34. Dorfleben

 

Karl Wiegner

 

Die Angst war mittlerweile aus Wiegners Beinen in seinen Magen hochgekrabbelt. Er war kein Feigling, hatte schon im Gefecht gestanden, aber das hier war etwas völlig anderes. Er überprüfte die Sicherung seines Gewehres, gab das Zeichen weiterzugehen. Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Auf beiden Seiten wechselten sich kleine Läden und Wohnhäuser ab. Vor dem Eingang zu einem winzigen Friseurladen saß eine getigerte Katze und putzte sich ihr Fell. Sie sah die Soldaten an, duckte sich ein wenig, überlegte, ob sie sich aus dem Staub machen sollte. Und, Katze? Alles in Ordnung? Springst du mir jetzt in das...

»Echo-Eins. Echo-Eins von Foxtrott. Dringend!«

Wiegner hämmerte auf die Sprechtaste. »Eins hört.«

»Drohne hat... « Der Rest des Funkspruchs ging im Hämmern der Boxer-Bordwaffen unter. Das Tackern der Maschinenkanonen ließ die Luft vibrieren. »Granate!«, schrie einer der Fallschirmjäger neben ihm. Wiegners Blick verfolgte die Flugbahn der Handgranate. Aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, drängte sich ein Mob zwischen den Häusern hindurch. Er hatte keine Zeit, um das Bild auf sich wirken zu lassen. »Deckung!« Wiegner kniete sich hin, legte schützend die Arme über den Kopf. Ein Knall. Er sah hoch. Acht oder neun Menschen lagen auf dem Boden. Die Ersten rappelten sich bereits wieder auf, taumelten weiter. Direkt neben ihm eröffnete ein Fallschirmjäger das Feuer aus seinem Sturmgewehr. Aber in die entgegengesetzte Richtung. Die Angreifer kamen von beiden Seiten. Sie brauchten die Panzer. Wiegner sprang auf, nahm kurzen Anlauf und trat gegen die nächstgelegene Haustür. Die schepperte. Er drückte die Funktaste. »Echo-Zwei, Echo-Zwei. Benötigen sofortige Evakuierung.« Der nächste Tritt. Nur Vibration, die Tür hielt.

»Verstanden Echo-E... «

Pak, Pak, Pak. Das Gewehrfeuer zerfetzte die Sätze. Wiegner drückte das Headset an sein Ohr und versuchte, das Stimmengewirr zu verstehen. Gleichzeitig nahm er Anlauf und rannte erneut gegen die Tür an.

»Hier Foxtrott. Echo-Zwei, wir haben Echo-Eins auf dem Schirm. Echo-Zwei, wir leiten Sie.«

»Ver... «

Wiegner begriff endlich, dass die Tür, gegen die er unerbittlich trat, nach außen aufging. Er war ein Hornochse. Er hob das Gewehr, feuerte auf das Schloss, zerrte an der Tür und zog sie auf. »Alle zu mir.« Die Soldaten stürmten an ihm vorbei in den Flur. Wiegner riss eine Granate von seiner Weste. Warf sie in die eine Menschenmenge, eine zweite Granate in die andere Richtung. Dann sprang er ins Haus, schlug die Tür hinter sich zu. Der Funk dröhnte in seinem Kopf. »Nein, nein. Echo-Zwei. Die nächste Straße fahr... «

Das Haus wackelte. Glasscheiben zersprangen. Die nächste Explosion. Noch mehr Glasregen.

»Ja. Dann rechts, Echo-Zwei. Echo-Eins. Wie ist Ihr Status? Echo-Eins. Wie ist Ihr Status?«

Wiegner drückte sich die Handballen auf die Ohren, um die Stimme in seinem Headset verstehen zu können. »Foxtrott. Unser Status ist beschissen. Wir sind in einem Haus.«

»Verstanden, Echo-Eins. Echo-Zwei holt Sie da raus. Wir haben Ihre Position auf dem Schirm. Bleiben Sie vor Ort.«

»Wo soll ich denn sonst hin«, murmelte er. »Den Schrank. Schiebt das Scheißding vor die Tür.« Zusammen mit zwei Soldaten schob Wiegner einen Garderobenschrank vor die Haustür. Hinter ihm ein Schrei. »Kontakt.« Er wirbelte herum, sah einen kleinen Jungen mit Angst in den weit aufgerissenen Augen. »Nicht schießen«, schrie Wiegner. Es war zu spät. Das Kind flog durch die Wucht der Kugeln zurück, blieb mit ausgestreckten Gliedern liegen, als wolle es einen Schnee-Engel in den Teppich graben. »Das wollte ich nicht«, schrie der Soldat, der geschossen hatte. Wiegner packte den Fallschirmjäger an den Schultern. »Kampfhandlung, Kampfhandlung. Ist gut. Du hast alles richtig gemacht, Junge. Alles gut.« Nicht darüber nachdenken, nicht jetzt, sonst waren sie so gut wie tot.

Aus einer Tür direkt neben Wiegner sprang ein Mann heraus, brüllte, nagelte den Oberst mit seinem Gewicht an die gegenüberliegende Wand. Die Wucht presste Wiegner die Luft aus den Lungen. Das Gesicht des Mannes war ganz nah an seinem. Er fühlte den Atem an seinem rechten Ohr. Die Maske rutschte ihm vom Kopf. Er sah die Bewegung nicht kommen. Ein Hammer traf seine linke Schulter. Der Schmerz machte ihn blind. Er tastete nach seinem Pistolenholster, zog die Waffe, drehte den Lauf und drückte die Mündung gegen den Bauch des Angreifers. Viermal schoss er. Der Mann sackte zu Boden.

Aus Wiegners Schulter ragte der Griff eines Messers. Ein Soldat sprang zu ihm, wollte verhindern, dass sich der Oberst die Klinge herauszog. Zieh niemals ein Messer aus einer Wunde. Die Blutung könnte dich töten. Das war ihm egal. »Scheiße. Das Ding muss raus. Ich muss mich bewegen.« Er fasste mit der Rechten nach dem Griff. Der Schmerz war zu groß. Wiegner sah den Soldaten an. »Zieh das Drecksding aus mir raus.«

Der zögerte.

»Mach.«

Ein Ruck. Es fühlte sich an, als würde das Schulterblatt seinen Körper gemeinsam mit der Klinge verlassen.

»Aah!« Wiegner sackte zusammen, Tränen in den Augen. Hinten am Haus krachte es.

»Sie kommen rein.«

Wiegner kam auf die Beine. Sein linker Arm hing wie abgestorbenes Geäst an seiner Flanke. »Wir müssen ... « Irgendwo eingedrungen platzten mehrere von diesen Irren durch eine Tür in den Flur. Ein Fallschirmjäger versuchte sein Gewehr hochzureißen. Auf halbem Weg blieb er hängen, wurde von Infizierten zu Boden gerissen. Sie stapelten sich auf ihn. Zwei weitere Soldaten gerieten in ein Handgemenge.

Wiegners Angst wandelte sich in Zorn. Mit kontrollierten Schritten ging er den Flur entlang, hob seine Pistole und schoss einem Angreifer nach dem anderen in den Kopf. »Auf die Beine, Soldat.« Wiegner deutete auf eine Tür. »Da rein.« Sie stolperten in das Wohnzimmer. Wiegners Pistolenmagazin war leer, er versuchte es zu wechseln. Sein verletzter Arm war zu nichts mehr zu gebrauchen. Er ging auf die Knie, klemmte das Magazin zwischen seine Beine und versuchte, mit der Rechten die Pistole darüber zu schieben. So ein Dreck. Das Gewehr lag irgendwo im Flur herum. Die Männer schoben Inventar vor die Tür. Wiegner sah sich um. Da war ein Fenster. Womit hatte er gerechnet? Jedes Wohnzimmer hatte eins. »Wir müssen das Fenster sichern.«

War wohl nicht mehr nötig. Draußen wuchs ein Schatten in die Höhe. Der Oberst mühte sich immer noch das Magazin in die Waffe zu bekommen, schaffte es schließlich. Es wurde dunkel im Zimmer. Wie viele waren das denn? Dann begriff er, was geschah. »Volle Deckung.« Der böse Wolf blies gegen das Haus. Das Fenster zersprang, die Wand wölbte sich in den Raum hinein, platzte auf. Ein Dachbalken fiel herab. Staub nahm die Sicht. Ein Schützenpanzer stand mit der Front voran auf dem Couchtisch. Sofort kroch der erste Soldat unter den Panzer. Dort hatte sich die Notfallluke geöffnet. Eigentlich war sie dafür gedacht, dass Panzerbesatzungen nach einem Treffer aus dem Panzer ausbooten konnten, ohne direkt unter Beschuss zu geraten. Jetzt diente sie als Einstieg.

Das Holz der Wohnzimmertür splitterte. Die hastig aufgetürmten Möbel schoben sich über das Parkett. Gemeinsam mit einem Soldaten stemmte sich Wiegner dagegen. Er sah sich um. Außer ihnen war niemand mehr im Wohnzimmer. »Los, mach dich in den Boxer.«

»Nein. D... «

»Mann, rein da.« Er funkelte den Soldaten böse an. Der Fallschirmjäger rannte los, schlitterte unter die Bodenwanne und verschwand aus Wiegners Sicht. Die Tür schob sich auf. Arme langten in den Raum hinein. Er hatte genug gesehen, bloß weg hier. Das anschwellende Dröhnen des Panzermotors stellte ihm die Nackenhaare senkrecht auf. Die fuhren los. Scheiße, die fuhren weg. Er drehte sich um, sah, wie der Boxer rückwärts aus dem Wohnzimmer ausparkte. Schutt fiel von der Decke, eine Wolke aus Mörtel und Putz waberte auf ihn zu, reduzierte die Sichtweite auf Null. Die ließen ihn zurück. Er stolperte auf das große Loch in der Außenwand zu. Der Boxer hatte zurückgesetzt, in den Vorwärtsgang geschaltet und gab Vollgas. Als Wiegner durch die Bauschuttwolke ins Freie gelangte, sah er nur noch das Heck des Radpanzers. Er suchte nach der Funktaste. Die war weg, genau wie sein Headset und die Atemschutzmaske. Seine gesamte Ausrüstung hatte sich mittlerweile in dem Haus verteilt.

Wiegner drehte sich um. Einer der anderen Panzer raste direkt auf ihn zu. Er hob den rechten Arm und winkte hektisch. Die würden ihn einfach über den Haufen fahren wie einen Keiler auf der Autobahn. Egal. Besser als die Alternative. Der Panzer steuerte weiter auf ihn zu. Ihr blöden Penner. Wenigstens hatte er das Magazin in die Waffe gefummelt. Er hob die Pistole und schoss auf den Bug des Boxers. Der Fahrer stieg auf die Bremse. Die Reifen blockierten. Gott sei Dank! Er hatte es gerafft.

Aus dem baufälligen Haus drangen Schreie. Die räumten die Tür frei. Wiegner warf sich auf den Boden und robbte unter die Bodenwanne des Panzers, verlor dabei die Pistole. Vor ihm sah er die Luke. Sie war geöffnet, ein Kopf ragte heraus. »Los, los. Gleich haben Sie es geschafft.« Die Schmerzen in seiner Schulter waren völlig unbedeutend, er wollte nur noch in diese Konservendose aus Panzerstahl. Ein Arm streckte sich ihm entgegen, er konnte ihn fast berühren. Wiegner drehte sich auf den Rücken. Hinter ihm wurde es laut. Eine Frau folgte ihm, sie kreischte wie ein brennendes Pferd, packte ihn an den Beinen. Er heulte auf, griff nach der Hand vor ihm, trat gleichzeitig nach hinten aus. Die Furie zeigte sich unbeeindruckt und benutzte seine Beine wie ein Kletterseil, krallte sich in den Stoff seiner Hose. »Rückwärts«, schrie Wiegner. »Fahrt rückwärts.«

Das Fahrzeug ruckte. Aus dem Notausstieg ragten noch mehr Hände, umklammerten seine Unterarme, versuchten ihn ins Innere zu ziehen. Der Boxer fuhr an. Wiegner fühlte, wie sein Körper über das Kopfsteinpflaster gezogen wurde. Er strampelte wie verrückt mit den Beinen. Die Schläge in seinem Rücken ließen Sterne in seinem Kopf aufblitzen. Der Panzer schwenkte in eine Kurve ein. Die Fliehkraft zog die Frau aus der Bahn, ihre Beine drifteten nach außen, gerieten unter die Vorderreifen. Wiegner konnte das Knacken ihrer Knochen hören, es klang, als ob man eine Handvoll Spaghetti zerbrach. Sie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Nach einigen Metern hielt er es nicht mehr aus. »Stopp, haltet das Ding an.« Die Bremsen quietschten in seinen Ohren. Der Panzer stand, die Soldaten zerrten ihn nach drinnen. Sein Rücken musste eine einzige Prellung sein. Die Luke fiel zu. »Lage.«

»Foxtrott hat den Einsatz abgebrochen. Wir fahren zurück.«

»Verluste?«

»Keine.«

»Keine?« Das grenzte an ein Wunder. Er zog sich am Kommandantensitz hoch. Der Panzer nahm in voller Fahrt eine Linkskurve. Wie ein Blatt in der Salatschleuder klebte Wiegner an der Bordwand. »Langsamer. Alles ist wieder gut.« Wiegner quälte sich in einen der Sitze, sah auf die Monitore. Direkt voraus fuhr der Boxer, in den sich die Fallschirmjäger seines Teams gerettet hatten. Hinter ihnen der Panzer mit dem wissenschaftlichen Personal. Er bewegte die Kamera. Niemand da, sie hatten die Meute zurückgelassen. Auf einer Anzeige konnte er sehen, dass sie mit achtzig Stundenkilometern unterwegs waren. Das war viel zu schnell. Ein Boxer ist kein Sportwagen. Sie mussten das Tempo drosseln. Seine Augen übertrugen nur noch flackernde Bilder in sein Gehirn. Sein Kreislauf brach zusammen.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

»Mir ist schlecht«, stöhnte er.

»Da... «

Dunkelheit.

Licht.

»Wo sind wir?« Wiegner hatte einen Filmriss.

»Im Wald. Vier Kilometer vor der Anlage.«

War er bewusstlos gewesen oder hatte er geschlafen? Wiegner sah auf die Bildschirme. Der Panzer sprang über einen Waldweg. Jemand hatte ihm den Punktgurt angelegt. Ansonsten hätte er sich schon längst den Schädel am Stahl eingeschlagen. Sie fuhren immer noch viel zu schnell. Seine Schulter schmerzte grauenhaft. Es fühlte sich an, als ob der ganze Arm abgerissen wäre. Sein Rücken meldete sich ebenfalls zu Wort. Er hatte Mühe sich zu bewegen. Wiegner sah einen der Soldaten an. »Ich brauche den Autoinjektor.« Der Fallschirmjäger riss eine kleine Box aus einer Halterung und warf sie dem Oberst zu. In der Box lagen mehrere Röhrchen. Wiegner drückte das markierte Ende eines Röhrchens fest auf seinen Oberschenkel. Ein Federsystem löste aus und schoss eine Nadel in seine Muskulatur. Das Morphium wirkte sofort. Die Schmerzen zogen sich tief in seinen Körper zurück. Als Gegenleistung wollte ihn das Schmerzmittel in den Schlaf entführen. Aber irgendetwas war ja immer. Was in aller Welt hatte er sich nur gedacht? Einfach mitten in den Ort zu fahren, war unglaublich gedankenlos gewesen. Niemals zuvor hatte er einen Job dermaßen gegen die Wand gefahren. Er sollte dem Herrgott danken, dass es keine Verluste gab. »Das ist nicht die Straße«, stellte Wiegner fest.

»Die Straße ist blockiert. Umgestürzte Bäume. Der halbe Wald brennt. Wir versuchen eine Ausweichroute.«

Die beschissenen Amis hatten den ganzen Wald angesteckt. Wiegner wischte sich den Schweiß weg, schwenkte die Kamera. Alles dunkel. Überall Rauch. Sein Körper bestand aus gefesselten Schmerzen. Das Rütteln und Schütteln, das sein Skelett in Vibration versetzte, machte es nicht besser. Immer noch fuhr der andere Boxer vor ihnen, seine Räder sprangen in die Höhe, verloren die Haftung, wenn er über eine Bodenwelle hinwegmähte. »Die sollen sofort die Geschwindig ...« Der Panzer voraus schwenkte nach links. Es sah so aus, als wollte der Fahrer mit Gewalt stumpf in das Unterholz abbiegen, mit dem Kopf durch die Wand. Im letzten Moment gelang es ihm, die dreißig Tonnen Stahl auf dem Weg zu halten. Bevor sich Wiegner von dem Schreck erholen konnte, brach das Fahrzeug vor ihnen endgültig aus. Die Reifen der beiden vorderen Achsen schlugen bis zum Anschlag ein. Der Boxer begann sich um die eigene Achse zu drehen, schlitterte quer stehend den Weg entlang. Wiegners Panzer machte eine Vollbremsung. Der Oberst flog nach vorne, wurde unsanft von seinem Gurt zurück gefedert. Der Boxer vor ihnen kippte auf die Seite, sodass Wiegner die Bodenwanne und die Räder sehen konnte. Zwei Ambosse knallten gegeneinander, in Wiegners Ohren hallte es, als wäre er zur Frühmesse in einem Glockenturm gefangen.

Stillstand.

Hörte diese Kacke denn überhaupt nicht mehr auf? Das Pfeifen im Ohr ließ nach. »Der Spaß geht weiter.« Er öffnete seinen Punktgurt. »Wir müssen sie evakuieren.« Die Soldaten setzten sich ihre Schutzmasken auf. Wiegner ließ sich eine neue geben. Sie drückten die Heckklappe auf. Als Wiegner draußen auf dem Waldweg stand, sah er keine zehn Meter weit. Brandrauch bahnte sich einen Weg durch die dicht stehenden Bäume. Er konnte das Feuer weder sehen noch hören, aber er spürte die Hitze. Die Partikelfiltermasken, die sie trugen, waren dafür nicht geeignet. Zwar filterten sie ohne Mühe die giftigen Schwebstoffe aus dem Qualm, aber gegen das Kohlenmonoxid halfen sie nicht. Wiegner näherte sich dem havarierten Panzer. Der Boxer des Obersts hatte ihn nach links in die Büsche geschoben. Er lag auf der Seite. Ein Fallschirmjäger begutachtete ihr eigenes Fahrzeug. »Der Schaden ist gering. Wir können weiterfahren.«

Ausnahmsweise eine gute Nachricht. »Männer, beeilt euch. Wir müssen hier weg.« Er musste daran denken, dass er ohne Schutzmaske Kontakt mit Infizierten gehabt hatte. Egal. Wenn sie nicht zeitnah hier wegkamen, waren sie ohnehin im Eimer. Wiegner sah, wie ein Soldat eine kleine Klappe am Heck des Schützenpanzers öffnete. Dort gab es einen Anschluss für die Headsets. Hätten sie mehr Zeit gehabt, dann wäre auf die Weise ein Kommunikationsversuch mit der Besatzung im Inneren möglich gewesen. Aber Zeit war gerade ausgegangen. Hinter der Klappe verbarg sich außer dem Klinkenstecker noch ein Tastenfeld. Gab man die richtige Kombination ein, konnte man damit die Heckklappe von außen öffnen. Wiegner sah, wie der Soldat die Tasten drückte. In seinem Kopf blitzten Erinnerungsfragmente auf.

Der Kampf im Flur.

Soldaten, die unter Körpern begraben auf dem Boden lagen.

Zerrissene Uniformen. Zähne. Blut.

Er hob den Arm, öffnete den Mund. In dem Moment sprang die Heckklappe auf. Ein Schatten flog heraus, stürzte sich auf den Soldaten, dessen Finger noch immer das Tastenfeld berührten, riss ihn zu Boden. Wiegners Hand suchte nach seinem Pistolenholster. Das war leer. Die Waffe lag irgendwo auf einer Dorfstraße. Mehr Gestalten jagten aus dem Boxer. Schüsse fielen. Einer der ehemaligen Fallschirmjäger hechtete in Wiegners Richtung, brachte ihn zu Fall. Er landete auf dem Rücken, sah das zur Fratze verzerrte Gesicht des Mannes. Mit der Rechten packte der Oberst dessen Hals. Wiegner hatte immer Sport getrieben, konnte einhundertzwanzig Kilogramm auf der Bank drücken, aber der Kerl war von Sinnen, entwickelte unglaubliche Kräfte. Der Kiefer des Angreifers schnappte vor ihm auf und zu, wie bei einem durchgedrehten Piranha. Nur mit Mühe konnte er den Mann davon abhalten, ihm in das Gesicht zu beißen. »Betäuben«, schrie er. »Betäubt den Penner.«

Ein Wissenschaftler im weißen Schutzanzug tauchte aus dem Nichts auf, rammte dem Irren einen Autoinjektor in den Rücken. Keine Reaktion. Das hätte reichen sollen, um eine ganze Familie ins künstliche Koma zu versetzen. Wiegner spürte, dass ihn die Kraft verließ. »Noch eine«, schrie er. Der Schutzanzug nahm einen zweiten Injektor. Traf diesmal die Schulter. Schlagartig wurde der Wahnsinnige schlapp. Wiegner rollte den Körper von sich herunter, rappelte sich auf die Beine. Auf dem Boden um den verunglückten Panzer lagen Leichen. Der Kampf war entschieden. »Packt ihn ein. Wir müssen weg.«

Die Wissenschaftler schnallten den Mann auf eine Trage. Knebelten ihn. Wiegner beneidete die Männer nicht. Um nichts in der Welt wollte er mit diesem Monster zusammen in einem Panzer eingesperrt sein. »Wenn der zuckt, haut ihm noch eine Ladung rein.« Er griff sich einen Soldaten. »Sie fahren mit. Sollte es sich nicht vermeiden lassen, erschießen Sie ihn.« Er sah dem Fallschirmjäger in die Augen. »Ich weiß, dass er ein Kamerad war. Aber das ist er jetzt nicht mehr. Hast du das verstanden?« Der Soldat nickte, sah an ihm vorbei. Wiegner drehte sich um. Vor ihm stand der Soldat, der die Klappe des Boxers geöffnet hatte. An seinem Hals klaffte eine Wunde. Die Uniform hatte sich mit Blut vollgesogen. »Der hat mich erwischt.« Der Verletzte schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann doch nicht wahr sein. Der hat mich voll erwischt.« Wiegner sah auf das Gewehr, dass der Soldat in den Händen hielt. »Was mache ich denn jetzt?« Der Mann sah den Oberst an.

»Wir können dich nicht mit reinnehmen«, sagte Wiegner ruhig. Um ihn herum kam alles zum Erliegen. Die Soldaten und Wissenschaftler wagten nicht sich zu bewegen. Was, wenn der jetzt durchdrehte? Der würde sie alle umlegen. »Ist okay. Ist okay.« Der Verletzte drehte sich um und ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nach wenigen Metern verschluckte der dichte Qualm seine Silhouette. Fast hätte Wiegner ihm hinterher gerufen. Er schluckte die Worte hinunter. Was sollte er tun? Der Mann stand unter Schock. Aber er konnte nicht das Geringste machen. Es blieb nur zu hoffen, dass der Virus nicht in den nächsten Sekunden losschlug. Sonst würde der arme Teufel wieder aus dem Brandnebel herausschießen und sie anfallen. »Los. Wir müssen weg«, bellte Wiegner. Ihm wurde schwummrig. Vermutlich atmete er mittlerweile mehr Kohlenmonoxid als Sauerstoff. Der Soldat auf der Trage wurde eingeladen.

Pak, Pak, Pak.

Der Oberst erstarrte. Der Junge hatte sich eine Salve in den Kopf geschossen. »Aufsitzen«, schrie Wiegner.

Pak, Pak, Pak.

Pause.

Pak, Pak, Pak.

Wohl doch kein Suizid. Auf wen schoss der? Waren die Infizierten ihnen bis hierher gefolgt? Das war unmöglich. Die rannten nicht über zehn Kilometer mit achtzig Sachen in der Stunde. Was immer der Qualm verborgen hielt, es konnte nur wenige Meter entfernt sein. Als er im Panzer saß und die Heckklappe zufiel, schrie er den Fahrer an: »Gib Gas, Junge. Gib Gas.« Wiegner wollte so schnell es ging zurück in diesen blöden Bunker.