Anzüge zwangsläufig geöffnet werden und ihr Schutzwert reduzierte sich automatisch auf null. Keine schöne Vorstellung. Die Vor- und Nachteile galt es gegeneinander aufzurechnen. Wiegner hatte sich für mehr Flexibilität entschieden.

Die Panzer rollten nach draußen. Es gab keine Fenster. Die Außenwelt beobachtete er über vier Monitore. Einer zeigte die Marschrichtung des Schützenpanzers. Wiegner erkannte die Straße und den Waldrand. Die zweite Kamera zeichnete den rückwärtigen Bereich auf. Hier sah er, wie sich das Tor zur Anlage schloss. Auf den übrigen Bildschirmen sah er die Umgebung der linken und rechten Flanke.

Wiegner schloss die rechte Hand zur Faust, öffnete sie wieder, um sie sofort wieder zu schließen. Das machte er ohne Pause. Er war dem Berg entronnen, aber immer noch eingesperrt. Eine in Panzerstahl eingewickelte Kohlrouladenfüllung. Der Oberst sah nach oben. Einige Zentimeter Panzerstahl, dann die Blätter des Waldes und schließlich der freie Himmel. Wenn er doch nur das Dach öffnen könnte.

Auch wenn Wiegner sie nicht sehen konnte, wusste er, dass über ihnen die Drohne in der Luft hing. Sie sollte mit ihren Kameras Ziele und Bedrohungen aufklären. Das Unternehmen war hochriskant. Einen Infizierten in den Bunker zu holen, barg die Möglichkeit einer umfassenden Katastrophe. Völlig unabhängig von den getroffenen Schutzmaßnahmen. Aber sie hatten keine Wahl. Der Sinn und Zweck von Fenris bestand darin, sich der eingetretenen Bedrohung entgegenzustellen. Dafür hatte man Milliarden in der Bergfestung verbaut. Nicht zu handeln bedeutete die Vernichtung zu akzeptieren, deswegen musste das einzugehende Risiko erhöht werden. Diesbezüglich war er ganz auf Professor Danielsens Seite.

Die Kolonne rumpelte die Straße entlang. Wiegner hatte die Hand auf die Schulter eines jungen Stabsunteroffiziers gelegt. Der Truppführer hatte dunkelbraune Haare und hektische braune Augen. Er war Mitte zwanzig, wirkte auf Wiegner wie ein Schulschwänzer mit schlechtem Gewissen. Wiegner versuchte in dem Gesicht des jungen Mannes zu lesen. Er hatte Angst, hielt sich aber anständig. »Und, Junge? Alles klar?«

»Jawohl, Herr Oberst.«

»Wie heißt du?«

»Tarek, Herr Oberst.«

»Hör zu, Tarek. Es gibt auch gute Nachrichten. Erstens, die werden nicht auf uns schießen. Keine Minen, keinen beschissenen, mit Sprengstoff bepackten Esel. Verstehst du? So wie es aussieht, sind die Infizierten nicht mehr in der Lage klar zu denken. Sie schmieden keine Pläne, sie stellen keine Fallen, benutzen keine Waffen. Es wird alles gut gehen.«

»Jawohl, Herr Oberst.«

»Junge. Lass mal die Förmlichkeit. Du bist nicht alleine. Ich bin bei dir. Die Jungs akzeptieren dich, weil du ihr Truppführer bist. Sie vertrauen dir und genau deswegen brauche ich dich. Verstehst du das?«

»Ja.« Er atmete hörbar aus. »Sie können sich auf mich verlassen.«

Wiegner klopfte dem Fallschirmjäger auf die Schulter. Die Panzer rollten die Serpentinen hinab. Wiegner verlor sich in seinen Gedanken. Der Plan war von bestechender Einfachheit. Sie sollten ein infiziertes Individuum lokalisieren, betäuben, einpacken und mitnehmen. Aber bekanntlich platzten die meisten Pläne an den Dornen der Realität. Zunächst mussten sie ein einzelnes Zielobjekt finden. Laut Danielsen traten die Infizierten gerne in Gruppen auf, in großen Gruppen. Das wäre schlecht. Ließen sich die Kranken überhaupt betäuben? Der Professor war nicht müde geworden zu betonen, dass es sich bei den Infizierten um Menschen handelte. Menschen konnte man töten und für gemeinhin auch betäuben. Und wenn nicht? Im Bunker hatte das Wort Zombie die Runde gemacht. Viele dachten so. Da schwemmten sich mythologische Ängste auf. Man konnte es den Leuten nicht übel nehmen. Mensch hin, Zombie her. Die Frage war, ob es ihnen gelingen würde, einen ruhigzustellen. Wenn das nicht funktionierte, griff Plan B: Subjekt ausschalten, Blut und Gewebeproben sichern.

Wiegner konzentrierte sich auf die Monitore. Alles, was er sehen konnte, waren die Straße vor ihnen und der Wald, der sie in allen Richtungen umgab. Hin und wieder glitzerte die Sonne durch die Blätter hindurch. Es war ein schöner Tag. Ihr erstes Ziel lag acht Kilometer von Fenris entfernt. Ein Aussiedlerhof. Dort mussten sie nicht mit einer ganzen Meute Infizierter rechnen. Das war ein Vorteil. Aber das Ziel hatte auch einen Nachteil. Was sollte er tun, wenn sie auf Überlebende trafen? Laut Direktive konnte er ihnen nur etwas zu essen und Wasser da lassen. Vielleicht einige Medikamente. Das war alles. Damit hatte er ein Problem. Wiegner erinnerte sich, dass sein Großvater ihm einmal folgenden Satz gesagt hatte: »Probleme, die du nicht lösen kannst, musst du behandeln wie Katzen. Kümmere dich erst um sie, wenn sie dich anspringen und dir dein Gesicht zerkratzen.« So hielt er es und verdrängte den Gedanken.

Der Wald auf den Monitoren sah wie immer aus. Er wäre gerne ausgestiegen, um festzustellen, ob die Vögel sangen. Vermutlich taten sie es. Warum sollten sie ihr Geschäft unterbrechen, nur weil die Menschheit ausstarb? Für die Welt im Allgemeinen und Tiere im Speziellen konnte das ohnehin kein Schaden sein. Das Funkgerät knackste. »Echo-Eins für Foxtrott.«

Wiegner griff sich den Hörer des Funkgerätes: »Echo-Eins hört. Sprechen Sie.«

»Wir haben ein Aufklärungsergebnis der Drohne. Auf Ihrem Marschweg befinden sich keine Kontakte. Das Nahumfeld des Hofes ist ebenfalls negativ. Allerdings reicht die Infrarotauflösung nicht aus, um das Innere der Gebäude aufzuklären. Die elektronische Aufklärung ergab, dass sich im Bereich des Hauptgebäudes ein aktives Mobiltelefon befindet.«

»Was bedeutet aktiv?«

»Es ist angeschaltet und versucht, sich in die nächste Funkzelle einzuloggen.«

»Ich nehme an, dass das nicht klappt.«

»Es sind keine Netze aktiv. Der Versuch sich einzuloggen ist ein automatischer Prozess der Handysoftware.«

»Falls das Handy sich bewegt, können Sie das feststellen?«

»Nicht bei geringen Veränderungen. Ab einer Änderung der Position von vierzig Metern ist eine verbindliche Aussage möglich.«

»Verstanden.«

Wiegner gab die Aufklärungsergebnisse den anderen beiden Panzern weiter. »Bereit machen zum Absitzen.«

Zwei Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Der Wald war auf mehreren Hektar abgerodet. Das Gehöft bestand aus einem Hauptgebäude und verschiedenen Ställen, von denen einer riesige Ausmaße besaß. Dort war eine Legebatterie untergebracht. Die Hühner würden das Aussterben der Menschen auf jeden Fall begrüßen. Auf den Bildschirmen gab es nichts Auffälliges zu erkennen. Damit hatte Wiegner auch nicht gerechnet. Schließlich verfügte die Drohne über viel weitreichendere Aufklärungsmöglichkeiten als sie am Boden. Die Boxer schwenkten in die Zufahrtsstraße ein, blieben dreißig Meter vor dem Hauptgebäude stehen. Wiegner wartete. Wenn es hier Menschen gab, mussten sie ihr Kommen bemerkt haben. Die drei Panzer hatten das ganze Haus in Schwingungen versetzt. Nichts geschah. Scheiße. Im schlimmsten Fall gab es noch einen Plan C. Den Plan hatte er in der Einsatzbesprechung verschwiegen. Er lautete: Abhauen und ihre Ärsche in Sicherheit bringen. Wiegner zog sich die Schutzmaske über den Kopf. Der Truppführer sah ihn an. Der Oberst lächelte, auch wenn man davon nun nichts mehr sehen konnte. Seine Stimme klang, als ob ihm jemand beim Sprechen den Mund zuhielt. »So, mein Junge. Jetzt geht der Berg zum Propheten. Lassen Sie absitzen.«