17. Menschenfreund

 

Markus Steller

 

Die Männer verteilten sich auf dem Dach und beobachteten die Umgebung. Auch nach einer halben Stunde war nicht die geringste Bewegung auszumachen. Die Sonne kletterte langsam zwischen den Hochhäusern hindurch in den Himmel.

Ein Knall drückte Steller die Luft aus den Lungen. Er zuckte zusammen. Das Echo der Explosion lief zwischen den Gebäuden hin und her. Auf der Hauptwache stieg ein verschreckter Schwarm Vögel auf. Die Tiere hatten zwischen dem Unrat nach Futter gesucht.

»Was war das?« Dallas war quer über das Dach zu ihnen gelaufen. Seine Augen waren vor Schreck geweitet.

»Ich denke, das war eine Gasexplosion«, sagte Fieber. »Vermutlich ist in der Nähe ein Wohnhaus in die Luft geflogen.«

»Ich will hier weg.«

»Geh wieder auf deine Position.«

»Scheiße.« Dallas stand auf und verließ sie kopfschüttelnd.

In Stellers Magen hatte sich ein unangenehmer Kloß gebildet, der versuchte, sich seinen Weg durch die Speiseröhre nach oben zu bahnen. Er konzentrierte sich. Das war nicht der Moment, um sich zu übergeben. Sie beobachteten weiter. Nach einer Weile kehrten die Vögel zurück. Die fraßen sicher nicht nur das Popcorn. Wieder ruckte es in Stellers Magen.

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Fieber.

»Was?« Steller war froh, aus seinen Gedanken gerissen zu werden.

»Wo sind die Irren?«

»Vielleicht sind alle tot. Die Infizierten töten die Gesunden und sterben dann selber. Wenn es sich denn um eine Krankheit handelt«, sagte Steller.

»Wunschdenken. Willst du dich darauf verlassen?«

»Nein.«

»Wir brauchen einen Plan.« Fieber sah Steller an.

»Okay. Ich ...«

Am Ende des Daches wurde geschrien. Das war Schippe. »Und was sollen wir jetzt machen?«, brüllte der SEK Mann, stampfte ziellos umher und gestikulierte dabei wild mit den Armen. Lauthals brabbelte er vor sich hin. Steller verstand kein Wort. »Mann. Reg dich ab.« Der Rest der Gruppe versuchte ihn zu beruhigen, hielt dabei respektvollen Abstand. Steller zog langsam seine Pistole und hielt sie hinter seinem Rücken verborgen. War es jetzt so weit? Die gestrige Nacht hatte gezeigt, dass man nicht zögern durfte. Bloß nicht den richtigen Moment verpassen.

Wolf ging auf Schippe zu und hob beide Hände in einer beschwichtigenden Geste nach oben. »Junge. Jetzt beruhige dich.« Schippe gab einen bellenden Laut von sich. Ohne Vorwarnung machte er einen Hechtsprung nach vorne und riss Wolf von den Beinen. Ineinander verwickelt schlugen sie auf dem Boden auf.

»Trennt die beiden!«, schrie Fieber.

Flu und Schwede griffen Schippe unter die Arme, zerrten ihn von Wolf herunter und schleuderten ihn nach hinten. Auf dem Rücken liegend rutschte er über den Kies und zog dabei eine Spur wie ein notlandendes Flugzeug.

Fieber hatte die Pistole gezogen, zielte auf seinen Kollegen. Irgendjemand schrie. »Schieß. Mann, du musst schießen.«

Schippe riss die Augen auf. »Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich bin okay. Wirklich. Mir geht es gut.«

»Es ist nicht der richtige Moment für solche Aussetzer.« Fieber ließ die Waffe sinken. »Ich hoffe, das ist dir klar.«

Schippe nickte und rappelte sich auf. »Es tut mir leid. Ich habe die Nerven verloren.«

Die Situation beruhigte sich. Steller steckte die Automatik wieder weg. Seine Halsschlagader pochte. Fieber kam zu ihm zurück. Jetzt war der Moment gekommen, einen Masterplan aus dem Ärmel zu zaubern. Ohne auf eine Frage zu warten, sagte er: »Wir können versuchen, uns zu einer Nebendienststelle der Fahndung durchzuschlagen.«

»Was finden wir dort?«

»Waffen, Munition, Fahrzeuge, Kommunikationsmöglichkeiten und sicher etwas zu trinken.«

»Wo müssen wir hin?«

Steller deutete mit dem Arm in die Ferne. »Dahinten siehst du den Bahnhof.«

Fieber nickte.

»Gleich links davon ist ein Behördenzentrum. Neben dem Finanzamt ist der Eingang. Die Außenstelle ist im dritten Stock. Aber ich denke, dass es am besten ist, wenn wir in die Tiefgarage fahren. Der Eingang ist nicht mit Fahrzeugen anzufahren. Wir müssten ein Stück laufen und hätten keine direkte Kontrolle mehr über die Autos.«

»Seid ihr so geheim?«

»Geheim? Wieso?«

»Ausgelagert in das Gebäude des Finanzamtes. Klingt nach Geheimdienst.«

Steller zuckte mit den Achseln. »Wir versuchen, möglichst verdeckt zu arbeiten.«

»Sind die Türen stromabhängig?«

»Sie haben ein elektronisches Zahlenschloss.«

»Was machen wir, wenn wir keinen Strom haben?«

»Es gibt eine Akkuanlage. Die Türen und das Tor zur Tiefgarage lassen sich ohne Stromnetz öffnen.«

Fieber nickte. »Was glaubst du, wie lange wir noch Strom haben?«

»Ich habe keine Ahnung, wann sich Kraftwerke abschalten.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist der Strom bereits weg. Das Beste wird sein, das Fahrstuhlfahren zu vermeiden.«

Fieber stand auf. »Hier können wir nicht bleiben. Die Dienststelle ist ein Ziel mit verbesserter Position. Ein Anfang.«

»Es fragt sich, wie wir dort hinkommen«, sagte Steller.

»Das ist meine Aufgabe.« Fieber überquerte das Dach. Die anderen sammelten sich um ihn.

»Dort hinten stehen unsere Fahrzeuge.« Er zeigte in Richtung Schäfergasse. »Wir gehen runter bis zum Pavillondach, überqueren das Dach, klettern runter in den Vorhof und schließlich über die Mauer dahinten. Dann sind wir auf der Straße. Das ist die Risikostrecke. Ich schätze das es einhundert Metern bis zu den Fahrzeugen sind.«

Steller blickte nach unten. Er kannte das Gebäude. Bei dem Pavillon handelte es sich um den Nachbau eines spätbarocken Stadtpalais, der direkt an das Hochhaus grenzte. »Wie kommen wir nach unten?« Steller hatte ein beschissenes Gefühl.

»Wir nehmen das Treppenhaus, über das wir das Dach erreicht haben. Das war leer, als wir gekommen sind. Ich denke, dass sich das nicht geändert hat. Auf der Höhe des Pavillons steigen wir aus dem Fenster und gehen rauf aufs Dach. Im Gegensatz zu gestern wird das ein Kinderspiel.«

Steller spürte die Wärme der Erleichterung. Er hatte befürchtet, die Irren würden an der Fassade hinunterklettern.

»Warum fahren wir nicht gleich ganz aus der Stadt?«, fragte Wolf.

»Weil wir keine Ahnung haben, wie die Straßen aussehen. Vielleicht sind alle Ausfallstraßen mit verlassenen Fahrzeugen blockiert.« Fieber sprach zu seinen Leuten. »Jungs. Das ist ein Risiko. Aber der Weg zur Dienststelle ist relativ kurz. Mit jedem Meter, den wir mehr zurücklegen, steigt die Gefahr, dass wir uns festfahren. Das Beste ist, wenn wir etappenweise vorgehen.«

»Was ist mit dieser Atombombensache?«, fragte Schippe.

»Vergiss den Quatsch. Wenn die das wirklich machen, ist es das Schlauste, wir befinden uns in der Stadt. Dann geht es schnell«, sagte Steller.

»Dann will ich lieber dumm sein.« Schippe drehte sich um, ging in Richtung der Dachtür.

»Alle herhören. Auch du, Schippe«, rief Fieber. »Ich möchte euch ein neues Mitglied in unserem Team vorstellen. Der Kollege Markus Steller hat sich bewiesen und sich um die Gruppe verdient gemacht. Passt auf ihn auf.«

Die Polizisten musterten ihn, als gelte es, sich sein Gesicht zu merken, damit sie ihm in der Hitze des Gefechts nicht die Birne wegschossen.

Eigentlich hätte Fiebers Ansage ihn entspannen sollen. Aber richtige Freude wollte nicht aufkommen.

Die Männer formierten sich. Die Dachtür wurde geöffnet und sie betraten nacheinander das Treppenhaus. Steller ging diesmal in der Mitte. Nachdem sie einige Stockwerke hinter sich gelassen hatten, hob Fieber die Hand und der Trupp blieb stehen. Steller lauschte in die Stille hinein.

War da das verhallende Echo eines Geräusches zu hören? Einbildung? Fieber drehte sich um, den erhobenen Zeigefinger an die Lippen gelegt. Steller tastete nach seiner Waffe. Schwede machte einen Schritt nach links, beugte sich vor und blickte am Geländer entlang zwischen den Treppen hindurch nach unten. Er zog sich zurück und schüttelte den Kopf. Sie verharrten eine Minute, Fieber gab das Kommando weiterzugehen. Steller wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das war nichts für seine Nerven. Er sollte sich irgendwo verkriechen und diesen ganzen Irrsinn aussitzen.

Nach zwei weiteren Etagen schaute Steller im Vorbeigehen nach rechts durch eine Glastür, die zu einem Büroflur führte. Da stand ein Mann und sah ihn an, als wäre er ein seltener Fisch im Aquarium. Steller riss die Waffe aus dem Holster. »Whoo!«

Der Mann auf der anderen Seite der Glastür hob die Arme. Steller hatte den Druckpunkt des Abzugs fast überwunden, konnte gerade noch verhindern, dass sich der Schuss löste.

»Was ist da los?« Fieber kam die Treppen hochgerannt. Die Männer, die sich in Stellers Nähe befanden, hatten ihre MPs in Anschlag gebracht, zielten auf den Menschen hinter dem Glas. Der stand da, zeigte seine Handflächen und machte große Augen. Steller entspannte sich.

»Machen Sie die Tür auf.« Fieber klopfte gegen die Glastür. Der Mann reagierte nicht. »Nehmt die Waffen runter.« Die Läufe der Maschinenpistolen wurden gesenkt. Fieber klopfte erneut, bedeutete dem Mann mit Zeichen, er solle endlich öffnen. Der kam in Bewegung, drückte den Griff nach unten und zog die Tür auf.

»Sind Sie alleine?«, fragte Fieber.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Können Sie sprechen?« Er nickte. »Dann tun Sie es auch.«

»Okay.«

Der Typ war dreißig Jahre alt. Ziemlich fett. Er stand auf kurzen stummelartigen Beinen, die sein Gewicht zu einem X gebogen hatte. Sein Atem ging schwer.

»Wo sind die anderen?« Fieber sah ihn mit einem durchdringenden Blick an.

Der Dicke deutete mit seinem Daumen über die Schulter. »Dahinten am Ende des Ganges.«

»Wie viele?«

»Wir sind zwanzig. Glaube ich.«

»Sie gehen voraus.«

Der Mann drehte sich um und watschelte den Flur entlang. Am Ende öffnete er eine Tür. In einem großen Büro saß ein trauriges Häufchen Menschen beisammen. Sieben Frauen. Der Rest Männer. Alle trugen seltsame T-Shirts mit skurrilen Aufschriften, die irgendetwas mit Computern zu tun hatten. Entweder sie waren fettleibig oder so dürr, dass man ihnen am liebsten ein Wurstbrot geschmiert hätte. An einer Wand hing ein Poster, das ein UFO zeigte. Ein Raum voller Nerds. Die Versammelten sahen die Polizisten verstört an. Ein Mann in einem zu engen T-Shirt bastelte gerade einen Joint zusammen. Hastig versuchte er, die Utensilien zu verstecken. Was für ein Trümmerhaufen. Waren sie auf einer Star Trek-Convention gelandet?

»Gott sei Dank, die Polizei!«, rief einer der älteren Männer aus.

»Freuen Sie sich nicht zu früh«, sagte Fieber.

»Sind Sie nicht gekommen, um uns zu retten?«

»Nein.«

Der Mann sah Fieber ungläubig an. Steller drückte sich an dem Kommandoführer vorbei. »Was machen Sie hier?«, fragte er unbestimmt in den Raum hinein.

»Wir haben die Nacht gearbeitet. Ich meine, wir wollten arbeiten. Wir sind eine Werbeagentur, die Webvideos und Werbebanner für Internetseiten macht. Da kommt das öfter mal vor. Zwei von uns sind runter gegangen, um Essen zu holen. Die wollten sich was bei McDonalds besorgen. War doch McDonalds. Oder?« Einige nickten zustimmend.

»Die waren nur einige Minuten weg. Frank hat angerufen und gesagt, wir sollen aus dem Fenster schauen. Als wir das gemacht hatten, beschlossen wir hier zu bleiben und abzuwarten. War das eine dumme Idee?« Der Dicke, den sie im Flur getroffen hatten, setzte sich auf einen Bürostuhl, legte die Hände in den Schoß und zog ein unglückliches Gesicht.

»Sie leben noch. So dumm kann die Idee nicht gewesen sein«, sagte Steller. »Ich nehme an, eure Kollegen haben sich nicht mehr gemeldet.«

Der Dicke schüttelte den Kopf.

»Habt ihr einen Fernseher oder ein Radio?«

»Nein. Lenkt vom Arbeiten ab.«

»Was ist mit Internet?« Steller deutete auf einen der Rechner.

»Die sind nicht ans Internet angeschlossen«, sagte der Mann. »Das sind unsere Arbeitsrechner. Was da drauf ist, ist unser Kapital. Da gehen wir kein Risiko ein. Wir verfügen über ein zweites Büro in Bockenheim. Wenn wir mit einem Projekt fertig sind, wird das auf eine Wechselfestpl ...«

Steller hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. Na klasse, ein Haufen von Computertypen ohne Internetanschluss.

Der Dicke sah Steller eingeschüchtert an. »Was ist denn passiert? Von hier oben sah es wie ein Bürgerkrieg aus.«

Steller erklärte den Anwesenden die Situation. Erzählte von dem Fest und davon, wie sich die Menschen gegenseitig in Stücke gerissen hatten.

»Das glaube ich nicht«, sagte eine der Frauen.

Steller zuckte mit den Schultern. »Das ist Ihre Sache.«

Ein Mann hüpfte von seinem Stuhl. »Ich habe Kinder. Ich habe eine Frau. Geht es denen gut?«

»Das weiß ich nicht.«

Die Dämme brachen. Alle sprangen auf, begannen durcheinanderzureden. »Was ist mit meiner Familie?« »Ist das eine Krankheit?« »Das kann nicht sein. Das ist gelogen.«

Steller hob beschwichtigend die Arme, versuchte zu beruhigen, merkte, dass das keine Wirkung zeigte. »Ruhe«, schrie er. Es wurde still. Einige setzten sich hin. Fieber übernahm das Wort. »Die Zeit sitzt uns im Nacken. Darum komme ich direkt zum Punkt. Gibt es hier etwas zu trinken?«

»Am Ende des Flurs ist eine Küche. Da steht ein großer Wasserspender.«

Fieber gab ein Zeichen. Schwede, Dallas und Schippe machten sich auf den Weg.

»Ich sehe das so«, fuhr Fieber fort. »Ihr habt zwei Möglichkeiten. Erstens: Ihr bleibt, wo ihr seid, wir gehen wieder und schließen die Tür hinter uns. Zweitens: Ihr kommt auf eigene Gefahr mit uns. Für eure Sicherheit kann ich nicht garantieren.«

Steller war irritiert. Fieber wollte die Leute mitnehmen. Das hätte er nicht erwartet. Wie sah es mit dem Dach und der Mauer aus? Schafften die das? Die Dicken auf keinen Fall. Der alte Mann, der in der Ecke saß? Auch nicht. Insgesamt traute er weniger als der Hälfte zu, länger als zehn Minuten Schritt zu halten. »Ich denke, Sie bleiben besser hier«, sagte Steller.

»Warum?«, fragte einer der Werbemenschen.

»Unser Plan sieht eine Kletterpartie vor. Unter anderem müssen wir ein Dach überqueren und über eine Mauer steigen. Ich glaube nicht, dass es viele von ihnen schaffen. Das...«

Fieber unterbrach ihn. »Dann ändern wir den Plan. Die Leute sollen mitkommen.«

Jetzt war Steller wirklich verblüfft. Fieber konnte ja ein richtiger Menschenfreund sein. Allerdings fragte er sich, wie die Planänderung aussehen sollte. Wenigstens versprach der Tag, nicht langweilig zu werden.