9. Party

 

Demir Kara

 

Auf der gesamten Breite der Straße sah Demir Hunderte von Menschen auf sich zu rennen. Sie kletterten über geparkte Autos, stauten sich vor einem Transporter, schoben ihn zur Seite. Autoalarmanlagen lösten aus. Ein Konzert aus Hupen und Warnblinkern. Die Masse floss wie eine Schlammlawine zwischen den Häuserfronten hindurch. Die Menschen rannten, krochen, überschlugen sich. Die Nachfolgenden überkletterten die Gestürzten. Die Horde kreischte, wie tausend kaputte Kreissägen. Wovor liefen die weg? Die Szene war zu extrem. Demirs Verstand blockierte. Während die Bilder durch seine Augen hindurch ins Nichts liefen, meldete sich ein urzeitlicher Instinkt. Die flohen nicht. Die jagten.

Demir wich einen Schritt zurück, stolperte an einer Stufe, stützte sich mit der linken Hand ab. Er musste verschwinden. Mechanisch stellte er sich wieder auf die Beine. Die Masse, keine hundert Meter mehr von der Treppe entfernt, näherte sich mit irrsinniger Geschwindigkeit. Irgendwie musste er Bewegung kommen. Tu was!

Demir überwand die Schockstarre, explodierte, rannte die Stufen hinauf, wirbelte durch die Drehtür der Bank. Auf Höhe der Information blieb er stehen. Eine Angestellte hinter dem Informationstresen begann zu schreien. Er riss sich die Sturmmaske vom Kopf, drehte sich im Kreis. Wohin?

Eine Fahrstuhltür öffnete sich. In der Kabine standen drei Personen. Ein Mädchen, ein Mann im Anzug, ein weiterer in blauer Uniform. Die Uniform glotzte ihn an und griff sich an den Gürtel.

Demir schoss. Der Uniformierte sackte im Fahrstuhl zu Boden. Hinter Demir prasselte es gegen die Scheiben des Foyers. Köpfe und Fäuste schlugen gegen das Glas. Die Drehtür begann sich zu bewegen.

»Macht keinen Scheiß.« Demir hielt den Arm mit der Waffe ausgestreckt. Das Mädchen und der Mann im Anzug pressten sich an die Wand der Kabine. Demir sprang in den Aufzug, drückte wahllos auf einen der Knöpfe, sah nach draußen. Die Glaswand widerstand dem Druck der Körper nicht, eines der seitlichen Panoramafenster platzte. Die Masse bahnte sich ihren Weg in die Lobby.

Im Fahrstuhl ertönte ein Kling. Die Tür ruckte, setzte sich in Bewegung.

Da stolperte die Empfangsdame ins Bild. Sie rannte auf die Fahrstuhltür zu, hatte einen Schuh verloren, machte schnelle Trippelschritte im engen Rock. Keine fünfzehn Meter entfernt. Wenn sie die Kabine erreichte, war es aus. Sie würde ihren Körper in den sich schließenden Spalt der Schiebetür drücken. Die Tür würde stoppen, sich öffnen und niemals rechtzeitig wieder schließen. Er musste sie aufhalten, egal wie. Demir hob die Waffe, schoss zweimal. Die Frau riss den Mund auf, als wollte sie sich beschweren. Dann fiel sie der Länge nach hin.

Die Tür schloss. Ein kurzer Ruck, die Kabine nahm Fahrt auf. Demir sah auf die Tasten. Er hatte den achtundfünfzigsten Stock erwischt. Je höher, desto besser. Bloß weg von diesen Irren. Der Lift glitt an der zweiten Etage vorbei, da donnerte es unter ihnen. Die Menschenmasse schlug gegen den Fahrstuhlschacht. Demirs Hand zitterte so heftig, dass das Magazin in der Pistole anfing zu klackern. Hatte er gerade eine Frau erschossen? Schweiß lief ihm in die Augen, er wischte ihn mit dem Ärmel weg. Der angeschossene Mann lehnte, wie ein verletzter Westernheld, an der Rückwand der Kabine. Das war ein Wachmann, kein Bulle. »Wo ist deine Waffe?« Demir richtete die Mündung auf ihn.

Der Wachmann sah nicht auf. »Ich habe keine.«

»Verarsch mich nicht.«

»Ich habe keine.« Der Mann presste die Worte hervor. Der Schmerz nahm ihm die Luft.

»Warum hast du an deinen Gürtel gegriffen?«

Der Wachmann drehte sich ein wenig, dass Demir den Gürtel sehen konnte. Da hing ein Funkgerät. »Du blöder Idiot. Wenn dir jemand eine Knarre in die Fresse hält, dann greift man sich nicht an den Gürtel.« Demir ließ die Waffe sinken.

»Er braucht einen Arzt«, sagte das Mädchen. Sie war Anfang zwanzig, hatte schulterlange braune Haare. In ihren Augen blitzte es zornig. Sie trug eine eng anliegende Stoffhose und eine Bluse.

»Was?«

»Einen Arzt. Er braucht einen Arzt.«

»Hast du das gerade nicht gesehen?«

»Ich sehe, dass du mich mit deiner Pistole bedrohst.« Sie sah ihm in die Augen. »Und ich sah, dass du eine Frau erschossen hast.« Demir schluckte. Hatte er das wirklich getan? Der Überfall lief nicht wie geplant. Soweit kam er noch mit.

Der Turbolift beschleunigte mit jedem Meter, den er zurücklegte. Die Kabine passierte den zweiunddreißigsten Stock. Niemand redete. Hatte er tatsächlich eine Frau erschossen? Er war kein Mörder. Er hatte keinen Hang zu Gewalt. Nein, das bildete er sich ein. Alles würde sich aufklären. Auf den Wachmann hatte er geschossen, das ließ sich nicht wegreden. Der Blödmann hatte sich besonders dämlich verhalten. Griff nach seinem Funkgerät, während er in die Mündung seiner Pistole schaute.

Demir schloss die Augen. Die Welt begann zu kreisen, als hätte er zu viel getrunken. Schnell schlug er die Augen wieder auf, sah auf die Anzeige. Vierundvierzigster Stock. Er sprach den Wachmann an. »Wo habe ich dich erwischt?«

Der Mann hob die Hand vom Unterbauch. Sein Hemd hatte sich dunkel verfärbt.

»Das wollte ich nicht.«

»Die Frau wolltest du sicher auch nicht erschießen.« Der Mann im Anzug hatte gesprochen, bereute es augenblicklich.

»Was?« Demir musterte den Typen. Vermutlich ein Banker. Dunkelgrauer Stoff, maßgeschneiderter Anzug. Krawatte aus Seide. Die Klamotten kosteten mehr als Demirs Mutter im Monat in der Fabrik verdiente. Der Banker senkte seinen Blick, vermied Augenkontakt. Der Aufzug kletterte weiter die Etagen nach oben.

»Was ist eigentlich los?« Der Zorn in den Augen des Mädchens hatte sich in aufkommender Angst aufgelöst. Demir warf ihr einen kurzen Blick zu, legte einen Zeigefinger auf die Lippen.

Der Aufzug hatte sein Ziel erreicht. Die Tür schob sich auf. Demir hob die Waffe. Vor ihnen erstreckte sich ein Flur, erhellt durch indirekte Beleuchtung aus verborgenen Strahlern. So weit das Auge reichte aneinandergereihte Bürotüren. Der Gang war leer. Demir stellte sich in die Lichtschranke der Fahrstuhltü̈r. Er streckte den Kopf nach draußen, sah, dass der Flur nicht nur vor ihnen lag. Nach rechts bot sich das gleiche Bild. Der Fahrstuhl lag in einer Ecke. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Bankmann. Kennst du dich hier aus?«

»Ja.«

»Und? Wo sind wir?«

»Im achtundfünfzigsten Stock.«

»Arschgeige.« Demir drehte sich um. »Das habe ... .«

Das Mädchen sprang nach vorne. Bevor Demir verstand, was geschah, hatte sie den Fahrstuhl verlassen und rannte nach rechts den Flur entlang. Dabei lief sie im Zickzack, als wollte sie kein Ziel bieten. Nach zwanzig Metern stieß sie rechter Hand eine Tü̈r auf und verschwand.

»Wo geht es dahin?« Schrie Demir.

»Wo?«

Demir begriff, dass der Mann nicht gesehen hatte, wo das Mädchen hingerannt war. Er zeigte mit dem Arm in ihre Fluchtrichtung. »Die Kleine ist da hinten nach rechts weg.«

»Treppenhaus vielleicht. Dahinten ist ein langes Treppenhaus.«

»Was heißt lang?«

»Die langen Treppenhäuser reichen vom Erdgeschoss bis ganz nach oben. Ansonsten gibt es nur kurze, die jeweils fünf oder zehn Stockwerke miteinander verbinden.«

»Dann kennt sie sich aus?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«

»Wo kamt ihr eigentlich her?«

Der Anzugträger sagte nichts.

»Da ist eine Feier. Im sechzigsten Stockwerk ist eine Feier«, grunzte der Wachmann. Die Augen waren geschlossen, sein Atem ging schwer.

»Warum sagen Sie ihm das? Wollen Sie ein Blutvergießen?«

Der Wachmann hielt ihm seine blutverschmierte Hand hin. »Ich brauche einen Arzt. Bist du Arzt?«

»Wir fahren hoch«, beschloss Demir. Mittlerweile war er sicher, dass der Wachmann sterben würde. Bei der Verletzung war es mit einem Heftpflaster und guten Worten nicht getan. Er hatte diese Horde gesehen. Da würde kein Rettungsdienst kommen und auch nicht die Feuerwehr. Niemand würde kommen. Demir hob die Hand, um die Taste für den sechzigsten Stock zu drücken.

»Das würde ich lassen.« Der Wachmann deutete auf die Anzeigentafel der Kabine. »Der Fahrstuhl wurde vom Erdgeschoss angefordert. Vielleicht fährt er erst nach unten.«

Angefordert? Vermutlich waren die da unten gegen die Knöpfe gekommen. Trotz seines Zustandes hatte der Wachmann die Lage offensichtlich erfasst.

»Prima. Dann rufen wir für Sie dort einen Arzt.« Im Gegensatz zu dem Wachmann hatte der Banker überhaupt nichts verstanden.

Demir ignorierte ihn. »Glaubst du, dass der Fahrstuhl erst nach unten fährt? Wir sind doch fast oben.«

»Willst du das riskieren?«

Das wollte Demir nicht. Er fuchtelte mit seiner Pistole und wies den Anzugträger an, aus dem Fahrstuhl zu treten. »Nicht alleine. Hilf dem Mann.« Der Banker machte einen Schritt zurück und griff dem Verletzten unter die Arme.

»Kannst du den Fahrstuhl blockieren?«

Der Wachmann nickte und zog eine Plastikkarte aus seiner Brusttasche. Das Stück Plastik zitterte in seiner Hand. »Damit kann ich den Fahrstuhl ausschalten.«

»Dann mach es.«

Der Wachmann zog die Karte durch ein Lesegerät und tippte auf einem Zahlenfeld herum. Dann stolperte er zusammen mit dem Banker aus der Fahrstuhlkabine. Demir lief hinter den beiden her. Der Wachmann hatte einen Arm um die Schulter des Bankers gelegt. Mit der freien Hand stützte er sich an der Wand ab, zog eine blutige Spur. Demir dachte an Bilal. Der hatte es nicht geschafft. So viel stand fest. Was sollte er tun? Nach unten ging es nicht. Hier zu bleiben war auch keine Lösung. Also gab es nur den Weg nach oben. »Wir haben wirkliche keine Zeit.« Mit den Worten griff Demir dem Wachmann von der anderen Seite um die Taille. Zu dritt stolperten sie den Flur entlang.

 

So hatte Demir noch nie eine Party gesprengt. Als er mit dem sterbenden Wachmann und dem Banker im Schlepptau das Treppenhaus im sechzigsten Stockwerk verließ und in einen verbreiterten Flurbereich trat, wurde er bereits erwartet. Einhundert Gäste in Abendgarderobe starrten ihn an. Das Mädchen hatte sein Kommen offenbar angekündigt. Das überraschte ihn. Er hatte damit gerechnet, dass sie nach unten fliehen würde.

Kaum hatten sie das Foyer betreten, sank der Wachmann zu Boden. Ein Blutfleck breitete sich unter ihm auf der Auslegware aus. Gleichzeitig nutzte der Anzugträger die Gunst der Stunde, machte auf den Absatz kehrt und stolperte zurück ins Treppenhaus. Die Partygäste schwiegen Demir an, als erwarteten sie eine Rede. Seiner Panik zum Trotz erkannte er, dass er von den Anwesenden keine Hilfe erwarten konnte. Er hatte von Natur aus ein Gespür für Menschen, las in ihren Gesichtern. Demir sah sich um. Es war eine opulente Party. Eine geöffnete Flügeltür führte zu einem Saal. Im Inneren erkannte Demir Stuhlreihen und den Teil eines Klavierflügels. An der Fensterfront des Foyers reihten sich mehrere längliche Tische, auf denen ein großzügiges Büfett aufgebaut war. In mit Eis gefüllten Kübeln standen Sektflaschen. Es gab sogar eine Art Aquarium, in dem Hummer mit gefesselten Scheren auf ihre Hinrichtung warteten. Für die Schalentiere interessierte sich aber gerade keiner. Die Anwesenden taxierten Demir, wichen vor ihm zurück.

»Ich will Ihnen nichts tun«, versuchte er zu beruhigen. Niemand regte sich. Demir sah an sich selbst hinunter und betrachtete die Waffe in seiner Hand. Schnell steckte er die Pistole in seinen Gürtel.

»Ich rufe die Polizei.« Demir konnte nicht ausmachen, wer da gesprochen hatte. Aber der Mann bekam murmelnde Unterstützung von den Umstehenden.

»Rufen Sie besser das Militär«, sagte Demir.

»Lassen Sie uns gehen. Hier hat Ihnen niemand etwas getan«, rief eine Frau aus der Menge. Dachten die, er sei ein Amokläufer? Oder vielleicht ein durchgeknallter Gotteskämpfer? Er hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Jeder kann gehen. Ich halte keinen auf. Aber sie haben keine Ahnung, was dort unten los ist.« Demir machte ein paar schnelle Schritte in Richtung Fenster. Die Menge teilte sich, gab ihm den Weg frei. Demir trat an die Glasscheibe heran. Ein fantastischer Ausblick, die Stadt glitzerte. Demir achtete nicht darauf. Er versuchte in steilem Winkel die Fassade hinabzusehen. Es ging nicht. Die Straße konnte er nicht erkennen. Dafür sah er einen Teil der Taunusanlage, eine längliche Parkanlage, die das Bahnhofsgebiet von der Innenstadt trennte. Zwischen den Bäumen flackerte ein Blaulicht. Einige der Gäste, die ebenfalls an der Fensterfront standen, folgten seinem Blick. Eine Frau schrie auf. »Da ist die Polizei. Sehen Sie!« Die Alte hatte keinen Dunst. Demir war sich sicher, dass das Blaulicht so lange flackern würde, bis die Batterie des Fahrzeugs den Geist aufgab.

»Da unten ist die Hölle ausgebrochen. Ich habe keine Ahnung, was los ist. Aber die sind alle verrückt geworden.« Er drehte sich zu den Leuten herum. »Wenn Sie da runtergehen, sterben Sie. Die bringen Sie um.«

Aus den Augenwinkeln erkannte Demir, dass einige der Gäste auf den Rest seiner Ansprache verzichteten und in das Treppenhaus stürmten. Andere zögerten noch, fürchteten, dass der Mann mit der Pistole doch schießen würde. Die dachten wirklich, dass er die Party überfallen wollte. Wozu? Taschenuhren und Geldbeutel? Es blieb keine Zeit, diesen Irrtum aufzuklären.

Demir verlor das Interesse an den Menschen. Jeder musste seinen persönlichen Weg in das Verderben finden. Wichtiger war es für ihn, sich mit seiner eigenen Situation zu beschäftigen. Er begann fieberhaft, nach Lösungen zu suchen. Der Weg nach unten schied als Option aus. Das schränkte die Möglichkeiten empfindlich ein. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass er sich in einer Sackgasse befand. Natürlich hatte er von Anfang an gewusst, dass es nicht ewig weiter nach oben ging. Aber nun sprang die Erkenntnis ihn an. Demir besah sich das Büfett. Es gab zu essen und zu trinken. Immerhin. Er brauchte einen Raum, in dem er sich verschanzen konnte. Einen Raum mit einer stabilen Tür. Dort würde er seine Vorräte bunkern und abwarten.

Demir suchte nach einem geeigneten Versteck. Immer mehr Gäste verließen das Foyer und verschwanden im Treppenhaus. Ihm war es gleich. Die wären ihm ohnehin keine Hilfe. Im Gegenteil, sie machten nur die Portionen kleiner. Dann fiel ihm der Wachmann ein. Den würde er mitnehmen. Das schuldete er ihm. Demir fand ein geräumiges Büro, das über eine schwere Holztür verfügte. In dem Raum standen ein Fernseher und eine Musikanlage. Solange er Strom hatte, würde ihm das vielleicht nutzen. Er untersuchte die Tür. Sie öffnete in Richtung Flur. Das war schlecht. Wie sollte er die verbarrikadieren?

In diesem Moment sprang die Treppenhaustür auf. Ein geflohener Partygast stolperte zurück in den Flur. »Die sind alle wahnsinnig. Die kommen hier hoch.« Der Mann sah sich gehetzt um, rannte in wilder Flucht den Flur entlang. Demir verstand, was geschehen war. Die Partygäste waren schreiend die Treppen nach unten gepoltert. Mit dem Lärm hatten sie diese Irren angelockt, daran bestand kein Zweifel.

Die Panik wollte ihn zwingen seine Beine zu bewegen. Aber wohin? Planlos im Kreis umherrennen? Das übernahmen schon genügend andere. Um sein Versteck musste Demir sich keine Gedanken mehr machen. So schnell bekam er das niemals hin. Er rannte zum Treppenhaus und hörte die Schreie. Da unten rissen sie gerade die Partygäste in Stücke. Er konnte nicht einschätzen, wie viele Stockwerke zwischen ihm und der Meute lagen.

Sein Herz wanderte klopfend von seiner Brust in seinen Hals. Er ging rückwärts, drehte sich um und prallte einen Schritt zurück. Unerwartet stand der Wachmann vor ihm. Er sah aus, als hätte ihm jemand den Stöpsel gezogen, entleert, kalkig. »Wir müssen aufs Dach«, presste der Mann hervor. »Sind fünf Stockwerke.« Er war leicht in die Knie gegangen, hielt den Oberkörper nach vorne gebeugt. Die Schmerzen krümmten ihn. Mit Mühe streckte er sein Kinn in Richtung Treppenhaus, deutete den Weg an. Das würden sie nicht gemeinsam schaffen, dazu war der Mann zu schwach. Demir durfte sich nicht um ihn kümmern, er musste sich selbst retten. Sein Blick pendelte zwischen dem Wachmann und dem Treppenhaus hin und her.

Er konnte es nicht. Seine Schuldgefühle zwangen ihn, gegen sein besseres Wissen zu handeln. Er legte den Arm des Wachmanns um seine Schultern und stützte ihn. Der Typ wog so viel wie ein durchgeweichter Zementsack. Er musste den Mann sofort fallen lassen. Das war Selbstmord. Aber statt ihn loszulassen, humpelten sie gemeinsam in Richtung Treppenhaus. Demir merkte, dass ihnen seine Fahrstuhlbekanntschaft folgte. Das Mädchen war zu seiner Verwunderung dageblieben.

»Du musst mir helfen. Wir müssen aufs Dach rauf. Ich schaffe das nicht allein.« Er setzte keine Hoffnung in seinen Appell. Zu Demirs Überraschung griff sie dem Verletzten von der anderen Seite unter die Arme. Zusammen schleppten sie den Wachmann die Stufen hinauf. Die restlichen Gäste schlossen sich an. Wenn es nicht runter ging, dann eben hoch. Nur weg von hier. Die Schreie des Massakers unter ihnen hallten durch das Treppenhaus. Kamen die näher? In kürzester Zeit hatten die Verfolger fast sechzig Stockwerke hinter sich gebracht. Wie war das möglich? Die waren doch nicht alle Hochleistungssportler.

Demir und das Mädchen hievten den Verwundeten Stufe um Stufe hinauf. Noch eine Etage und es war geschafft. Demir hoffte, dass es dann auch irgendwie weiter ging. Ansonsten wären sie am Ende der Reise angekommen. Wieder Schreie. Ganz nah. Sicher weniger als zehn Etagen unter ihnen. »Los, los«, feuerte er das Mädchen an. Sie stemmte sich gegen die Achseln des Verletzten, stöhnte vor Anstrengung. Demir stolperte, stieß sich schmerzhaft das Knie an einer Stufe an. Fast wären sie gemeinsam gestürzt. Keuchend erreichten sie das Ende der Treppe. Oben standen bereits fünf Gäste vor einer verschlossenen Stahltür. In ihrer Panik schlugen sie auf die Tür ein, als gäbe es auf dem Dach jemanden, der ihnen öffnen könnte.

»Was jetzt?« Demir sah den Wachmann an. Der kämpfte mit der Bewusstlosigkeit. Seine Augenlider flackerten. »Mann, Alter. Was jetzt?«

»Chipkarte.« Der Mann bewegte den Kopf, deutete mit dem Kinn nach unten. Demir fingerte in der Brusttasche des blutverschmierten Hemdes herum. Fand die Plastikkarte.

Inzwischen hatten sich noch eine Handvoll Nachzügler eingefunden. Mittlerweile hatte auch der größte Trottel begriffen, dass es nur noch nach oben ging. Insgesamt standen ein Dutzend Menschen vor der Dachtür. Hinter Demir wurde das Gedränge stärker, er bekam einen Stoß in den Rücken. Die Karte rutschte ihm aus der Hand. Hastig griff er nach ihr und fing sie im Flug auf. Neben der Tür hing ein Lesegerät an der Wand. Ohne den Wachmann zu fragen, zog er die Karte durch den Schlitz. Die Tür gab ein Klicken von sich und sprang einen Spalt weit auf. Demir warf sich gegen das Türblatt. Er stolperte nach draußen, zog den Wachmann mit sich, der nach drei Schritten zusammenbrach und auf dem Kies des Daches liegen blieb. Die Menschen drängten ins Freie. »Einfach zumachen. Nur zumachen.« Der Wachmann schloss die Augen. Demir sprang zurück zur Tür, durfte nicht den Moment verpassen, in dem er sie schließen musste. Er sah in den Treppenflur. Ein dicker Mann kam keuchend die Treppe nach oben. Demir hörte das Trampeln schneller Schritte. Da war jemand direkt hinter ihm. Der Dicke erreichte die Tür. Demir griff ihn am Kragen und zog ihn nach draußen. Er zögerte. Wer kam da hochgerannt? Er wollte keinem Flüchtenden die Tür vor der Nase zuschlagen. Nicht noch einmal töten. Sein Herz raste. Die Schritte stampften die Treppe hoch. Viel zu schnell. Zu viele Füße. Vielleicht zwei oder drei Sekunden blieben ihm noch. Demir fasste das Türblatt mit beiden Händen.

Er konnte nicht warten. Es war zu viel. Mit Schwung schlug er die Tür ins Schloss. Eine kleine Lampe neben dem Türrahmen schaltete von Grün auf Rot. Er trat zwei Schritte zurück. Dann schlug es gegen die Tür, dass er meinte, sie würde aus den Angeln gesprengt. Vor Schreck taumelte Demir rückwärts, verlor das Gleichgewicht und landete unsanft im Kies. Sofort sprang er wieder auf die Beine.

»Wir müssen sie aufmachen. Da sind noch Menschen.« Ein älterer Herr mit weißen Haaren humpelte auf die Tür zu. Mit der linken Hand hielt er sich das Knie.

»Hier wird nichts mehr aufgemacht.« Demir steckte sich die Karte in die Hosentasche. »Woher wollen Sie wissen, wer da an der Tür ist? Diese Verrückten waren uns dicht auf den Fersen.«

Eine Frau sprang Demir bei. »Er hat recht. Wenn wir jetzt öffnen, dann kriegen wir die Tü̈r nie wieder zu.«

Wenigstens machte die Stahltü̈r einen wertigen Eindruck. Der Treppenabsatz dahinter war nicht besonders geräumig. Es würden nicht viele gleichzeitig gegen die Tür drücken können. Der Mann mit den weißen Haaren näherte sich Demir. »Sie machen jetzt die Tür auf! Meine Frau ist da unten.«

Demir wich zurück. »Komm mir nicht zu nahe. Die Tür bleibt zu.«

»Ich warne Sie. Machen Sie die Tü̈r auf!« Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Nun mischten sich auch andere ein. Redeten wild durcheinander. Einige unterstützten den alten Mann. Verlangten von Demir, er solle aufmachen. Zwei Männer griffen sich gegenseitig an den Kragen. Eine Frau schrie auf und stürzte zu Boden. Demir zog seine Waffe und schoss in die Luft. Schlagartig wurde es ruhig. »Die Tür bleibt zu. Wenn mir jemand die Karte abnehmen will, schieß ich ihn über den Haufen.«

»Was nicht das erste Mal wäre«, meldete sich das Mädchen aus dem Fahrstuhl zu Wort, die Augen fest auf Demir gerichtet. Er wich ihrem Blick aus.

»Da ist keiner mehr von uns.« Er zeigte auf die Tür. »Glauben Sie, dass Ihre Frau so gegen die Tür schlägt?« Demir wandte sich an den alten Mann. »Tut mir leid. Aber da ist keiner mehr. Nur noch diese Viecher.«

Die Menschen auf dem Dach sahen zur Tür. Einige Minuten lang sagte keiner etwas. Nur das monotone Hämmern war zu hören. Der Weißhaarige vergrub das Gesicht in den Händen.

»Und? Was machen wir jetzt?«, fragte eine der Frauen.

Demir zuckte mit den Schultern und setzte sich auf ein großes Rohr der Klimaanlage. Er zog seine Zigaretten aus der Hosentasche, bemerkte, dass ihm etwas fehlte. Er stieß einen leisen Fluch aus. »Hat jemand Feuer?«