20. Warteschlange

 

Demir Kara

 

Die Fensterputzgondel hielt mit einem Ruck und pendelte langsam aus. Demir hielt sich so verkrampft an dem Metallgeländer der Gondel fest, dass seine Hände schmerzten. »Hast du die Stockwerke mitgezählt?«, fragte er.

»Wir sind da.« Katta saß auf dem Boden und stützte sich links und rechts an den Streben des Geländers ab. Sie sah aus, als hätte sie mit dem Leben abgeschlossen.

»Fühlst du dich nicht wohl?« Er konnte sich eine stichelnde Bemerkung nicht verkneifen.

»Du bist etwas blass. Hast du Höhenangst?«, fragte sie, ohne auf Demirs Frage einzugehen.

»Tut mir leid, dass ich gefragt habe.« Hätte er doch besser die Klappe gehalten. Die Worte Angst und Höhe wollte er nicht zusammen in einem Satz hören.

»Ich dachte, ihr Südländer habt vor nichts Angst.«

»Das ist Kanakenpropaganda. Ich mach mir gleich in die Hose.«

»Das macht dich sympathisch, mir aber nicht mehr Mut.«

Demir zog an einem Hebel. Die Gondel ruckte und bewegte sich zur Seite. Als sie ein Milchglasfenster erreichten, hielt er an. »Das müsste die Toilette sein.« Bis hierhin war sein Plan aufgegangen, allerdings lag das wirkliche Problem noch vor ihm. Er musste da rein. Demirs Blase begann zu drücken. Wenn er Angst hatte, musste er immer pinkeln. Katta stellte sich neben ihn. Die Gondel war etwa vier Meter lang und knapp zwei Meter breit. Katta zeigte auf ein Metallschild, auf dem stand, dass der Aufzug eine Nutzlast von 350 Kilogramm tragen konnte. »Wenn wir mit der Gondel die Leute evakuieren müssen, wird eine Fahrt nicht reichen«, stellte sie fest. Demir blickte kurz zu dem Schild. Katta hatte recht. Aber das waren Sorgen von morgen.

»Und nun?«, fragte Katta.

»Jetzt schlage ich die Scheibe ein. Dann fahre ich dieses Höllending ein Stück nach links und wir warten ab, was passiert.«

»Was glaubst du, was passieren wird?«

»Ich hoffe nichts. Sollte das so sein, dann fahren wir zurück zu dem Fenster und ich steige ein.« In der Gondel gab es einen Metallbehälter mit Werkzeugen. Demir nahm sich einen großen Schraubenschlüssel. Er wog schwer in seiner Hand. »Bist du bereit?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten.

»Nein.«

»Gut.« War das Sicherheitsglas? Egal. Er holte aus und drosch den Kopf des Schlüssels gegen die Scheibe. Das Glas zerplatzte beim ersten Schlag. Demir sah Waschbecken und Türen von Toilettenkabinen. Der Raum schien leer. Er griff nach den Hebeln am Steuerpult, zögerte.

»Worauf wartest du?«

»Die Tür ist geschlossen und ziemlich weit weg. Wenn die aufgeht, habe ich noch genug Zeit.« Demir starrte durch das Fenster. »Sei mal still.« Katta hielt die Luft an. Sie lauschten. Schließlich flüsterte sie. »Hast du was gehört?«

»Weiß nicht. Aber so, wie die sich verhalten, denke ich nicht, dass sie sich anschleichen.«

Katta sah ihm ins Gesicht, zog die Stirn in Falten. »Was kommt jetzt?«

»Jetzt gehe ich da rein und fülle den Eimer.«

»Und wenn das Wasser verseucht ist?«

»Das werden wir bald herausfinden. Haben wir eine Wahl?« Er drückte ihr einen Eimer in die Hand. »Wenn ich drin bin, gibst du ihn mir.«

Mit dem Schraubenschlüssel schlug er vorsichtig die letzten Scherben aus dem Fensterrahmen. Er legte eine alte Arbeitsdecke, die er in einer Ecke der Gondel gefunden hatte, auf den unteren Teil des Rahmens, um sich gegen Splitter zu schützen. Mit zitternden Knien stieg er auf das Geländer des Aufzugs und hievte sich unbeholfen durch das Fenster. Als er in der Toilette stand, zog sich sein Magen zusammen. Von drinnen betrachtet, wirkte das Fenster winzig klein. Wenn die Tür jetzt aufflog, hatte er niemals mehr genug Zeit, um in die Gondel zu springen.

»Wenn etwas passiert, ziehst du an dem Hebel da. Und zwar sofort.«

»Darüber mach dir keine Gedanken.«

Demir schluckte und trat an eines der Waschbecken. Vielleicht war die Wasserversorgung bereits zusammengebrochen. Aber als er an den Armaturen drehte, schoss Wasser aus dem Hahn. Während der Eimer volllief, blickte er immer wieder zur Tür. Nichts rührte sich. Endlich konnte er das Wasser abdrehen und Katta den vollen Eimer reichen. »Da sind noch zwei andere.« Warum hatte er das gesagt? Jetzt musste er noch länger hier herumstehen. Der Impuls zu fliehen verstärkte sich sekündlich. Katta gab ihm die Eimer und er füllte sie auf. Sie hatten nun ungefähr dreißig Liter Wasser. Das würde die Gruppe zumindest über den Tag bringen. Demir wollte durch den Fensterrahmen steigen, als er sah, wie Katta mit großen Augen an ihm vorbei in Richtung Tür starrte. Demir drehte sich ruckartig um, was eindeutig die dümmste aller möglichen Reaktionen war. Er hätte sofort zum Fenster springen sollen und zwar mit Vollgas. Jetzt war es zu spät. Er war tot.

Doch die Tür blieb verschlossen. Es bewegte sich nichts und es gab auch nichts zu hören. Demirs Herz setzte mit einem Doppelschlag wieder ein. »Verdammte Scheiße. Katta, was ist los?«

»Mein Handy. Da draußen liegt meine Tasche mit meinem Handy.«

Dummes Weib. Kümmert die sich jetzt um ihr Handy. Demir hätte sie am liebsten angeschrien. Aber dann fiel ihm ein, wie sie den Wachmann auf die Stirn geküsst hatte, um ihm im nächsten Moment eine Kugel in den Kopf zu jagen. »Was soll der Mist?«, fragte er mit unterdrückter Wut.

»Das ist kein normales Handy. Das ist ein Satellitentelefon. Damit kann ich meine Mutter anrufen.«

»Du hast ein Satellitentelefon, um deine Mutter anzurufen?«

»Meine Mutter kann uns helfen. Wenn es jemand kann, dann sie.«

»Willst du mich verarschen?«

Sie sah ihm streng in die Augen. »Mache ich den Eindruck?« Sie schickte sich an, über das Geländer zu klettern. »Wie konnte ich das vergessen? Ich brauche dieses Telefon.«

»Hey, hey. Langsam. Ich hole dir das Ding.«

»Warum? Weil ich eine Frau bin?«

»Weil du eine Frau bist. Ich bin ein Mann.«

»Du kannst mich mal.«

»Was läufst du auf hundert Meter?«

Sie zögerte. »Punkt für dich. Aber das Problem ist, dass du nicht weißt, wie meine Handtasche aussieht. Außerdem kann ich dir nicht mal genau erklären, wo sie liegt.«

»Scheiße.«

»Ja. Scheiße.«

»Dann gehen wir beide«, sagte Demir.

»Macht es das besser?«

»Nein. Aber ich komme trotzdem mit. Ich hoffe, dass es sich lohnt.«

»Das tut es.« Katta kletterte durch das Fenster.

»Warte.« Demir bedeutete ihr, stehen zu bleiben. »Ich sehe erst auf dem Flur nach. Falls wir Schwierigkeiten bekommen, sind wir schneller, wenn nur einer von uns nach draußen muss.«

Katta stoppte und blieb im Fensterrahmen kleben. Das Türschloss klickte, als Demir den Griff drückte und die Tür bedächtig aufzog. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Der Flur sah beruhigend gewöhnlich aus. Es war still. Ohne sich umzudrehen, winkte er Katta zu sich. Die stand einige Sekunden später neben ihm, drückte sich geschmeidig an ihm vorbei und schlich den Flur entlang. Demir folgte ihr, zog die Waffe aus dem Gürtel. Vor ihnen weitete sich der Flur zu einem größeren Raum. Demir erkannte, dass sie sich in dem Foyer von gestern Abend befanden. Die Tische waren umgeschmissen. Auf dem Boden verteilte sich ein Gemisch aus Nudelgerichten und zerschlagenem Porzellan. Rotwein hatte Flecken in den Bodenbelag gemalt. In der Mitte des Raumes lag zusammengekrümmt der Körper einer Frau. Sie sah aus wie von einem Wolfsrudel zerrissen. Dass sie tot war, stand außer Zweifel. Katta konnte ihren Blick nicht von der Leiche abwenden. Demir versuchte, die Tote zu ignorieren. Er ließ den Blick weiter wandern. Nach dem Foyer wurde der Flur wieder schmal und führte noch ein gutes Stück weiter, bis er nach links abbog. Kurz vor dem Knick konnte er eine Erhebung auf dem Boden ausmachen. Aus der Entfernung sah es aus wie ein Zentnersack Kartoffeln. Sicher eine weitere Leiche.

»Deine Tasche. Wo?«, flüsterte er. Katta nickte, orientierte sich. Sie ging nach rechts in den Raum hinein, bückte sich hinter einen der Tische. Als sie wieder stand, hielt sie eine Handtasche in den Händen. Demir folgte ihr, um sich Essen von dem im Raum verteilten Büfett zu organisieren. Als er direkt hinter Katta stand, drehte sie sich zu ihm um und erstarrte in der Bewegung. Er wollte herumwirbeln, riss sich diesmal zusammen. In der Fensterscheibe hinter Katta erkannte er das halbdurchsichtige Spiegelbild eines Mannes, der mit schleppenden Schritten an ihnen vorbeilief. Er kam aus der gleichen Richtung wie sie. Demir umklammerte das Griffstück der Pistole. Er sah Katta eine Sekunde lang an. Die schüttelte unmerklich den Kopf. In der Scheibe sah er, dass der Mann einen Anzug trug. Das Hemd hing aus der Hose. An seinen Füßen fehlte ein Schuh. War das einer von denen? Oder irgendeine arme Sau, die unter Schock stand? Das Risiko war zu groß, um sich bemerkbar zu machen. Wenn der Kerl alleine war, würde er mit ihm fertig werden. Schließlich hatte er eine Waffe. Aber was, wenn da noch mehr waren? Die Gestalt schlurfte mit hängendem Kopf weiter. Nach einigen Metern verschwand sie nach links durch eine offene Tür. Das musste der Zugang zum Treppenhaus sein, durch das sie auf das Dach geflohen waren. Demir wagte es, sich umzudrehen. Er sah vorsichtig um die Ecke in Richtung Toilette, das Schlimmste erwartend. Da war niemand. Nach der Toilette bog der Flur ab. Vermutlich war der Typ daher gekommen.

Demir hatte keinen Hunger mehr. Katta drückte sich an ihm vorbei und wollte den Rückzug antreten. Demir machte einen Schritt nach vorne und hielt sie am Arm fest. Sie sah ihn mit einem fragenden Ausdruck in den Augen an. Er zeigte auf sich und dann auf die Stelle, wo der Mann verschwunden war. Katta schüttelte heftig den Kopf. Ja, das war ein extrem blödes Vorhaben. Genau so verhielten sich die Typen in irgendwelchen Teenie-Horrorfilmen. Statt einfach zu verschwinden, versuchten sie lieber dem Monster am Schwanz zu ziehen. Aber er musste es tun, wollte wissen, was da los war. Er bedeutete Katta zu gehen. Sie sollte in die Gondel steigen. Es gab keinen Grund, andere für seine Dummheit bezahlen zu lassen. Sie schüttelte wieder den Kopf. Ihre Sache.

Demir schlich so leise er konnte in Richtung Tür. Katta blieb hinter ihm zurück. Je näher er der geöffneten Tür kam, umso langsamer bewegte er sich. Er versuchte einen günstigen Winkel zu finden. Demir wollte viel vom Treppenhaus sehen und dabei möglichst wenig von sich preisgeben.

Erst sah er nur einen Teil der Wand.

Demir beugte seinen Oberkörper vor. Noch mehr Wand und Bodenfliesen.

Ein weiterer kleiner Schritt.

Er zuckte zurück.

Das Treppenhaus war überfüllt mit Menschen. Sie standen dicht gedrängt auf den Stufen, alle in die gleiche Richtung gewandt. Treppauf. Sie standen einfach nur da. Nicht das geringste Geräusch war zu hören.

Demir stolperte beim Zurückschrecken über seine eigenen Füße und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Hatte man ihn gesehen? Eine Frau hatte in seine Richtung geblickt. Oder war es Einbildung gewesen? Wenn nicht, dann würde er das gleich feststellen. Er drehte sich um. Katta hatte begriffen, dass es Zeit war zu gehen. Sie versuchte Geschwindigkeit und Geräuschlosigkeit zu verbinden, machte große federnde Schritte. Demir tat es ihr gleich.

Am Toilettenfenster angekommen, half Demir Katta nach draußen. In seiner Panik schob er sie so heftig, dass sie drohte, über die Gondel hinauszufliegen. Katta bekam das Halterungskabel der Gondel zu packen und schaffte es sich selber auszubremsen. Dann drehte sie sich um, griff nach seiner Hand und zog ihn nach draußen. Sofort steuerte Demir die Gondel weg und hielt an einem Teil der Gebäudefront, wo die Fassade keine Fenster besaß.

»Was?« Katta kauerte in einer Ecke. »Was hast du gesehen?«

Demir bemühte sich, seine Atmung zu kontrollieren. »Das Treppenhaus ist voll mit denen. Die sind nicht weg.«

»Daran habe ich auch nicht geglaubt.«

»Die da oben aber schon.«

»Das ist dumm.«

»Es ist menschlich. Um die Hoffnung zu behalten, redet man sich die Welt schön«, dozierte Demir trotz seiner Kurzatmigkeit. »Es ist der einfachste Weg. Das Treppenhaus ist frei und wir alle gehen nach Hause. Wunschdenken.«

»Wir müssen nach oben. Und zwar schnell.«