51. Taurus
Aila Torbeck
Es war windstill. Die Ostsee war ein am Boden liegender Spiegel, der sich bis zum Horizont erstreckte. Das Licht des aufgehenden Mondes wurde vom Wasser reflektiert und beleuchtete die Welt indirekt. Der Marinestützpunkt Kranzfelder-Hafen in der Eckernförder Bucht wirkte wie eine fehlgeplante chinesische Trabantenstadt, in die niemals ein Mensch seinen Fuß setzen würde. Nur an wenigen Stellen schimmerten durch die Notstromversorgung betriebene Laternen zwischen den Baracken. Die mitten am Tag einsetzende Nacht hatte die Natur verwirrt. Kein Geräusch war zu hören. Selbst die immer schreienden Möwen hatten sich irritiert zurückgezogen und verharrten still auf ihren Brutplätzen. Mittlerweile war es Abend geworden und aus der unnatürlichen Dunkelheit war übergangslos eine natürliche geworden. Am Pier 5 lag vertäut ein brandneues U-Boot der Klasse 216 und wartete nach erfolgtem Testbetrieb auf seine Indienststellung. Die kaum wahrnehmbare Bewegung des Meeres hob und senkte den Rumpf zentimeterweise. In der Stille knarrten die Trossen, mit denen das Boot am Pier befestigt war. Tief im Bauch des Bootes versorgten Brennstoffzellen die Elektronik mit Strom. Auf der Brücke blinkten verlassene Kontrollen, die anzeigten, dass das U-Boot betriebsbereit war. So hätte das Unterseeboot Jahre vor sich hinrosten können, bis es irgendwann leckgeschlagen auf den Boden des Hafens gesunken wäre. Aber das Schicksal verfolgte andere Pläne. Auf der Brücke erwachte ein Monitor zum Leben. Eine blinkende Schrift erklärte, dass das Boot ab jetzt unter dem System ADLER ferngelenkt wurde. Da in dem Logcomputer kein Kommandant eingetragen war, verlief die Übergabe der Bordsysteme reibungslos. Kontrollleuchten begannen zu blinken. Bildschirme schalteten sich ein. Nach zehn Minuten rollte ein Dröhnen durch den Bootskörper. Am Bug des U-Boots schoben sich sechs Luken auf, aus denen weißer Qualm nach oben stieg. Nach kurzer Zeit war der Qualm verflogen und es schien, dass das Spektakel damit sein vorzeitiges Ende gefunden hätte. Dann fauchte es aus dem Bootskörper und nacheinander jagten sechs Taurus-Marschflugkörper senkrecht in den Himmel. Innerhalb von Sekunden waren sie außer Sicht. Die Luken schlossen sich und das Boot lag wieder still an seinem Pier.
Die Marschflugkörper hatten ihren Auftrag erhalten. Da sie kein GPS-Signal empfangen konnten, musste die Geländereferenznavigation die Steuerung übernehmen. Ihr Bodenradar tastete unentwegt die Landschaft unter ihnen ab und verglich die Daten mit den gespeicherten Geländekarten. Die Waffensysteme korrigierten ihre Flughöhe auf weniger als einhundert Meter und flogen mit knapper Schallgeschwindigkeit in Richtung Süden.
***
Nachdem Torbeck realisiert hatte, was sie Wiegner und den anderen in der Forschungsabteilung angetan hatte, erlitt sie einen Schwächeanfall. Das war neutral ausgedrückt. Der Begriff Nervenzusammenbruch traf es besser. Ihr 1. WO brachte sie in ihren Raum und ließ ihr eine Tasse Kaffee bringen. Nicht, dass sie nicht schon genügend Koffein im Körper gehabt hätte. Sie trank ihn trotzdem. »Sie sind vom MAD«, stellte Torbeck fest.
»Es tut mir leid, dass ich Sie nicht einweihen durfte«, sagte Gärtner.
»Nun, das bringt Ihre Aufgabe so mit sich. Mir war natürlich klar, dass der militärische Geheimdienst in der Anlage vertreten sein musste. Aber ich muss gestehen, jetzt kommt es doch irgendwie überraschend. Was ist geschehen?«
»Vor einigen Wochen bekamen wir einen Hinweis, dass ein Anschlag auf die Anlage geplant sei.«
»Da war die Anlage der Öffentlichkeit aber noch gar nicht bekannt.«
»Das machte die Sache um so brisanter.«
»Hat das was mit dem Virus zu tun?«
»Nein. Die Anlage als solche ist vielen ein Dorn im Auge. Diese Menschen müssen nichts über MCHI wissen, sie machen sich ihre eigenen Gedanken. Es gibt politische, militärische oder religiöse Gründe. Am Ende führen sie in letzter Konsequenz zum gleichen Ziel.«
»Die Anlage zu zerstören.«
»So ist es.«
»Man kann die Anlage aber nur von innen zerstören.«
»Das stimmt. Das war einerseits unsere größte Hoffnung, weil es die Zahl der Verdächtigen begrenzte. Wir wussten, wo wir suchen mussten. Andererseits war es aber auch unsere größte Sorge. Jemand, der die Anlage von innen angreifen kann, ist ein gefährlicher Gegner, weil er über großes Wissen verfügt. «
»Warum konnten Sie Kranz nicht früher als Terroristin identifizieren?«
»Sagen Sie es mir. Hätten wir früher von dem angeblichen Selbstmord erfahren, dann hätten die Chancen besser gestanden.«
Mittlerweile wusste Torbeck, dass Aufnahmen von Überwachungskameras belegten, dass Kranz etwa zwanzig Minuten lang in Frida Hanks Unterkunft gewesen war. Und zwar zum geschätzten Zeitpunkt ihres Todes. Kranz hatte der Toten die Zugangskarte für das S4-Labor abgenommen und sich dort eingeschleust. Dann hatte sie den infizierten Soldaten befreit und sich infizieren lassen. Den Rest hatte Torbeck selber miterlebt. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Ich weiß. Das war alles zu viel. Ich hätte sofort veranlassen müssen, dass die Zugangskarte gesperrt wird.«
Gärtner legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sie konnten das nicht ahnen. Ich hätte mich Ihnen früher offenbaren sollen. Wenn überhaupt, dann tragen wir beide die Schuld daran.«
»Wie ist es möglich, dass eine religiöse Terroristin die Sicherheitsfreigabe für Fenris erhalten hat?«
»Der MAD ist genauso fähig oder unfähig wie andere Geheimdienste auch. Es geschehen Fehler. Ich persönlich vermute, dass Kranz sich erst radikalisiert hat, als sie schon in Fenris arbeitete.«
Torbeck nickte. Sie atmete aus. »Genug gejammert. Wir müssen den Status der Anlage feststellen. Der Ausbruch des Virus sollte auf die Forschungsabteilung beschränkt sein. Wir müssen die Schließsysteme der Türen wieder unter Kontrolle bringen und unsere Leute befreien. Wie hat sie das nur hinbekommen?«
»Sie muss Hilfe von außen gehabt haben. Kranz hat die Informationen gesammelt. Als Psychologin der Anlage hatte sie dazu alle Möglichkeiten. Irgendjemand hat ihr dann ein Programm geschrieben und ihr erklärt, wie sie damit das System angreifen kann. Anders hätte sie nicht dafür sorgen können, dass sich die Schleusen zum S4-Labor nicht wieder schließen.« Er machte eine kurze Pause. »Ruhen Sie sich etwas aus. Ich kümmere mich darum. Falls ich etwas Neues erfahre, benachrichtige ich Sie.« Gärtner wandte sich zum Gehen.
»Eine Frage habe ich noch.« Der Hauptmann blieb stehen. »Warum habe Sie nichts gesagt? Ich meine, als ich versucht habe meiner Tochter zu helfen.«
»Sie haben sich die Antwort selber gegeben. Weil Sie versucht haben Ihrer Tochter zu helfen. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.«
»Danke.« Torbeck sah Gärtner nach, als er ihren Raum verließ. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich ausruhen. Das wäre herrlich. Sich einfach hinlegen und schlafen. Aber sie hatte anderes zu tun.
Torbeck stand da und sah auf einen großen Bildschirm, der eine Deutschlandkarte zeigte. Sechs Dreiecke blinkten über Schleswig-Holstein und bewegten sich ruckend auf Hamburg zu. Als sie in den NATO-Befehlsraum gekommen war, hatte sie Theißen über den aktuellen Stand der Dinge informiert. Der hatte gelassen reagiert und nur gefragt, ob er helfen könne. Das hatte Torbeck verneint. Stumm hatte er sich wieder seinen Kontrollen gewidmet und weitergearbeitet. Warum tat er das für sie? Katta zu helfen war weder seine Aufgabe, noch half es der Anlage. Vielleicht dachte er, dass es gut für die Kommandantin sei. Und was gut für die Kommandantin war, das half auch indirekt allen anderen.
»Ich dachte, die Kommunikation sei ausgefallen. Wie haben Sie das hinbekommen?«, fragte sie Theißen.
»Das ist der Segen der alten Technik. Die großen militärischen Anlagen verfügen über ein analoges Sondernetz. Analoge Telefonnetze arbeiten mit Niederspannung, die durch die Telefone erzeugt wird. Man benötigt keine externe Stromquelle. Dadurch konnten wir Kontakt zu dem Marinestützpunkt herstellen. Glück hatten wir insoweit, dass die Notstromversorgung im Hafen noch intakt ist. Ansonsten hätten wir keinen Zugriff auf das U-Boot gehabt.«
»Wir können die Waffensysteme von U-Booten tatsächlich fernsteuern?«
Theißen nickte. »Das System ADLER diente ursprünglich dazu, Angriffsziele für die Artillerie an verbündete Truppen weiterzuleiten. Versuchsweise wurde es so weiterentwickelt, dass Lenkwaffen ferngesteuert werden können. Ziel ist es, autarke Waffensysteme zu entwickeln. Denkbar sind zum Beispiel Flugabwehrsysteme, die unbemannt in unzugänglichen Regionen eingerichtet werden. Im Gebirge oder als schwimmende Plattform im Nordpolarmeer.«
»Es scheint zu funktionieren. Die Satelliten sind down. Wie lenken wir die Waffen ins Ziel?«
»Momentan nutzen sie ihre Geländeerkennung. Später werden wir die Drohne als Zielhilfe verwenden.«
»Und was machen wir jetzt damit?«
»Wir haben drei Taurus KEPD-350. Dabei handelt es sich um Gefechtsköpfe zur Bekämpfung von harten Zielen. Mit den KEPDs bekämpfen wir das gelandete Objekt. Die drei anderen Raketen haben Gefechtsköpfe mit Splittermunition.«
»Splittermunition? Die Bundeswehr benutzt keine Splittermunition.«
Theißen zuckte mit den Achseln. »Vielleicht
sollten sie getestet werden. Dass wir sie nicht benutzen, bedeutet
nicht, dass wir sie nicht verkaufen. Jedenfalls werden wir die drei
Marschflugkörper rund um das Hauptgebäude der Farm zum Einschlag
bringen.«
»Mit der Hoffnung, dass die Gruppe im Haus verschont bleibt.«
Torbeck zögerte kurz. »Wenn sie noch leben.«
»Das müssen wir hoffen.«
»Marschflugkörper mit Splittermunition sind aber nicht für chirurgische Eingriffe konzipiert. Das Risiko ist ziemlich groß.«
»Wir haben keine Wahl. Gehen wir davon aus, dass sie sich in dem Gebäude versteckt haben. Falls das nicht so ist, können wir leider nichts für sie tun. Der Plan ist, dass wir alles umhauen, was sich im Umfeld des Haupthauses aufhält.«
»Und wenn das gelingt?«
»Dann müssen sie die Beine in die Hand nehmen.«
»Das bedeutet aber, dass die Raketen möglichst nah detonieren müssen.«
»Das ist richtig. Wenn die Raketen zu weit entfernt von dem Gebäude einschlagen, wird es nichts nutzen.«
»Wenn es zu dicht ist, sind sie tot.«
»So ist es.«
»Wir müssten sie irgendwie warnen. Dann können sie wenigstens die Köpfe einziehen.«
»Vielleicht haben wir eine Möglichkeit. Der Flug der Marschflugkörper, mit denen wir die Bodenziele bekämpfen wollen, kann verzögert werden. Wir lassen sie einen Bogen fliegen. Dann schlagen die anderen drei zunächst in das Objekt ein. Das Gebilde steht kaum drei Kilometer entfernt. Das sollten sie mitbekommen. Wenn sie die richtigen Schlüsse ziehen, gehen sie vielleicht in Deckung.«
»Besser als nichts. Machen Sie es so.« Torbeck sah zu, wie Theißen und der andere Soldat die entsprechenden Kommandos eingaben. »Glauben Sie, dass die Raketen etwas ausrichten werden? Ehrlich gesagt, kann ich mir das nicht vorstellen.«
»Falls nicht, brauchen wir keine weiteren Bemühungen mehr zu unternehmen.«
Das war richtig. Auch wenn es eine wenig feinfühlige Feststellung war. Sie hatten ohnehin keine Optionen mehr. Mit Abschluss dieses Angriffs hatten sie ihr Pulver verschossen. Torbeck wusste nicht einmal, ob sie noch die Kontrolle über die Anlage besaß. Die gesamte Kommunikation, die Schließsysteme der Türen und ein Teil der Kameras zeigten Fehlfunktionen. Gärtner bemühte sich, die Systeme wieder in den Griff zu bekommen. Es war von ausschlaggebender Bedeutung, die Kommunikation in der Anlage wieder herzustellen. Davor fürchtete sie sich. Karl saß in der Quarantänestation fest. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm erklären sollte, dass sie ihn verschüttet hatte. Natürlich hatte es handfeste Gründe für ihr Handeln gegeben. Das machte es jedoch nicht leichter. Es war erstaunlich. Ihre Tochter wurde von einer Horde Zombies bedrängt, lebte vielleicht schon gar nicht mehr. Sie selber hatte einen Hubschrauber abgeschossen, Jagdflugzeuge bekämpft und ihren besten Freund sowie Dutzende anderer lebendig begraben. Und das waren nur die Highlights. Hätte man ihr das vor wenigen Tagen vorausgesagt, dann wäre sie sicher zu dem Schluss gekommen, dass sie schon nach der Hälfte der Ereignisse in sich zusammengebrochen wäre. Aber das hatte sie nicht getan. Sie war immer noch da.