11. Generalfeldmarschall
Aila Torbeck
Der Boxer quälte sich die schmale, gewundene Straße in Richtung Fenris hinauf. Torbeck saß neben dem Panzerkommandanten, der auf vier Monitoren Bilder der Außenkameras aufgeschaltet hatte. Nach achtern hinaus sah sie nichts als Schwärze. Links und rechts huschten schemenhaft die Umrisse von Bäumen vorbei, während die Kamera in Fahrtrichtung den von den Frontscheinwerfern grau gefärbten Asphalt zeigte.
Plötzlich wurde die Monotonie unterbrochen. Torbeck erkannte ein Auto vor ihnen, das wie angeschwemmtes Strandgut quer auf der Fahrbahn stand. Die Scheinwerfer strahlten in den Wald. Fahrer- und Beifahrertür standen offen.
Das Fahrzeug war im Weg, sie würden es nicht ohne Lackschaden passieren können. Der Boxer näherte sich mit Schrittgeschwindigkeit. Der Panzerführer schaltete die Kameras in den Infrarotbetrieb und begann die Umgebung abzusuchen. »Ich kann nichts feststellen. Keine Personen. Schieb den Wagen zur Seite.« Der Panzer nahm Fühlung auf. Dann gab der Fahrer Gas und drückte den Wagen in die Büsche. Während der Vorbeifahrt versuchte der Kommandant mit einer der Kameras in das Fahrzeuginnere zu sehen. Torbeck erkannte, dass das Sicherheitsglas der Windschutzscheibe in Spinnennetzform gesplittert war. Ein Unfall? Sie mussten stoppen und Hilfe leisten. Nein, das ging nicht. Der Panzerkommandant würde den Befehl verweigern, ihre Evakuierung durfte nicht gefährdet werden. Sie biss sich auf die Lippe. Um sich lächerlich zu machen, blieb noch genügend Zeit. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf, hingen unbeantwortet im Raum. Sie starrte auf den Frontmonitor und beobachtete, wie das wechselnde Weiß und Schwarz des Mittelstreifens von dem Panzer gefressen wurde. Die Gleichförmigkeit beruhigte sie und bremste die rotierende Gedankenspirale in ihrem Kopf etwas aus.
Nach einigen Minuten bog der Schützenpanzer nach rechts ab. Die Straße, auf der sie sich nun befanden, war eigens für Fenris gebaut worden. Nach zweihundert Metern hielt der Boxer vor einem massiven Stahlgatter. Rundumlichter schalteten sich ein und begannen den Wald stroboskopisch in Gelbtönen zu beleuchten, während sich das Gatter zur Seite schob. Der Diesel heulte auf und die Fahrt wurde fortgesetzt.
Der ehemalige NATO-Bunker war in den letzten Jahren erhebliche erweitert worden. Seine Größe wurde auf 120.000 Quadratmeter verdreifacht. Ursprünglich hatte der Bunker aus zehn Ebenen bestanden, jeweils neunzig Meter lang und vierzig Meter breit. Neben dieser militärischen Grundanlage wurde ein Forschungsbunker in den Berg gesprengt. Er umfasste fünf Ebenen, die in ihrer Größe denen der Hauptbunkeranlage glichen. Getrennt vom Forschungsbunker wurde ein weiterer kleiner Komplex errichtet, bei dem es sich um ein biologisches Hochsicherheitslabor der Stufe 4 handelte. Das Labor war isoliert und nur durch den Forschungsbunker zu erreichen. In ihrer Gesamtausdehnung unterkellert wurde die Anlage durch die Ebene Null. Hier summte ZERBERUS vor sich hin.
Der Boxer war inzwischen am Bunkertor angekommen. Es glitt auf, ließ den Panzer in den Berg fahren und schloss sich direkt hinter ihm wieder. Torbeck stieg aus und wurde durch das Schleusensystem eskortiert. Der Unteroffizier begleitete sie durch die Gänge zum Bunkerleitstand.
In seiner ursprünglichen Form war die Anlage eine triste Einrichtung gewesen. Nackte Betonwände, die Decke kaum zwei Meter hoch, Beleuchtung wie auf einer Baustelle. Torbeck erinnerte sich daran, wie sie im Planungsstab eine psychologische Expertise diskutiert hatten. Fakt war, dass Menschen es in so einem Bunker zwar leicht einige Tage aushielten. Aber nach nur zwei bis drei Wochen war mit den ersten psychologischen Problemen zu rechnen. Dem wollte man entgegenwirken.
Die Decken wurden auf 2,20 Meter erhöht, sodass einem der Berg ein bisschen weniger auf dem Gemüt lastete. Die Wände hatte man mit weißen Platten verkleidet. Jetzt sah es aus wie in einem Krankenhaus, was noch immer nicht schön aber immerhin besser war. Die größte Veränderung war die Installation einer tageszeitabhängigen Beleuchtung. Mittags war sie am hellsten, dimmte dann langsam herunter, bis sie in der Nacht auf ein Minimum reduziert wurde, um am Morgen erneut zu erwachen. Außerdem erzeugten die Lampen UV-Licht, wodurch es möglich war, Pflanzen aufzustellen.
Der Unteroffizier hatte Torbeck wortlos durch die leeren Gänge begleitet. Am Schott zum Leitstand dankte Torbeck ihm und trat ein.
Der Leitstand war ein dreihundert Quadratmeter großer Schuhkarton, der an einen Universitätshörsaal erinnerte. Der Raum fiel in Richtung der mit LED-Monitoren gepflasterten Bildwand schräg ab. Die wichtigsten Arbeitsbereiche lagen in einem Halbkreis um den Kommandantenstand verteilt. An den Leitstand schlossen sich drei weitere Räume an. Die Technikzentrale, in der Mitarbeiter alle Systeme von Fenris überwachten, der Kommandantenraum, in dem sich Torbecks Büro befand und ein NATO-Befehlsraum, der derzeit nicht genutzt wurde und in dem noch die Schutzfolien auf den Terminals klebten. Der NATO-Befehlsraum war Teil einer Ablenkungsstrategie gewesen. Offiziell baute man einen Neutrinodetektor. Auf einer geheimen NATO-Konferenz wurde erklärt, dass sich der Bau der wissenschaftlichen Anlage dazu eignen würde, im Geheimen einen atombombensicheren Befehlsstand zu installieren. Durch die ohnehin gewaltigen Bauarbeiten wäre diese Absicht getarnt. Da die NATO-Partner bereits seit Längerem ein größeres militärisches Engagement Deutschlands einforderten, konnte man mit der Finte gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die wichtigsten Partnerländer wurden über ein Geheimprojekt informierte, das in dieser Form keine Rolle spielte. Das sorgte an der geheimdienstlichen Front für Beruhigung. Eine Inbetriebnahme des NATO-Befehlsraums war nie vorgesehen. Geheimhaltung funktionierte wie Zauberei. Mit doppeltem Boden und Ablenkung des Publikums.
Torbeck sah sich um. Der Bunkerleitstand lag im dämmrigen Rotlicht der Gefechtsbeleuchtung. Die meisten Arbeitsstationen waren besetzt. An der Bildwand leuchteten wiederkehrend die gleichen Wörter auf.
Alarm
Grün, Grün, Alpha
Alarm
Torbecks blick fiel auf Wiegner. Er stand an einem der Arbeitsplätze und redete auf das Personal ein. Als er Torbeck bemerkte, ließ er die Soldaten stehen und hastete zu ihr. Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte er sie umarmt. »Aila. Gott sei Dank!«
Torbeck nickte ihm zu. »Karl? Was ist los? Das ist doch ein Fehlalarm. Karl?«
»Ich befürchte, das ist Ernst. Vor etwa dreißig Minuten wurde Alarm ausgelöst. Dann ist das passiert.« Der Oberst deutete auf die blinkende Bildwand. »Nur mit mehr Dramatik. Die akustische Untermalung haben wir inzwischen ausgeschaltet.«
»Ist das alles?«
»Leider nicht. Das Festnetz ist außer Funktion. Die Mobilfunknetze sind zusammengebrochen. Drei Viertel aller Fernsehsender sind ausgefallen. Auf den restlichen Kanälen laufen Konserven oder Testbilder. Wir haben versucht, eine Verbindung zum BBK herzustellen. Die Satellitenverbindung ist aktiv. Aber es scheint keiner mit uns sprechen zu wollen. Mittlerweile lasse ich es ü̈berall klingeln. Streitkräftebasis, Innenministerium, Inselwache Norderney. Kein Kontakt.«
»Internet?«
»Schwierig. Anscheinend sind viele Server ausgefallen. Da sollte die Forschung mehr wissen.«
»Ist Danielsen da?«
»War der jemals weg? Er war auf dem Leitstand, als der Alarm auslöste, wollte mich etwas fragen, sich beschweren oder was auch immer. Als das Getöse losging, ist er sofort in die Forschung gerannt.«
»Ich nehme an, dass er sich bis jetzt nicht gemeldet hat.«
»So ist es.«
Torbeck deutete in Richtung der Bildschirme. »Kann das bitte mal jemand abschalten?« Die Monitore wurden schwarz. »Erwarten wir noch Zugänge?«, wollte Torbeck wissen.
»Laut System gab es Kontaktversuche zu dreiunddreißig Mitarbeitern. Aber nur drei haben bestätigt. Außer dir noch eine Ärztin und ein Ingenieur. Sie müssten innerhalb der nächsten Stunde eintreffen.« Er machte eine kurze Pause. »Hoffentlich«, setzte er hinzu.
»Die anderen haben nicht reagiert?«
»Nein.«
»Hoher Ausfall.«
»Zu hoch für einen Fehlalarm.«
Torbeck nickte. »Ich möchte, dass du Danielsen kontaktierst. Auch wenn es nicht viel ist, irgendetwas wird er in der Zwischenzeit herausgefunden haben. Ich bin für jede Information dankbar.« Wenn sie etwas hasste, dann war es Stress, dessen Quelle man nicht orten konnte.
»Ist gut.« Wiegner verschwand in den hinteren Bereich des Leitstands. Torbeck legte die Arme auf den Rücken, verschränkte die Finger zu einem Gittermuster. An ein technisches Problem mochte sie nicht mehr glauben. Ein Fehlalarm konnte nicht erklären, warum die Fernmeldenetze und das Internet streikten. Außerdem hatten sich von dreiunddreißig Mitarbeitern nur drei gemeldet. Sicher gab es Fälle, in denen die Angerufenen das Gespräch nicht annahmen. Sie hatten das Satellitentelefon beim Kinoabend zu Hause vergessen oder hörten zu laut Musik. Aber so viele? Das sah schlecht aus. Was war mit Katta? Wie ging es ihr? Torbeck versuchte, den Gedanken an ihre Tochter zu verdrängen, sich vorerst keine Sorgen zu machen. Sorgen würden Katta nicht helfen. Was Torbeck jetzt am allerdringendsten brauchte, waren Informationen.
Wiegner kam zurück, schüttelte nachdenklich den Kopf und murmelte vor sich hin. »Danielsen sagt, wir sollten besser zu ihm kommen. Er sagt, das Haustelefon sei nicht das geeignete Medium.«
»Haustelefon?«
»Das waren seine Worte.«
»Er meint das ComSys?«
»Ja.«
Die Kommunikation in Fenris lief über die ComSys-Terminals, die an jeder Wand hingen und auf den Schreibtischen standen. Außerdem besaß jeder Mitarbeiter ein sogenanntes NanoCom, was im Prinzip nichts weiter als ein voll gummiertes Smartphone war.
»Für solche Spielchen habe ich jetzt keine Zeit«, entgegnete Torbeck unwirsch. Sie wandte sich an einen Unteroffizier. »Sie kontaktieren Professor Danielsen mit höchster Priorität und legen mir das Gespräch in den Kommandantenraum.« Torbeck betrat ihr Büro und aktivierte das ComSys auf ihrem Schreibtisch. Der Flachbildschirm zeigte das Logo von Fenris. Einen stilisierten, mit Ketten gefesselten Wolf. Sie wartete. Schließlich erschien die Mitteilung, dass der geforderte Gesprächsteilnehmer bereit war. Sie berührte den Bildschirm und Danielsens Gesicht erschien auf dem Monitor. »Ich grüße Sie«, sagte der Professor mit irritierender Gemütsruhe. »Was kann ich für Sie tun?«
Torbeck biss sich auf die Zunge, schluckte mit einiger Mühe eine patzige Antwort hinunter. »Was passiert hier gerade? Können Sie mir irgendetwas dazu sagen?«
Sie sah dem Professor an, dass er nach Worten suchte. »Es ist noch zu früh, um eine belastbare Aussage zu treffen.«
»Dann treffen Sie eine ohne Belastung.«
»Das uns vorliegende Informationsmaterial ist komplex und schwierig zu analysieren. Es handelt sich im Wesentlichen um Fernsehbilder und Daten aus dem Internet. Gerade letztere sind kaum zu verifizieren. Im Moment kann ich sagen, dass das Internet instabil ist. Wir stellen weltweit einen signifikanten Abfall der Serverkapazitäten fest.«
»Das heißt, das Internet fällt aus?«
»So ist es. Unter anderem haben wir vor wenigen Minuten das TAT-14-Kabel verloren.«
»Was ist das?«
»Das ist eine Interkontinentalverbindung nach Nordamerika. Eine Glasfaserleitung.«
»Wie kann das ausfallen?«
»Da gibt es einen ganzen Strauß von Möglichkeiten. Aber ich müsste raten. Es ist noch zu... «
»Dann lehnen Sie sich bitte mal aus dem Fenster.«
Der Professor zog ein unglückliches Gesicht. »Vermutlich haben wir es mit einem intersektoriellen Kaskadeneffekt zu tun.«
»Mit was bitte?«
»Ich muss gestehen, dass ich bis vor Kurzem selber nicht wusste, was darunter zu verstehen ist. Ein Ingenieur hat es mir erklärt. Bei großen Spannungsschwankungen können sich Relaisstationen und Kraftwerke vom Stromnetz trennen, um Schäden zu vermeiden. Dies löst gleichzeitig weitere Schwankungen aus, die sich wie Wellen durch das Land bewegen und bei anderen funktionswichtigen Anlagen die Abschaltung erzwingen. Da die Stromnetze länderübergreifend verbunden sind, kann sich ein solcher Blackout theoretisch über ganz Europa ausbreiten.«
»Worauf basiert die Annahme, dass es diesen Blackout gibt?«
»Auf den Serverausfällen. Wenn man die jeweiligen Serverstandorte und den Zeitpunkt des Ausfalls betrachtet, dann kann man der Kaskade folgen.«
»Wie großräumig ist der Stromausfall?«
»Ich habe gerade gesagt, dass ein solcher Blackout theoretisch ganz Europa erfassen kann. Das war ungeschickt formuliert. Tatsächlich hat er ganz Europa erfasst.«
»Den gesamten Kontinent?«
»Es gibt Bereiche, die bis jetzt nicht betroffen sind. In Deutschland liegen sie hauptsächlich in Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Das kann sich jede Minute ändern.«
»Unsere gesamte Kommunikation ist weg. Haben Serverparks und Kommunikationseinrichtungen keine Notstromversorgung?«
»Einige Serverstandorte haben das. Aber die können keinen Totalausfall der Stromversorgung im gesamten Land kompensieren. Beim Mobilfunk ist es noch viel dramatischer. Die Netze sind wesentlich fragiler als das Internet. Keine Chance.«
Ein gigantischer Stromausfall. Katta war in Frankfurt. »Gibt es in Frankfurt Strom? Sie sagten, Hessen sei nicht betroffen.«
»Was?« Die Frage brachte Danielsen aus dem Konzept. »Wieso Frankfurt?«
»Hat Frankfurt noch Strom?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Richtig ist, dass Hessen nur zum Teil betroffen ist. Wie die Stromversorgung in Frankfurt aussieht, weiß ich nicht.«
Katta ohne Strom in einer Großstadt. Ein unerträglicher Gedanke. Sie hätte das Kind niemals alleine fahren lassen dürfen. »Also ein gigantischer Blackout. Das haben Sie alles seit dem Alarm herausgefunden?«
»Nein. Die Serverausfälle sind uns bereits am späten Nachmittag aufgefallen. Begonnen hat es in Asien, dann Nordamerika.«
»Die ganze Welt leidet unter einem Blackout?« Langsam kam Torbeck nicht mehr mit.
»Es sind mehrere. Sie traten allerdings mit nur wenigen Stunden Verzögerung auf. Darum erwecken sie den Eindruck, dass es sich um einen einzigen handelt.«
»Auf der ganzen Welt fällt der Strom aus. Warum?« Wie war das am Flughafen gewesen? Dort waren eine Menge Flüge ausgefallen. Hing das alles zusammen? Ohne dem Professor eine Chance zum Antworten zu geben, redete sie weiter. »Dass wir eine Staatsnotstandslage haben, begreife ich. Es erklärt aber nicht, warum biologischer Alarm ausgelöst wurde.«
»Nein, das tut es nicht.« Danielsen strich sich über seinen langen Vollbart. »Der Stromausfall ist ein peripheres Phänomen, welches kausal mit dem primären Schadensereignis verknüpft ist.«
»Professor?«
»Wir haben es vermutlich mit einem schweren Pandemiefall zu tun. Einem sehr schweren. Weltweit. Ich kann Ihnen in diesem Moment nur raten, dass Sie diesen Alarm ernst nehmen. Der Blackout, den wir gerade erleben, hat bereits für sich genommen eine hohe systemische Kritikalität und kann sich binnen vierundzwanzig Stunden zu einer nationalen Katastrophe entwickeln. Aber zusammen mit dieser Pandemie...« Er schüttelte den Kopf.
»Eine Pandemie?«
»Ich kann Ihnen ...«
»Ist die Pandemie für den Blackout verantwortlich?«
»Indirekt ist die Pandemie dafür verantwortlich. Die Krankheit breitet sich so schnell aus, dass ganze Industriekomplexe überall auf der Welt unerwartet den Betrieb eingestellt haben. Durch den plötzlichen Wegfall von leistungsstarken Verbrauchern kam es zu Überkapazitäten, die die Netze nicht kompensieren konnten. Aber das ist nur eine Hypothese.«
»Professor. Es ist mir egal, wie wenig gesichert Ihre Informationen sind. Meine Tochter ist da draußen. Sagen Sie mir jetzt, was Sie wissen. Sofort.«
Danielsen runzelte die Stirn. »Das tut mir leid. Aufrichtig leid. Aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Bitte gedulden Sie sich. Wir alle haben Angehörige, die sich nicht in Sicherheit befinden. Wir alle. Ich muss zurück an meine Arbeit. Sobald ich Näheres weiß, melde ich mich bei Ihnen.« Der Bildschirm wurde schwarz. Danielsen hatte das Gespräch beendet. Torbeck fühlte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht schoss. Das sollte ihr kein zweites Mal passieren. Sie war nicht die Einzige, die Angst um ihr Kind hatte. In diesem Punkt hatte der Professor absolut recht. Als Leiterin der Anlage durfte sie keine Schwäche zeigen, ihre eigene Autorität nicht untergraben. Sie straffte die Schultern, atmete tief durch.
Als sie damals als Kommandantin von Fenris eingesetzt wurde, hatte man ihr gesagt, dass sie aus Sicherheitsgründen erst sehr spät den eigentlichen Auftrag der Anlage erfahren würde. Zwischenzeitlich hatte sie sogar glaubte, dass es niemanden gab, der wusste, warum man die Anlage überhaupt baute. Als sich herauskristallisierte, dass in Fenris ein riesiges biologisches Forschungslabor entstand, begann sie, sich ein wenig mit theoretischer Biologie zu beschäftigen.
Danielsen hatte von einer schweren Pandemie gesprochen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass das eine Untertreibung war. Selbst die schlimmste Seuche verbreitete sich nicht in einem solchen Tempo. Um die Verbreitungsgeschwindigkeit einer Krankheit abschätzen zu können, behalf sich die Epidemiologie mit einem semi-realistischen Ansatz. Das sogenannte SIS-Modell bestand aus einem Haufen von logistischen Differenzialgleichungen, die Torbeck nicht verstand. Was sie begriffen hatte, war die Tatsache, dass sich eine Infektion nicht innerhalb von einigen Stunden weltweit verbreitete. Das dauerte mindestens Wochen. Eher Monate. Davon las man in der Zeitung, man sah es im Fernsehen auf sich zu rollen. Möglicherweise ließ die Pandemie sich nicht aufhalten, aber die Bevölkerung konnte gewarnt werden. Was um alles in der Welt war also los?
Ein sanfter Dreiklang schreckte sie aus ihren Überlegungen. Sie drückte einen Knopf an dem ComSys und schaute auf den Bildschirm. Wiegner stand vor der Tür. Torbeck öffnete.
»Und?«, fragte er beim Eintreten.
Torbeck berichtete ihrem Vertreter von dem weltweiten Stromausfall.
Der Oberst pfiff durch die Zähne. »Dann brauchen wir uns um die Kommunikation keine Gedanken mehr zu machen. Jetzt funktionieren nur noch die Satellitentelefone.« Er hielt kurz inne, sprach weiter. »Das erklärt einiges, aber nicht warum biologischer Alarm ausgelöst wurde.«
»Meine Worte. Viel habe ich nicht herausgefunden. Danielsen gibt sich verstockt. Das Einzige, was ich ihm entlocken konnte, war, dass wir es vermutlich mit einem Pandemiefall zu tun haben. Um genauer zu werden, braucht die Forschung Zeit.«
»Pandemie?« Wiegner zog die Augenbrauen hoch. »Gestern hatten wir noch keine Pandemie, soweit ich mich erinnern kann.«
»Ich weiß nicht mehr als du. Uns wird nichts anderes übrig bleiben als zu warten.«
»Stromausfall? Pandemie? Vielleicht will ich Näheres gar nicht wissen.« Wiegner grinste schief. »Damit das Warten nicht zu langweilig wird, habe ich eine Überraschung vorbereitet.«
Torbeck sah Wiegner prüfend an. Er redete wie immer, sah aber schlecht aus. Bleiches Gesicht, Schweiß auf der Stirn. »Geht es dir nicht gut?«
»Alles in Ordnung. Möchtest du jetzt die Überraschung haben oder nicht?«
»Ich liebe Überraschungen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.
Wiegner führte Torbeck in den NATO-Befehlsstand. Die Abdeckungen der Computer waren entfernt worden. An einem der Arbeitsplätze saß ein dicker Mann in Uniform. Das war Oberstabsfeldwebel Theißen. Er grüßte die beiden Offiziere. Der Oberst ging zum Hauptterminal, gab einen Befehl ein. Die Bildschirme erwachten zum Leben und zeigten das NATO-Symbol. »Ich gestehe, dass ich das Handbuch bisher nicht gelesen habe«, sagte Wiegner. »Ich dachte, das hätte Zeit. Aber zum Glück gibt es Theißen. Der hat es gelesen.«
Torbeck nickte Theißen zu, der sich aus dem Stuhl gequält hatte und an sie herangetreten war.
»Das ist CRONOS«, sagte Wiegner. »Stabi, geben Sie uns bitte einen kurzen Abriss.«
Torbeck wusste, dass Theißen von einigen aufgrund seiner sperrigen Dienstgradbezeichnung Stabi genannt wurde. Sie ließ das bleiben. Dafür kannte sie den Mann zu wenig. Es sich ohne Not mit einem hochrangigen Unteroffizier zu verscherzen war auch für einen Generalmajor keine kluge Idee. Man musste sich immer bewusst machen, dass es die verschiedensten Formen von Macht gab.
Theißen war ein gemütlicher Mann mit Biertrinkergesicht. Die Uniform spannte sich wie ein Neoprenanzug über seinen Kugelbauch. Mit seiner Optik punktete er nicht, war aber als Chef der militärischen Technik ein ausgemachter Fachmann. Er begann seinen Vortrag. »Wir haben Zugang zu zwei Systemen. Dem NATO-Fü̈hrungssystem CRONOS und dem Bundeswehr-Verbundsystem ADLER. Ich nehme an, die Systeme sind Ihnen grundsätzlich bekannt.«
Wiegner nickte. Torbeck zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass es sie gibt. Abgesehen davon fehlt mir jedes Detailwissen.«
»Kein Problem. CRONOS steht für Crisis Response Operations in NATO Operating Systems. Das System stellt gesicherte Verbindungen zwischen den Führungsorganen der NATO untereinander und zu den unterstellten militärischen Verbänden her. Die kleinste militärische Einheit mit CRONOS-Verbindung ist das Regiment.«
Torbeck erinnerte sich vage. Ähnlich wie Wiegner hatte sie geglaubt, dass sie noch genügend Zeit hätte, um sich mit den Feinheiten vertraut zu machen. Ein Irrtum. Jetzt bekam sie einen Crashkurs. Theißen redete weiter. Torbeck fiel seine angenehme Sprechstimme auf. Ein Mann, in den man sich am Telefon verlieben konnte, um beim ersten Date die Flucht zu ergreifen. »Die Kommandostruktur der NATO besitzt in Europa drei Führungsebenen. Ganz oben auf der strategischen Ebene haben wir das ACO, das Allied Command Operations. Dem ACO sind auf der operativen Ebene die Joint Force Commands, JFCs, in Brunssum und Neapel unterstellt. Diese wiederum führen auf der taktischen Ebene das Maritime Command kurz MARCOM, das Air Command kurz AIRCOM und das Land Command kurz LANDCOM. Fenris ist als Reserve-Führungsbunker für das LANDCOM ausgelegt. Theoretisch können wir alle Funktionen übernehmen. Die Technik gibt das her. Natürlich hätten wir derzeit nicht das Personal dafür.«
»Aber wir haben die Möglichkeit, uns in CRONOS einzuloggen und Verbindung mit der NATO-Führung aufzunehmen«, folgerte Torbeck.
»Richtig.« Theißen lächelte. »Das Kommunikationssystem ist für Kriegsbedingungen konzipiert und äußerst stabil.«
»Sehr schön. Vielleicht erfahren wir dann endlich, was los ist.«
»Ich habe noch eine zweite gute Nachricht«, sagte Theißen.
»Nur her damit.«
»Das ADLER-System gestattet vollen Zugriff auf alle taktischen Fernwaffen der Bundeswehr.«
»Was denn für Fernwaffen?«
»Das ist mir zugegebenermaßen auch nicht völlig klar. Es handelt sich um ein neues System, das sich noch in der Versuchsphase befindet. Sozusagen im Beta-Test. Ich muss mich da erst einarbeiten. Aber eins kann ich jetzt schon sagen. Wir können mit ADLER unsere Drohne einsetzen.«
»Wir haben eine Drohne?« Torbeck sah Wiegner an. Der zuckte mit den Achseln.
»Eine israelische Heron III«, sagte der Oberstabsfeldwebel.
Torbeck schüttelte den Kopf. »Ich habe immer mehr das Gefühl, dass ich am wenigsten über meine eigene Anlage weiß. Was kann das gute Stück?«
»Sie dient im Wesentlichen der optischen Aufklärung, besitzt aber auch Fähigkeiten zur elektronischen Überwachung.«
Eine Drohne also. Warum nicht?
»Gut. Fangen wir mit dem NATO-Computer an«, entschied Torbeck. Theißen machte den Terminal frei, als Torbeck herantrat.
»Wenn der Kommandierende seinen NATO-Code und den Status der Anlage eingibt, sortiert uns der NATO-Zentralrechner in die Befehlshierarchie ein. Meldet ein Hauptquartier einen Ausfall, wird die Befehlsgewalt entsprechend delegiert. Dabei wird nicht nur die Ausstattung und die Sicherheit der Anlage, sondern auch der Rang des kommandierenden Offiziers berücksichtigt und ins Verhältnis gesetzt«, dozierte Theißen.
»Ich wusste nicht, dass die Systeme einsatzfähig sind. Ich dachte, das würde noch Monate dauern«, sagte Torbeck.
»So war es vorgesehen. Aber bei Fenris wurde ja bei fast allem ein besonders hoher Druck aufgebaut.«
Das konnte Torbeck bestätigen. Fenris war als gewaltige Terminsache aus dem Berg gekratzt worden. Sie setzte sich an den Hauptterminal, gab ihren Namen und Code ein. Auf dem Bildschirm las sie Folgendes:
Aila Torbeck
Rang/Rank: OF-7
Standort/Location: FENRIS
Leiter/Command FENRIS: A. Torbeck
Status FENRIS: voll einsatzbereit/fully operational
Please wait ...
Bitte warten ...
Land Command (LANDCOM)
Assume command. Confirm!
Kommandoübernahme. Bestätigen!
Keiner sagte etwas. Theißen sah Torbeck an. Die nickte nur. Er gab einen kurzen Befehl ein.
Please wait ...
Bitte warten ...
Air Command (AIRCOM)
Assume command. Confirm!
Kommandoübernahme. Bestätigen!
»Bestätigen Sie«, sagte Torbeck, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
Please wait ...
Bitte warten ...
Maritime Command (MARCOM)
Assume command. Confirm!
Kommandoübernahme. Bestätigen!
Der Computer gab einen Moment Ruhe. Dann ging es weiter.
Joint Force Command Naples (JFC Naples)
Assume command. Confirm!
Kommandoübernahme. Bestätigen!
Joint Force Command Brunssum (JFC Brunssum)
Assume command. Confirm!
Kommandoübernahme. Bestätigen!
Torbeck musste sich setzen. Auch Wiegner nahm sich einen Stuhl.
Please wait ...
Bitte warten ...
Allied Command Operations (ACO)
Assume command. Confirm!
Kommandoübernahme. Bestätigen!
Längere Zeit saßen die drei unbewegt da und starrten auf den Monitor. Dann wandte sich Wiegner an Torbeck. »Herzlichen Glückwunsch, Frau Generalfeldmarschall.«