40. Déjà-vu

 

Markus Steller

 

»Das ist nicht euer Ernst.« Demir sah Steller und Fieber mit entgeistertem Gesichtsausdruck an. Steller wünschte, es wäre so. Bilal mischte sich ein. Es war das erste Mal seit seiner Fastexekution, dass er sich ernsthaft in ein Gespräch einbrachte. »Ihr wollt in die Uniklinik? Leute. Habt ihr noch nie einen Horrorfilm gesehen? Friedhöfe und Krankenhäuser sind scheiße. Da geht man nicht hin.«

Fieber bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Wir sind nicht in einem Horrorfilm. Das ist die Wirklichkeit.«

»Noch schlimmer.«

»Halt die Schnauze.«

Bilal setzte sich wieder hin.

»Er hat recht«, sagte Demir. »Ein Krankenhaus ist ein sehr gefährlicher Ort. Ich nehme an, dass es da von Infizierten wimmelt.«

Steller war derselben Meinung. Aber es mangelte ihnen an Alternativen. Die Krankenhausapotheke war der einzige erreichbare Ort, an dem sie Medikamente für Katta finden könnten. Die Betonung lag auf dem Wort könnten. Steller war noch nie in einer Krankenhausapotheke gewesen, aber er stellte es sich nicht leicht vor, dort ein bestimmtes Medikament zu finden. Vor allem nicht, wenn man keine Ahnung hatte, wie man am besten danach suchte. Es war nicht einmal gesagt, dass es das Medikament dort wirklich gab. Das Problem war, wenn sie es nicht versuchten, wäre Katta wohl kaum in der Lage den Weg zu schaffen. Einen Krankentransport konnten sie ihr nicht anbieten. Sie musste fit sein. Alles andere würde in einer Katastrophe enden. Eine Zeit lang hatten sie darüber diskutiert, ob sie die ganze Sache nicht einfach aussitzen sollten. Schließlich waren die Infizierten nur Menschen. Wenn die nicht mehr tranken und aßen, und davon gingen sie aus, dann würde sich das Problem in wenigen Tagen von selbst erledigt haben. Aber die angenehme Idee hatte einen Haken. Sie selber hatten ebenfalls nichts zu trinken. Außerdem konnte keiner wissen, wie der Virus die Menschen verändert hatte. Möglicherweise waren die Infizierten zäher und konnte den Wassermangel besser ertragen als sie. Und dann? Ende der Vorstellung. Sie mussten aufbrechen.

Steller hielt diesen ganzen Mist nicht mehr aus. Der Druck war zu gewaltig. Schlaf hatte er kaum gefunden. Bei jedem Geräusch war er hochgeschreckt. Er fühlte sich wie eine in Stahlzwingen eingeklemmte Glasscheibe. Die kleinste falsche Bewegung und er würde in tausend Stücke zerspringen. Er hatte nicht bemerkt, dass ihn alle ansahen. »Was?«

»Du bist wieder an der Reihe«, sagte Fieber.

Steller sammelte sich, hob seine rechte Hand, in der er einen Tablet-Computer hielt. »Wie ihr wisst, ist das hier eine Außenstelle der Fahndung. Wir haben hier alle möglichen Baupläne und Skizzen auf diesen Tablets gespeichert. Flughafen, Hauptbahnhof und große Einkaufszentren wie das Nord-West-Zentrum. Auch den Gebäudeplan der Uniklinik. Das Gute ist, dass sich die Apotheke im Gebäude 9A befindet. Das Gebäude ist laut Plan ein Verwaltungsgebäude.«

»Was ist das Schlechte?«, wollte Fieber wissen.

»Dass ich keine Ahnung habe, wie wir das Medikament finden, wenn wir erst einmal in der Apotheke sind.«

»Wenn es dort ist, werden wir es finden. Das mit dem Verwaltungsgebäude klingt nicht schlecht. Vielleicht haben wir eine Chance.«

»Vielleicht?« Bilal schreckte auf.

»Ja. Vielleicht.«

»Wir werden sterben.«

»Wenn du nicht dein Maul hältst, wirst du auf jeden Fall den Anfang machen.« Fieber sah Steller an. »Wie kommen wir dahin? Idee?«

Steller kratzte sich am Kopf. »Ich habe auch den Plan der Kanalisation.«

»Wozu braucht ihr denn so etwas?«, lachte Demir.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wo sich die Arschgeigen überall verkriechen, wenn es eng wird. Also. Wir könnten durch die Kanalisation gehen. Da kommen wir ziemlich nah an unser Ziel heran.«

»Haben wir nicht gesagt, dass die Irren sich tagsüber im Dunkeln verstecken?« Das war Katta. Sie saß an einer Wand gelehnt. Jede Farbe hatte ihr Gesicht verlassen. Sie schwitzte stark. »Ist es in der Kanalisation nicht dunkel?«

Steller wischte sich mit einer fahrigen Bewegung durch die Haare. »Das ist richtig. Die Frage ist, sind sie da rein gekommen. Ich glaube es nicht.«

»Du glaubst es?« Sie atmete, als wäre sie in der Todeszone eines Achttausenders. »Sollen wir unser Leben für deine Vermutungen riskieren?«

Steller blickte sie böse an. »Wir riskieren unser Leben für dich.«

»Damit ihr in den Bunker kommt.« Kattas Augen funkelten.

Fieber ging dazwischen. »Lassen wir das. Ihr Einwand ist berechtigt. Wenn Katta recht hat, dann sind wir tot. Die Kanalisation ist eine Mausefalle.«

Steller beruhigte sich. »Gehen wir die Alternativen durch. Gestern Morgen haben die Infizierten auf die Geräusche reagiert. Der Motorenlärm und der Unfall haben sie angelockt. Da wir einen Zwischenstopp an der Uni-Klinik einlegen müssen, dürfen wir keine Fahrzeuge benutzen. Mal ganz davon abgesehen, dass wir vermutlich gar nicht an sie herankämen. Die Wagen stehen im Sichtbereich des Hafentunnels. Ich denke, dort wird es genau so aussehen wie gestern. Selbst wenn wir es schaffen sollten, hätten wir die Irren sofort am Arsch. So weit richtig?« Alle nickten. »Bleibt nur die Möglichkeit zu laufen. Nachts geht es nicht. Das habt ihr mittlerweile alle mit eigenen Augen gesehen. Wir kämen keine hundert Meter weit. Also bleibt nur der Tag und da haben wir zwei Möglichkeiten. Erstens, wir schleichen uns oberirdisch durch die Stadt und hoffen, dass sie uns nicht bemerken oder aber wir gehen durch die Kanalisation.« Er hob die Hand, bevor jemand einen Einwurf machen konnte. »Aber vergesst dabei nicht, dass wir über eine Brücke müssen. Unter den Brücken ist Schatten. Das wird eine enge Nummer.«

»Du meinst also, dass es unterirdisch sicherer ist?«, fragte Fieber.

Steller hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wie ich schon gesagt habe, glaube ich nicht, dass sie in die Kanalisation eingedrungen sind. Ich wüsste nicht wie. Aber Glaube ist nicht Wissen.« Er sah Katta an. »Wenn es da unten leer ist, dann ist der unterirdische Weg mit Abstand der sicherste. Ich glaube, dass die Chancen unentdeckt zu bleiben 9:1 für uns stehen. Gehen wir oben lang, stehen sie wohl eher fifty-fifty. Das spricht klar für die Kanalisation.«

Demir mischte sich ein. »Aber das ist nicht alles, was wir bedenken müssen. Gehen wir oben lang und die sehen uns, dann haben wir noch die kleine Hoffnung, uns in Sicherheit zu bringen. Erwischen die uns in den Kanälen, sind wir auf jeden Fall tot.«

Steller grinste. »Jetzt wird es kompliziert. Wir bräuchten einen Experten für Spieltheorie. Wie sieht es aus? Hatte jemand Mathe Leistung in der Schule?«

Alle begannen durcheinander zu reden. »Hört zu.« Fieber hatte sich mitten in den Raum gestellt. »Seid mal ruhig.« Es wurde still. »Wir stehen unter Druck.« Er deutete auf Katta. »Ihr geht es nicht gut und es wird jede Minute schlimmer. Wir haben keine Möglichkeit, das argumentativ zu entscheiden. Also gibt es nur eine Lösung.«

»Die wäre?«, fragte Steller.

»Wir überlassen es dem Zufall.« Fieber griff in seine Hosentasche und zog eine Zweieuromünze heraus. »Zahl, wir gehen durch die Tunnel, Wappen wir gehen oben lang.«

»Ist das dein Ernst?«

Ohne auf die Frage zu reagieren, warf er das Geldstück in die Luft und ließ es auf den Boden fallen. Er bückte sich. »Wir nehmen den Tunnel.«

»Hurra«, stöhnte Katta.

 

Steller machte sich im Spindraum bereit. Gestern Abend hatte er gemeinsam mit den SEK-Leuten die Spinde aufgebrochen. Nun war er alleine hier. Es war für ihn ein seltsames Gefühl gewesen, in den persönlichen Sachen seiner Kollegen zu wühlen. Aber es hatte sich gelohnt. Bei der Durchsuchungsaktion hatte er unter anderem einen Outdoor-Rucksack gefunden, in den er nun alles hineinpackte, was ihm wichtig erschien. Waffen, Munition, den Rest seiner Wasserration, einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten und eine Handvoll Schokoriegel. Ein Einhandmesser befestigte er an seinem Gürtel, genauso wie eine Taschenlampe. Danach passte er die Schulterriemen an, sorgte dafür, dass der Rucksack eng an seinem Rücken anlag. Er durfte ihn beim Rennen auf keinen Fall behindern. Demir kam herein. »Die anderen sind schon fertig. Ich glaube, die wollen aufbrechen.« Steller nickte ihm zu, während er den Schultergurt seiner MP5 kontrollierte. Demir sah ihm dabei zu. »Katta hat gesagt, dass du mich sehen willst.«

»Ich hoffe, das hat niemand mitbekommen.« Demir schüttelte den Kopf. »Hör zu. Ich habe hier im Rucksack drei Pistolen. Ganz unten am Boden. Sie sind durchgeladen.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Weil ich nicht der Meinung bin, dass ihr unbewaffnet sein solltet. Wenn es so weit ist, werde ich euch die Waffen geben. Falls es mich erwischt, weißt du jetzt, wo du sie finden kannst.«

»Warum machst du das?«

»Ich verlasse mich auf mein Gefühl.«

»Verstehe.« Demir wandte sich zum Gehen, verharrte kurz in der Bewegung. »Du willst also am Leben bleiben.«

»Es ist eine verrückte Welt.«

Demir lächelte und ging. Steller fingerte das Papierbriefchen aus seiner Hosentasche. Vorsichtig faltete er es auseinander und zog sich das Kokain ohne große Vorbereitung durch die Nase, warf den Kopf in den Nacken und schüttelte sich. Er griff sich zwei Magazine für die MP und klebte sie mit Paketklebeband entgegengesetzt zusammen. Dann führte er seine Konstruktion in die Waffe ein und ließ den Verschlusshebel nach vorne schnellen. Kein Problem. Alles gar kein Problem. Das wird ein Kinderspiel.

 

Der Spaß begann. Der Eingang zur Kanalisation befand sich etwa zwanzig Meter von dem Ausgang entfernt. Er lag mitten auf dem Weg, zwischen den Gebäuden des Behördenzentrums. Sie konnten nur hoffen, dass sie in diesem kleinen Bereich alleine waren. Schwede und Dallas rannten los und hoben den Kanaldeckel an. »Nach Ihnen«, sagte Dallas und meinte damit Steller, der ihnen gefolgt war. Es war seine Idee. Also würde er die Spitze bilden. Steller ließ sich auf die Knie fallen und leuchtete kurz mit der Taschenlampe in beide Richtungen der dunklen Röhre. Vielleicht war der Plan doch scheiße. Er fühlte die Angst in sich aufsteigen. Falscher Moment, um zu zweifeln. Mit den Armen stützte er sich am Rand ab und ließ sich nach unten gleiten. Der aus Backsteinen gemauerte Tunnel war nur einen Meter breit, dafür aber fast zwei Meter hoch. Es handelte sich um einen sogenannten Fremdeingang. Hier flossen keine Abwasser. Erst in fünfzig Metern Entfernung würde sie eine schmale Treppe hinunter in einen der Hauptkanäle führen. Steller schaltete seine Taschenlampe ein und bewegte sich in Richtung des Abgangs. Hinter sich hörte er, wie die anderen ihm in den Tunnel folgten. Inzwischen hatte die Angst ihn fest im Griff. Wenn sie hier auf Infizierte trafen, war es das. Eine Flucht war unmöglich. Katta hatte recht. Das war eine Todesfalle.

Seine rechte Hand lag auf dem Griffstück der Pistole. Der Strahl der Lampe wurde durch die vor ihm liegende Dunkelheit verschluckt. Langsam ging er weiter. Hinter ihm wurde der Kanaldeckel zugezogen. So wie es aussah, war ihr Einstieg unentdeckt geblieben. Das war ein Teilerfolg. Aber wenn er daran dachte, was noch vor ihm lag, dann mochte er sich darüber nicht recht freuen. Als er sich für den Ausflug bereit gemacht hatte, hatte er seine Jeans gegen eine Uniformhose getauscht. In den aufgenähten Seitentaschen steckte das Tablet. Er zog den Computer heraus und sah sich den Plan an. Der Weg war nicht kompliziert. Aber da hier unten kein GPS funktionierte, hatte er Sorge sich zu verlaufen. Er prägte sich die Strecke erneut ein und packte das Gerät weg. Steller warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Die Gruppe folgte ihm aus taktischen Gründen mit einem Abstand von zwanzig Metern. Sollte er Feindkontakt haben, dann hatten die anderen wenigstens noch ein paar Sekunden, um zu reagieren. Er fühlte sich einsam. In dieser engen Schwarzröhre wirkten die Meter wie Kilometer. Er fragte sich, was passieren würde, wenn er hier seine Waffe benutzen müsste. Vermutlich würden ihm beide Trommelfelle platzen.

Steller erreichte die Treppe. Kloakengeruch schlug ihm entgegen. Er gab das vereinbarte Lichtzeichen nach hinten und begann die Treppen hinabzusteigen. Am Ende der glitschigen Stufen gelangte er in einen fünf Meter breiten Haupttunnel. Der Tunnel war zweigeteilt und bestand aus einem ein Meter fünfzig breiten Weg und einem drei Meter breiten Abwasserkanal. Da die Wasserversorgung unterbrochen war, hatte sich der Inhalt des Kanals in einen stinkenden Brei verwandelt. Dafür war es hier unten im Gegensatz zur Oberwelt angenehm kühl. Steller ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe herumwandern. Bei jeder Bewegung hatte er Angst, eine Horde von Verseuchten anzustrahlen. Er ging weiter. Hinter ihm erreichte die Gruppe den Kanalschacht. Die Echos seiner Schritte, das Rascheln von Ratten, Wassertropfen, die sich von der Decke lösten, von zitternden Taschenlampen gezeichnete Schattenbilder. Das alles quälte ihn mit kribbelnden Stromschlägen, pumpte im Sekundentakt Adrenalin durch seine Adern. Er stand am Rand einer Panikattacke. Was, wenn Ben hier wäre? Wenn sein Partner ihm mit zerschlagenen Knochen entgegenschwankte? Er schüttelte sich kurz, als wären die bösen Gedanken Wassertropfen im Fell eines nassen Hundes. Steller beschleunigte seine Schritte. Nach zweihundert Metern musste er nach rechts in einen kleineren Kanal abbiegen. Der Weg verengte sich und die Decke kam so weit herunter, dass er den Kopf leicht nach vorne neigen musste. Der Tunnel würde sie unter dem Main hindurchführen. Er lag schnurgerade vor ihm und schien ins Unendliche zu reichen. Steller schätzte, dass sie die Hälfte geschafft hatten und sich direkt unter dem Fluss befanden, als er schnelle Schritte hinter sich hörte. Er drehte sich um und wurde durch den Schein einer Taschenlampe geblendet. Erst als die Person nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, erkannte er Fieber. »Hast du das gehört?« Steller meinte Angst in Fiebers Gesicht zu erkennen.

»Nein.«

»Dann kommt es wohl von hinten.«

Jetzt bekam er auch Angst. Nein, das war falsch. Diesen Punkt hatte er längst überschritten. Panik war der richtige Begriff. »Was kommt von hinten?«

»Ich weiß es nicht, aber wir sollten uns beeilen.«

»Und wenn es doch von vorne kommt?«

Fiebers Augen blitzten auf. »Du hast doch gesagt, dass du nichts gehört hast.«

»Dass ich nichts gehört habe, bedeutet nicht, dass dort nichts ist.«

In diesem Moment rollte ein Schrei durch die Dunkelheit auf sie zu. Sie zogen im Reflex ihre Köpfe ein. »Ich habe es gewusst«, stöhnte Katta. Sie sah übel aus. Demir und Bilal versuchten sie auf dem engen Weg so gut es ging zu stützen. »Aus welcher Richtung kam das jetzt?« Dallas leckte sich hektisch über die Lippen. Seine Haare klebten ihm im Gesicht, als sei er gerade der Dusche entstiegen. Schippe kam angerannt. Er hatte die Nachhut gebildet. Seine Zeichensprache war eindeutig. »Los, lauft«, presste Fieber hervor. Steller rannte los. Während er rannte, zog er seine Pistole und schob die Taschenlampe in eine unter dem Lauf hängende Halterung. Danach zerrte er an dem Tragegurt der MP, zog sie enger an den Körper heran. Er war nie ein guter Läufer gewesen, aber die Angst schob ihn vor sich her. Die Schritte der Gruppe hallten durch das Gewölbe. Es hörte sich an, als sei ihm eine Elefantenherde auf den Fersen. Außer dem Trampeln ihrer Füße war nichts zu hören. Stellers Lungen hatten bereits lange Feuer gefangen, als er die Abzweigung erreichte. Er hob die Pistole und leuchtete kurz in den neuen Gang hinein. Nichts. Ohne zu stoppen, lief er weiter und traf nach fünfzig Metern auf eine Treppe, die er nach oben folgte. Am Ende der Stufen lag eine Art Raum, der die Maße eines kleinen Wohnzimmers hatte. An einer der Wände war eine schwere Eisenleiter verankert. »Schippe, Schwede. Sichert den Eingang. Was immer da kommt, wird niedergeschossen. Verstanden?« Die beiden nickten und Fieber wendete sich an Steller. »Sind wir da?«

»Ja.« Steller zeigte nach oben. »Die Klappe führt nach draußen. Ich hoffe, da ist kein Schloss dran.«

»Schloss? Ich dachte, du kennst dich aus.«

»Bin ich bei den Stadtwerken?«

»Wo kommen wir da raus?«

»Direkt am Theodor-Stern-Kai. Neben dem Fußweg. Direkt gegenüber der Notaufnahme.«

»Und du meinst, die können uns von der Friedensbrücke nicht sehen.«

»Ich hoffe es?«

»Du hoffst ziemlich viel.« Kattas Stimme war nur ein dünnes Pfeifen. Sie hatte es tatsächlich geschafft und Steller musste ihre Zähigkeit bewundern. Er würde gerne ihre Mutter kennenlernen.

Steller versuchte zu grinsen. »Die Hoffnung stirbt zuletzt.«

»Besser die Hoffnung als wir«, sagte Katta.

»Los jetzt.« Fieber war kein gemütlicher Mensch. Steller griff nach den rostigen Streben der Leiter und zog sich hoch. Nach einigen Metern erreichte er eine Plattform. Der Ausgang lag direkt über ihm. Er fand einen Riegel und stellte erleichtert fest, dass er ihn ohne Probleme zur Seite schieben konnte. Vorsichtig drückte er gegen die Metallklappe und spähte durch den sich öffnenden Spalt. In Richtung der Friedensbrücke war die Sicht durch dichtes Buschwerk versperrt. Die Brücke war etwa fünfhundert Meter entfernt. Wenn sich die Infizierten wieder unter ihr versammelt hatten, dann konnten sie die Gruppe weder sehen noch hören. Das war die gute Nachricht. Die schlechte war, dass die Gebäude der Uniklinik auf der anderen Straßenseite lagen und nichts die Sichtlinie unterbrach. Wer immer dort aus einem der unzähligen Fenster blickte, würde sie sofort sehen. Steller öffnete die Klappe weiter und stieg nach draußen, hockte sich neben den Ausgang und half den anderen heraus. Noch vor wenigen Augenblicken war er froh gewesen, diesem fürchterlichen Tunnellabyrinth zu entkommen. Jetzt fühlte er sich nackt und schutzlos, kam sich vor wie eine Ameise auf der weißen Tischdecke. Fieber hockte sich neben ihn. Steller entnahm seinem Gesichtsausdruck, dass es ihm ähnlich ging. »Das ist eine schlechte Position. Wo müssen wir hin?«

»Siehst du die große Abfahrt, die aussieht, als wenn es da in eine Tiefgarage geht?«

»Ja.«

»Das ist die Zufahrt für die Rettungswagen. Wir müssen rechts daran vorbei, zwischen den Gebäuden hindurch. Dann rechts. Nach hundert Metern sind wir da.«

»Dann los.«

Steller musste an die Schlacht von Verdun denken. Man stürmt auf den Feind zu und hat nicht einmal einen Kieselstein als Deckung. Richtig beschissen. Er steckte die Pistole weg und nahm die MP in beide Hände. »Du nimmst die Spitze«, sagte Fieber zu ihm. »Aber nicht zu schnell. Katta schafft es kaum noch.« Nicht zu schnell? Gott sei Dank. In einer lang gezogenen Kette bewegten sie sich im Laufschritt zwischen den Gebäuden der Uni hindurch. Das Gelände machte einen beruhigenden Eindruck. Nichts deutete auf die Katastrophe hin, die die Stadt überrollt hatte. Die unberührten Fenster der Fassaden spiegelten das Sonnenlicht. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Das Bild wurde erst empfindlich gestört, als sie nach rechts abbogen. Dort standen zwei Streifenwagen quer auf der kleinen Straße. Die vorderen Türen standen offen. Steller hob die Hand und verlangsamte seine Schritte. Als er näherkam, sah er hinter einem der Fahrzeuge ein paar Beine auf dem Boden liegen. Der Rest des Körpers war durch das Fahrzeug verdeckt. Er hob die Waffe in die Visierung, ging dabei zügig weiter. Die Beine gehörten zu einer Polizistin. Sie lag auf dem Rücken und schien auf den ersten Blick unverletzt. Dann sah Steller, dass sie kein Gesicht mehr hatte. Haut, Fleisch und Muskeln waren ihr vom Schädelknochen abgetrennt. Er schluckte. Katta stolperte zu der am Boden Liegenden, fiel neben ihr auf die Knie. Für einen Augenblick dachte Steller, dass das Mädchen die Frau wiedererkannt hätte. Woran auch immer. Statt aber in Wehklagen auszubrechen, zog Katta der Leiche die Pistole aus dem Holster. Sie kam wieder auf die Beine. Steller sah, wie Fieber die Aktion beobachtete. Für eine Sekunde hatten Katta und Fieber Blickkontakt. Der Kommandoführer zuckte mit dem Kinn, deutete ein Nicken an. Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Stellers Bild von Fieber war immer noch unscharf. Auf der einen Seite schien er hochgradig gefühlskalt. Das mochte daran liegen, dass er als ehemaliger Angehöriger der Kampfschwimmer die ein oder andere unangenehme Erfahrung gemacht hatte. Vielleicht hatte er schon Geiseln im Kongo befreit oder irgendwo auf der Welt einen See durchschwommen, um einen Staudamm einzunehmen. Wer mochte sagen, wie viele Menschen er bereits getötet hatte. Er war auf ein Ziel fokussiert und das hieß überleben. Der Preis spielte keine Rolle. Auf der anderen Seite erkannte er Leistung an. Vermutlich beeindruckte ihn Kattas Wille und ihre Fähigkeit körperliche Grenzen zu sprengen. Denn, was das bedeutete, wusste er sicher nur zu gut. Dass er ihr erlaubte, die Waffe zu behalten, war ein Zeichen seiner Anerkennung. In seinen Augen hatte sie es sich verdient.

Die Truppe erreichte das vierstöckige Verwaltungsgebäude. Neben der Flügeltür prangte ein weißes Schild, auf dem in roter Schrift 9A stand. Bis jetzt lief ihr Unternehmen fast schon zu reibungsfrei. Fieber fasste Steller an der Schulter. »Jetzt übernehmen wir die Spitze.« Steller blieb stehen. Er war nicht traurig über die Entscheidung. Die SEK-Männer öffneten die Tür und drangen in das Innere des Gebäudes ein, sicherten sich gegenseitig. Katta hing wie eine Schwerverletzte zwischen Demir und Bilal. Jetzt wo sie am Ziel angekommen waren, hatte sie die Kraft verlassen. Steller ging als Letzter, sicherte den Eingang. Durch die Glasscheiben der Tür blickte er nach draußen. Es blieb alles ruhig. Keine Schreie, keine Horden, die hinter ihnen her stürmten. Konnte das sein? Hatten sie ein solches Glück? Das Gebäude war zu achtzig Prozent der Klinikverwaltung vorbehalten. Es war gut möglich, dass sich am Samstagabend kaum jemand hier aufgehalten hatte. Steller sah kurz zu den anderen hinüber. Demir stand vor einer an der Wand aufgehängten Tafel. Er hob die Hand und zeigte mit den Fingern die Zahl Drei an. Dort musste sich die Apotheke befinden. Sie schlichen die Treppe nach oben. Steller bildete die Nachhut, lief halb rückwärts. Auch eine Art der Wertschätzung. Fieber vertraute ihm anscheinend. Der letzte Mann war eine wichtige Position. Nichts war vernichtender als ein Angriff von hinten. Die Spitze der Gruppe hatte die dritte Etage erreicht. Steller stand auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock und sah die Treppe hinab. Es blieb ruhig. Er blickte nach rechts zu einer angelehnten Tür.

Über der Tür hing ein Schild. Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Darunter in kleiner Schrift. Kinderabteilung.

Sein Blick wanderte zurück zur Treppe. Er wollte weitergehen, da löste ein Blitzlicht in seinem Kopf aus. In seinem Kopf hörte er die Stimme des Mordermittlers: »Die kleine Anna? Die ist in der Uni. Sie wird da in der Kinderpsychiatrie untergebracht. Der Herr schütze sie.«

Steller ließ die Waffe sinken. Anna. Sein Herz versuchte, ihm die Rippen zu brechen. Er sah das Gesicht des Mädchens vor sich, als wäre es ein Bild aus frühen Kindheitstagen. Da hatten sie Anna hingebracht. Er betrachtete die angelehnte Tür, legte den Kopf leicht schräg, zögerte. Die anderen waren mittlerweile sicher an der Apotheke angekommen. Da musste er hinterher, er durfte sie nicht verlieren. Außerdem wäre es dumm, alleine in die Station zu gehen. Viel zu gefährlich. Andererseits. Wenn nur die kleinste Chance bestand Anna zu finden, dann musste er um seiner Seele willen nachsehen.

Sollte er die anderen holen? Fieber würde ihn sicher nicht unterstützen. Warum sollte er auch. Es brachte die Gruppe nicht weiter. Im Gegenteil. Ein Kind mitzunehmen gefährdete alle. Steller hoffte inständig, die Station geräumt vorzufinden. Vielleicht hatten sie die Kinder evakuiert. Aber wer sollte das gemacht haben? Die Zeit war viel zu kurz gewesen. Behutsam zog er die Tür der Station auf und trat in den dahinter liegenden Flur. Die Tür schloss sich hinter ihm. Das leise Knarzen der Angeln bohrte Löcher in seinen Schädel. Der Gang vor ihm war dämmrig. Durch einige, einen Spalt weit geöffnete Zimmertüren drang ein wenig Licht. Er umklammerte die Waffe mit beiden Händen, drückte die Armstütze der MP gegen seine Schulter, spähte über die Visierung. Er bemühte sich beim Gehen keine Geräusche zu verursachen. Nach einigen Metern erreichte er eine Zimmertür. Sie war angelehnt. Er stieß sie mit dem Fuß auf und sah in ein Krankenzimmer. Zwei mit grünen Laken bezogene Krankenhausbetten. An der Wand hingen Kinderzeichnungen. Vor einem der Betten stand ordentlich ein Paar Hausschuhe. Stellers Mund trocknete aus. Wie in dieser dreckigen Wohnung am Samstag.

Die haben die Kinder hier weggeschafft. Irgendwie. Er machte einen weiteren Schritt. Ein bekannter Gestank stieg ihm in die Nase. Seine Hoffnung zerplatzte. Es roch nach Tod. Dem Leichengeruch war er schon oft begegnet, hatte sich nie an ihn gewöhnen können.

Das nächste offene Zimmer. Auf dem Boden lag ein kleiner Junge in einer Lache aus eingetrocknetem Blut. Stellers Atmung beschleunigte sich, ihm wurde schwarz vor Augen. Er formte seine Lippen zu einem O, versuchte einen Gegendruck zu seinen pressenden Lungen aufzubauen. Nicht hyperventilieren. »Anna?« Sein dünner Ruf blieb ein Krächzen, er räusperte sich. »Anna!« Steller lief mit schnellen Schritten den Gang entlang. Er durfte nicht zu spät sein. Nicht schon wieder. »Anna.« Er passierte einen in der Wand eingelassenen Glaskasten. Das war der Präsensraum des Personals. Aus den Augenwinkeln sah er, dass ihn jemand anschaute. Er wirbelte herum. Hinter dem Glas saß eine Schwester auf einem Drehstuhl. Ihre Augen waren geöffnet, aber sie konnte nichts mehr sehen. Tot. Die waren alle tot. »Anna!« Er schrie. Rannte jetzt. Öffnete ein Zimmer nach dem anderen. Er fand noch mehr tote Kinder. Anna war nicht dabei.

Schließlich stürmte er in einen größeren Aufenthaltsraum. Auf den Tischen lagen Kartons mit Kinderspielen. An den Fenstern klebten lustige Aufkleber. Er drehte sich im Kreis. »Anna.« Steller flüsterte. Wo war sie? Die Angst ihre Leiche zu finden war gewaltig, aber schlimmer wäre es, sie gar nicht zu finden. Das durfte nicht sein und wenn er die ganze Uni umkrempelte. Vielleicht war sie gar nicht hier gewesen. Vielleicht hatte sie sich zum Zeitpunkt des Angriffs auf einer anderen Station befunden. Möglicherweise zur Untersuchung. Wie sollte er das Kind finden?

Es knackte. Steller wirbelte herum. Fast hätte er blind das Feuer eröffnet. Die Tür eines Wandschranks schwang langsam auf. Im Inneren hockte zusammengefaltet eine junge Frau, zwischen ihren Beinen ein kleines Mädchen. »Anna.« Schlagartig entspannte er sich. Die Erleichterung tröstete seinen Verstand, wusch den Schatten der Angst fort. Völlig unvorbereitet öffnete sich sein Herz. Ein ihm unbekanntes Glücksgefühl formte sich aus der Asche seiner Seele.