25. Fernsteuerung

 

 

Aila Torbeck

 

Nachdem Torbeck die Pause ausgerufen hatte, begannen sofort hitzige Diskussionen. Einige Minuten später wurde es ohne ersichtlichen Grund still. Die Anwesenden saßen in Gedanken versunken auf ihren Plätzen. Die Umweltanlage presste zusammen mit der kühlen Luft Depressionen in den Raum. Es wurde Zeit. »Ich denke, wir sollten weitermachen«, sagte Torbeck.

Dr. Reza schob seinen Stuhl zurück und stellte sich hin. Danielsens Assistent war ein arabischstämmiger Mann in den Dreißigern. Er war der Einzige, der frisch rasiert war. »Ich weise darauf hin, dass fast alles, was ich Ihnen nun sage, auf ungesicherten Arbeitshypothesen beruht. Genau genommen wissen wir nicht einmal, ob es sich bei der Seuche tatsächlich um einen Ausbruch von MCHI handelt. Aber ich befürchte, dass wir davon ausgehen müssen.« Reza hustete in die Faust, musste seine Vortragsstimme finden. »Der Virus brach als Erstes in Asien aus. Vermutlich in China. Wenige Stunden später aktivierte sich der Erreger in Nordamerika, dann in Afrika, jetzt ist Europa betroffen.« Der Wissenschaftler nahm eine Fernbedienung, die auf dem Tisch lag. Hinter ihm flackerte die Wand und zeigte eine Weltkarte. »Sie sehen hier den zeitlichen Verlauf.«

Auf dem Bildschirm war oben links eine Digitaluhr eingeblendet. Mit dem zeitgerafften Lauf der Ziffern veränderte sich die Karte. Immer mehr rote Farbpunkte waren zu sehen. Torbeck sah gebannt zu, wie ein Kontinent nach dem anderen mit Farbflecken bekleckert wurde, die sich vergrößerten und ineinanderflossen.

Reza ließ die Bilder kurz wirken und fuhr dann fort. »Wie Professor Danielsen erklärt hat, ist der Virus im menschlichen Erbgut angelegt. Wir haben erfahren, dass diese Tatsache nicht bemerkenswert ist. Dass der Virus aber in einem Zellcluster manifestiert hat und auf dieses Areal beschränkt, ist hingegen hochgradig ungewöhnlich. Was uns zu der Frage führt, die uns Wissenschaftler seit Jahren beschäftigt. Was geschieht, wenn der Virus aus seinem Gefängnis ausbricht? Da die Tollwut von ihm abstammt, sind wir davon ausgegangen, dass er ein ähnlich aggressives Krankheitsbild verursacht. Diese Befürchtung hat sich mehr als bestätigt.«

Der leitende Ingenieur Berger unterbrach den Doktor. »Warum ist der Virus jetzt ausgebrochen? Hätte das nicht schon vor Jahren passieren können?«

»Die erste Frage kann ich nicht beantworten. Bei der zweiten lautet die Antwort: ja. Es gab einen auslösenden Moment, der den Virus fast zeitgleich auf der ganzen Welt aktivierte. Das hätte sicher auch schon früher geschehen können.«

»Und was war dieser Auslöser?«, wollte Berger wissen.

»Das ist unbekannt. Aber vor sechs Tagen wurde beobachtet, dass sich die Proben im Labor verändert haben. Die Zellen des Clusters begannen eine chemische Verbindung zu generieren und schleusten diese in leere Virushüllen ein. Wir hatten bis jetzt nicht genügend Zeit, die Verbindung zu untersuchen. Daher können wir nur sagen, dass es sich bei der Substanz um eine Art Endorphin handelt. Diese völlig unerwartete Aktivität des Clusters war aber Anlass genug, Fenris unter dem Deckmantel einer Vollübung in den Alarmzustand zu versetzen.«

Torbeck merkte auf. Sieh mal an. So lief das also. Sie erkannte, wie weit sie vom eigentlichen Geschehen entfernt war, nicht mehr als eine Statistin mit goldenen Sternen auf der Schulter. »Was machen diese Endorphine?«, wollte sie wissen.

»Dazu komme ich gleich. Die...«

»Soll das heißen, dass jeder Mensch, der einen Zellcluster trägt, diesen Stoff produziert?« Das war wieder Berger.

Es wurde lauter im Raum. Reza hob beide Arme. »So geht das nicht. Wenn Sie mich fortwährend unterbrechen, kann ich nur kleinteilige Antworten geben. Das führt nirgendwohin. Ich würde Sie bitten, sich meinen Vortrag in Ruhe anzuhören. Im Anschluss werde ich versuchen, offene Fragen zu beantworten.«

»Sie haben den Doktor gehört. Also hören wir uns an, was er zu sagen hat.« Wiegner hatte sich kurz erhoben und das aufkommende Geplapper beendet.

»Danke. Derzeit ist unser Hauptlabor noch auf dem Bundeswehrgelände Altmark untergebracht. Wie bereits gesagt, wurde dort vor sechs Tagen in allen MCHI-Proben eine starke biochemische Aktivität festgestellt. Auch wenn keine MCHI-Viruspartikel produziert wurden, so stand doch fest, dass sich der Zellcluster aktiviert hatte. Was den Cluster aktiviert hat, ist nicht bekannt. Da die Seuche innerhalb einer extrem kurzen Zeitspanne weltweit ausgebrochen ist, ist davon auszugehen, dass die Aktivierung ebenfalls annähernd zeitgleich stattgefunden hat. Das wiederum legt den Schluss nahe, dass es sich bei dem Auslöser um etwas handeln muss, das die Menschen gleichzeitig traf und sich nicht erst verbreiten musste. Denn das hätte Zeit gebraucht.« Dr. Reza rieb sich die Nasenwurzel. Er sah müde aus. »Seit drei Jahren arbeiten wir mit einem Überwachungsprogramm, das uns hilft, besondere Vorkommnisse auf der ganzen Welt frühzeitig zu erkennen. Das Programm überwacht unter anderem Nachrichtensendungen, Zeitungsberichte sowie das Internet. Die Informationen werden einer semantischen und mathematischen Analyse unterzogen. Zwei Tage nachdem der Zellcluster mit seinen Aktivitäten begann, machte uns der Computer auf einen Effekt aufmerksam, den wir ohne ihn nicht bemerkt hätten. Das Überwachungsprogramm stellte fest, dass es überall auf der Welt Nachrichten über Versammlungen mit extrem großen Menschenmengen gab. Überfüllte Stadien und Schwimmbäder, Demonstrationen mit weitaus höheren Teilnehmerzahlen als erwartet, Open Air-Konzerte, die aufgrund des Andrangs abgesagt werden mussten. Die Auflistung ist nicht abschließend. Jede dieser Meldungen ist isoliert betrachtet bedeutungslos. Aufgrund des erhöhten Auftretens dieser Ereignisse erkannte das Programm hierin jedoch eine Anomalie. Seit diesem Zeitpunkt beobachteten wir die weitere Entwicklung. Mit jedem Tag verstärkte sich der Effekt. Wir waren uns schnell sicher, dass hier nicht der Zufall am Werk war. Die Menschen zeigten eindeutig eine zunehmende Tendenz, sich in außergewöhnlicher Anzahl zu versammeln. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs erreichte das Phänomen seinen Höhepunkt. Ideale Bedingungen für einen Seuchenausbruch. Wir nehmen an, dass sich hierfür die vom Cluster produzierte Substanz verantwortlich zeigt. Durch die Atemwege ausgestoßen, hat sie zum Beispiel die Atemluft in geschlossenen Räumen in ein Aerosol mit psychotropischer Wirkung verwandelt, welches bei den Betroffenen das Verlangen weckte, sich anderen Menschen anzuschließen.«

»Wie kann ein Virus das Verhalten eines Menschen steuern? Das ist doch unmöglich.« Wiegner war leichenblass. Reza wollte weitersprechen, wurde aber durch eine Geste Danielsens unterbrochen. »Das ist es absolut nicht«, sagte der Professor mit ruhiger Stimme. »Ich gebe Ihnen zwei Beispiele, von denen besonders das zweite Sie überzeugen wird. Möglicherweise haben Sie schon einmal etwas über den Einzeller Toxoplasma gondii gehört. Hin und wieder wird über ihn in den Medien berichtet.«

Einige der Anwesenden nickten.

»Toxoplasma gondii lebt im Darm von Hauskatzen. Über den Kot der Katzen stecken sich insbesondere Ratten an. Im Gehirn und in den Muskeln der Ratten sammelt sich Toxoplasma und bildet dort Ansammlungen von Zellen, die man Zysten nennt. Katzen fressen Ratten und durch den Nahrungskreislauf gelangen die Zysten zusammen mit Toxoplasma wieder in die Katze. In deren Darm beginnt der Kreislauf von vorne. Versuche zeigten, dass Toxoplasma das Gehirn der Ratten beeinflusst. Die Veränderung bewirkt, dass der Geruch von Katzenurin auf sie nicht mehr abschreckend wirkt. Im Gegenteil. Anstatt das Hirnareal für Angst zu aktivieren, stimuliert der Geruch nun das Areal für sexuelle Attraktion. Die Ratte fühlt sich durch den Geruch angezogen. Der Erreger hat gelernt, das Gehirn der Ratte biochemisch zu beeinflussen. Das Interessante ist, dass ein Drittel aller Menschen den Erreger ebenfalls in sich trägt. Studien lassen vermuten, dass Menschen mit Toxoplasma statistisch gesehen, mit größerer Wahrscheinlichkeit in Verkehrsunfälle verwickelt sind. Auch scheint es bei den Betroffenen ein erhöhtes Selbstmordrisiko zu geben. Die Forschung steht hier noch am Anfang. Ich selber habe aber keinen Zweifel. Denn wenn Toxoplasma ein Rattengehirn beeinflussen kann, warum dann nicht auch das Gehirn eines Menschen? Gehirn ist Gehirn, Chemie ist Chemie. Natürlich sind die Auswirkungen auf den Menschen andersgeartet. Schließlich fressen Katzen keine Menschen.«

Torbeck erinnerte sich. »Ich habe darüber tatsächlich schon mal etwas gelesen. In dem Artikel ging es darum, dass besonders Sandkästen auf Spielplätzen mit dem Erreger infiziert sind, weil sie öffentlichen Katzentoiletten gleichkommen. Ich kann mich aber auch daran erinnern, dass viele der Studien, die die Gefährlichkeit von Toxoplasma betreffen, angezweifelt wurden.«

Der Professor nickte. »Das zweite Beispiel liegt so sehr auf der Hand, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann und ist hoffentlich von größerer Überzeugungskraft. Die Tollwut. Die Krankheit kennt zwei verschiedene Verlaufsformen. Einen stummen Verlauf, in dem sich das betroffene Individuum zurückzieht und den bekannteren aggressiven Verlauf. Sie alle haben schon Bilder von tollwütigen Tieren gesehen. Nehmen wir als Beispiel einen Hund. Er fletscht die Zähne, ist beißwütig und hat Schaum an den Lefzen. Warum? Die meisten antworten, das mache die Krankheit. Das ist richtig. Aber warum macht sie das?« Der Professor sah in die Runde. »Die Antwort lautet: weil sie sich verbreiten will. Ein Virus kann sich aber nur in einer Wirtszelle vermehren. Er muss in sie eindringen. Die erste Aufgabe, die ein Virus hierzu bewältigen muss, ist von einem Wirt in den nächsten zu gelangen. Denn stirbt sein Wirt, dann wird auch er vernichtet. Wie gelingt ihm diese Reise? Eine Möglichkeit ist es, sich der Außenwelt so weit wie möglich anzupassen, also solange es geht außerhalb eines Wirtskörpers funktionsfähig zu bleiben. Erreger, die hierzu in der Lage sind, besitzen eine sogenannte hohe Umweltstabilität. So funktionieren Viren, die eine Erkältung übertragen. Die Tollwut kann das nicht. Eine Übertragung durch Tröpfcheninfektion ist unwahrscheinlich. Der Tollwutvirus musste sich also einen anderen Trick einfallen lassen. Und der geht so. Bleiben wir bei unserem Hund. Die Viren sammeln sich im Speichel. Um die Konzentration an Virenpartikeln hochzuhalten, lähmt der Erreger den Nervus glossopharyngeus und den Nervus vagus. Das sind die hinteren Hirnnerven. Dies führt zu einer Rachenlähmung. Der Hund kann den Speichel nicht mehr abschlucken. Es bildet sich der bekannte Schaum an den Lefzen. Das ist die halbe Miete. Jetzt muss der Virus aber noch den Raum zwischen dem bereits infizierten Hund und einem gesunden überbrücken. Da der Rabiesvirus wie gesagt eine geringe Umweltstabilität besitzt, kann er außerhalb seines Wirtes nicht existieren. Darum lässt er sich zum nächsten Wirt tragen. Er steigert die Aggression des Tieres. Dies führt dazu, dass der Hund andere Tiere beißt und der Virus aus seinem Speichel in die Blutbahn des noch gesunden Tieres gelangt. Der Virus steuert den Hund. Was bei anderen Wirbeltieren funktioniert, macht auch beim Menschen nicht halt. Die Substanz, die der Zellcluster ausgeschüttet hat, weist Ähnlichkeiten mit endogenen Opioiden und Endorphinen auf. Diese haben mit Sicherheit eine Wirkung auf unser Gehirn. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Substanz dafür verantwortlich ist, dass die Menschen sich in besonderem Maße versammelt haben. Dies ist ein Verhalten, das eindeutig im Interesse des Erregers liegt. Natürlich macht die Substanz die Menschen nicht zu Robotern. Wer zum Beispiel sein Kind hüten muss oder sich auf der Arbeit befindet, der wird nicht alles stehen und liegen lassen. Aber viele sind dem Ruf gefolgt.«

Wiegner räusperte sich. »Ich brauche einen Schnaps.« Da war Torbeck ganz bei ihrem Stellvertreter.

Danielsen gab das Wort zurück an seinen Assistenten. »Ich zeige Ihnen jetzt die Aufnahme einer Liveübertragung aus einem Stadion. Wenn Sie die Bilder sehen, dann sind Sie besser in der Lage zu verstehen, was ich Ihnen noch zu erklären habe«, setzte Reza seinen Vortrag fort. Auf dem Bildschirm hinter dem Doktor verschwand das Bild der rot angemalten Weltkarte. Nun waren die Tribünen eines Stadions zu sehen, das bis auf den letzten Platz gefüllt war. Die Kamera schwenkte kurz durch die Reihen der jubelnden Massen. Dann gab es einen Schnitt. Jetzt wurden in einer Großaufnahme die Sportler gezeigt. In ihrer Aufmachung ähnelten sie amerikanischen Baseballspielern. »Was Sie hier sehen, ist die Liveübertragung eines Cricket-Spiels in Indien, genauer gesagt in Surat. Das ist eine Stadt mit ungefähr fünf Millionen Einwohnern. Wir haben dutzende solcher Aufnahmen. Sie stammen wie hier von Übertragungen aus dem Fernsehen oder von freien Webcams.«

Torbeck sah dem seltsamen Treiben auf dem Spielfeld zu. Die Sportler standen scheinbar teilnahmslos herum. Der Sinn des Spiels erschloss sich ihr nicht. Dann geschah doch etwas. Einer der Spieler raffte sich auf und warf einen Ball. In diesem Moment schwenkte die Kamera in Richtung der Tribüne, suchte kurz und zoomte dann in die Zuschauermenge. Es sah aus wie eine Massenschlägerei. Sekunden später erfolgte ein Schnitt auf eine andere Kamera. In einer anderen Stadionkurve sah es nicht besser aus. Die Bilder wurden hektischer. Es wurde hin und her geschaltet. Durch die Menschenmasse lief eine Schockwelle. Dr. Reza stoppte die Aufnahme. »Was Sie hier gesehen haben, war der Ausbruch der Krankheit. Analysen des Bildmaterials und Vergleiche mit anderen Aufnahmen zeigten, dass MCHI jeweils innerhalb weniger Minuten zum Ausbruch gelangte. Wir haben also ein Problem der Gleichzeitigkeit. Es macht Sinn anzunehmen, dass der Ausbruch von MCHI über die Pheromondichte gesteuert wird. Des Weiteren haben wir noch einen anderen interessanten Befund.« Reza benutzte die Fernbedienung und das Bild wechselte wieder. Es war eine Art Park zu sehen, der von schräg oben aufgenommen wurde. Auf der Grünfläche standen dicht an dicht Tausende von Menschen. Viele trugen Plakate. Möglicherweise eine Demonstration. »Das sind Aufnahmen einer fest installierten Webcam in Sydney.« Reza betätigte den Suchlauf. Durch die Zeitraffer begannen die Menschen zu zucken und hektisch hin und her zu wackeln. Der Wissenschaftler ließ die Aufnahme wieder in normaler Geschwindigkeit laufen. Die Demonstration hatte sich in eine Schlacht gewandelt. »Haben Sie das gesehen?«, fragte Reza. Torbeck hatte das Interesse an solchen Bildern verloren. Am liebsten würde sie gar nichts mehr davon sehen. »Nein? Wir zunächst auch nicht.« Die Aufnahme lief rückwärts, stoppte. Dann wurde eine Ausschnittsvergrößerung gezeigt. Torbeck sah nur Menschen, die übereinander herfielen. Die Aufnahme stoppte ein weiteres Mal, wurde wieder zurückgesetzt. Dann startete sie erneut, diesmal in Zeitlupe. Ein farbiger Kreis erschien, lenkte die Aufmerksamkeit in sein Zentrum. Jetzt erkannte sie es. Inmitten des grausamen Durcheinanders stand ein Mann in gebückter Haltung. Er hatte beide Hände schützend über seinen Kopf gelegt, konnte sich anscheinend vor Schreck nicht mehr bewegen. Er wirkte wie eine verankerte Boje in schwerer See. Das Bild fror ein. »Wie Sie sehen, geschieht dem Mann nichts. Zunächst hielten wir das für einen Zufall.« Während Reza sprach, begann die Aufnahme weiterzulaufen. Der Mann blieb zunächst bewegungslos, um dann plötzlich auf die Knie zu fallen. Für einen Moment verharrte er auf allen Vieren, begann sich zu schütteln. Dann sprang er auf wie ein Wolf, der ein Lamm reißen wollte. Der Bildschirm wurde schwarz. Dafür war Torbeck dankbar.

»Bei der Analyse des uns zur Verfügung stehenden Bildmaterials, konnten wir feststellen, dass die meisten Personen, die zunächst verschont blieben, innerhalb kürzester Zeit in die symptomatische Phase übergingen. Daher nehmen wir an, dass Erkrankte in der Lage sind zu erkennen, ob es bei einer anderen Person zu einem Ausbruch des Virus kommen wird. Oder sie erkennen zumindest, ob die Betroffenen einen Cluster tragen.«

Torbeck fühlte sich wie betäubt. Sie musste an Katta denken. Was war, wenn sie einen solchen Cluster in sich trug? Hatte sie sich bereits in einen solchen Zombie verwandelt? Der Gedanke daran war noch unerträglicher als an ihren möglichen Tod.

»Die nächste Frage, die gestellt werden muss, ist folgende: Wie hoch sind die Verluste innerhalb der Bevölkerung? Es ist klar, dass wir diesbezüglich nur geschätzte Angaben machen können. Da MCHI mit der Tollwut verwandt ist, können wir versuchen, sie miteinander zu vergleichen. Für beide Krankheiten ergeben sich zwei Übertragungswege. Der erste ist der Biss, der zweite die Tröpfcheninfektion. Eine Tröpfcheninfektion ist bei der Tollwut möglich, aber unwahrscheinlich. Allerdings haben wir diesbezüglich keine Informationen, die MCHI betreffen. Wir vermuten aber, dass es sich hier ähnlich verhält. Die Zahlen, die ich Ihnen jetzt vorstelle, gelten für eine Übertragung durch einen Biss. Der Kontagionsindex gibt an, wie viele Individuen nach einem Kontakt mit dem Erreger erkranken. Hierbei ist es zunächst unerheblich, ob eine Krankheit in die symptomatische Phase übergeht oder nicht. Der Kontagionsindex für Tollwut beträgt 15 Prozent. Ob eine Krankheit tatsächlich ausbricht, beschreibt der Manifestationsindex. Dieser beträgt bei der Tollwut 20 Prozent. Als Letztes betrachten wir die Letalitätsrate der symptomatisch Erkrankten. Diese beträgt bei der Tollwut 100 Prozent. Die Krankheit führt nach ihrem symptomatischen Ausbruch unweigerlich zum Tod. Haben 1.000 Menschen Kontakt mit dem Tollwutvirus, erkranken von ihnen 150. Von diesen 150 erkranken 30 symptomatisch. Da alle symptomatisch Erkrankten auch sterben, entspricht der Manifestationsindex der Letalitätsrate. Von 1.000 Menschen sterben nach Kontakt mit der Tollwut also 30. Das ist eine Zahl, die zunächst nicht sonderlich erschreckend wirkt. Leider ist MCHI um ein Vielfaches aggressiver. Sie alle haben die Bilder gesehen. Wir haben Hunderte von diesen Aufnahmen. Das Erste, was wir feststellten, war, dass MCHI eine unglaublich kurze Inkubationszeit hat. Bei der Tollwut sind dies in der Regel mehrere Wochen. Bei MCHI liegt sie zwischen 30 Sekunden und 5 Minuten. Jedenfalls nach einer Bissattacke. Da die Inkubationszeit so kurz ist, konnten wir Beobachtungen hinsichtlich der Virulenz anstellen. Hierbei ist zu beachten, dass wir nicht wissen, ob die symptomatisch Erkrankten sterben. Wir setzen aber hier voraus, dass MCHI dieselbe Letalität aufweist wie die Tollwut. Am Ende gelangten wir zu folgender Formel. Sie ist mathematisch nicht völlig korrekt, aber anschaulich. Kontagionsindex gleich Manifestationsindex gleich Letalitätsrate. Die Zahl für den Kontagionsindex lautet 97 Prozent. Wobei die fehlenden drei Prozent einer statistischen Fehlerquelle geschuldet sind. Im Klartext. Von 1.000 Menschen, die durch einen Biss in den Kontakt mit MCHI gekommen sind, sterben 970. Möglicherweise auch mehr. Wie lange es dauert, bis der Tod eintritt, ist unbekannt. Dies hängt auch davon ab, ob Infizierte noch in der Lage sind, sich mit Flüssigkeit und Nahrung zu versorgen.« Reza ließ die Worte wirken, ging zum Tisch und schenkte sich einen Kaffee ein. Im Raum war es totenstill. »Die Ansteckungsrate wird leider noch durch einen anderen Faktor dramatisch erhöht. Das Aggressionspotenzial der Infizierten ist ungleich höher als bei der Tollwut. Die Erkrankten machen regelrecht Jagd auf Gesunde. Dieser Jagdfaktor ist rechnerisch kaum zu erfassen. Das alleine ist mehr als eine Katastrophe. Aber immer noch nicht alles. Auch in der Gruppe der Nichtinfizierten müssen wir von einer hohen Mortalität ausgehen. Ich zähle auf: Tod durch andere Krankheiten, Unfall, Suizid, Mangelversorgung, Tötungsdelikte im Kampf um Ressourcen.«

»Reicht das, um die Menschheit auszulöschen?«, wollte Torbeck wissen.

»Schwer zu sagen. Vermutlich nicht. Aber es ist möglich, dass 90 Prozent aller Menschen sterben werden. Die Anzahl der Opfer hängt aber wesentlich von der Überlebensdauer der Infizierten ab. Je geringer die ist, desto weniger Opfer. Bei diesem Szenario fehlen natürlich noch andere Katastrophen, die kausal durch die Seuche bedingt werden. Ob zum Beispiel die Notabschaltung aller Atomreaktoren funktioniert, ist fragwürdig. Wir müssen mittelfristig mit nuklearen Katastrophen rechnen.«

Torbeck beschäftigte ein anderes Problem, das deutlich näher lag. »Warum sind wir hier im Bunker nicht betroffen? Es ist doch statistisch unwahrscheinlich, dass von uns keiner den Cluster trägt. Aber die Seuche ist nicht ausgebrochen.«

»Das kann verschiedene Gründe haben. Zum einen sind wir im Berg von Außeneinflüssen weitestgehend abgeschirmt. Die Luft, die wir atmen, wird stark aufbereitet, was die Pheromondichte senkt. Außerdem...« Reza zögerte. »Außerdem werden wir alle über die Nahrung mit antiviralen Substanzen versorgt.«

Ein Stimmengewirr hob an. »Sie verabreichen uns ohne unser Einverständnis Medikamente?« »Ich fasse es nicht.« »Ich wusste nicht, dass in meinem Vertrag steht, dass ich für medizinische Versuche zur Verfügung stehe.« »Was für ein Zeug gebt ihr uns?«

Torbeck hatte zu viele schlechte Informationen in sich aufgenommen, als dass sie sich über diese unfreiwillige Medikamentenaufnahmen aufregen könnte. Stattdessen beobachtete sie die Psychologin. Kranz saß da und spielte unablässig an ihrer Kette herum. Ihr Blick schien leer. Torbeck glaubte nicht, dass sie in Zukunft eine große Hilfe sein würde. Danielsen stand auf und versuchte die Besprechungsteilnehmer zu beruhigen. »Ich bitte Sie. Ich bitte Sie.«

Diese medizinischen Versuche interessierten Torbeck nicht. Sie hatte andere Sorgen. »Professor, ich frage Sie ganz direkt. Wird der Virus im Bunker ausbrechen?«

»Die Frage kann niemand beantworten«, sagte Danielsen.

»Können Sie mir verraten, wie ich mich jetzt verhalten soll? Hier leben fast 600 Menschen. Soll ich die alle im Unklaren lassen? Was sollen wir tun, wenn der Virus ausbricht? Dann ist die Anlage verloren. Oder soll ich es allen sagen? Soll ich jeden Einzelnen bewaffnen? Und dann? Wenn jemand einen Wutanfall hat oder schlechte Laune, wird er dann von einem Mechaniker in Panik erschossen?«

»Es tut mir leid, Frau Generalmajor. Aber das ist Ihrer Entscheidung überlassen.«

Ab jetzt schien das Leben nur noch aus unangenehmen Entscheidungen zu bestehen. Torbeck sah aus dem Augenwinkel, wie Wiegner kurz lächelte. Was war mit Wiegner los? Nervenzusammenbruch? Der Oberst beugte sich nach vorne wie ein Schüler, dem gerade etwas eingefallen war. »Dr. Reza. Sie haben gesagt, dass Infizierte andere Erkrankte, bei denen die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist, nicht angreifen.«

»So scheint es.«

»Dann haben Sie gesagt, dass die meisten Personen, die verschont blieben, zeitnah Symptome zeigten.«

»Ja.«

»Es ist also möglich, dass sich Erkrankte unter den Gesunden befinden, bei denen die Seuche erst noch ausbrechen wird. Also nicht zeitnah, sondern irgendwann in der Zukunft.«

»Das ist möglich.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir noch eine zweite Welle der Krankheit zu erwarten haben«, sagte Wiegner mit einem schiefen Lächeln.

»Was bringt Sie zu der Annahme?«

»Ich bin Soldat. Daher betrachte ich all das, was ich heute gehört habe, aus einer militärischen Perspektive. Der Virus ist nahezu perfekt. Die Art und Weise, wie er tötet, ist von unfassbarer Konsequenz. Für mich verhält sich der Virus wie eine ideale biologische Waffe. Eine Waffe, die die völlige Auslöschung unserer Art zum Ziel hat. Dieses Ziel kann der Virus nur erreichen, wenn es zu einem zweiten Ausbruch kommt.«

»Warum?«, fragte Reza.

»Weil der Mensch ein Herdentier ist. Er besitzt die Fähigkeit zur Reorganisation seiner sozialen Strukturen. Und wenn das geschieht, dann wird der Virus erneut zuschlagen.«

»Sie meinen, wie bei einem terroristischen Anschlag mit zwei Bomben?«

»Ja, so ähnlich. Die erste Bombe tötet viele Menschen. Die zweite zündet erst, wenn die Rettungskräfte eintreffen. So gesehen sind wir noch eine Zeit lang sicher.«

Danielsen stand auf und legte Reza die Hand auf die Schulter. Der setzte sich. Der Professor kraulte sich nachdenklich den Bart. »Wir müssen die Versiegelung der Anlage brechen«, sagte er schließlich.

Torbeck sah ihn fassungslos an.

»Wir brauchen Proben«, fuhr der Professor fort. »Was zurzeit der Welt wiederfährt, ist kein philosophisches Problem. Es hat extreme Auswirkungen und das bedeutet, dass wir handeln müssen.«

»Das darf ich nicht?«

»Wer verbietet es Ihnen?«

»Die Direktive.«

»Also eine Vorschrift.«

»So ist es.«

»Vorschriften haben aber keinen Sinn in einer solchen Situation. Oder würden Sie sich Gedanken darüber machen, ob Ihr Wagen gerade im Halteverbot steht.«

»Ich denke, dass man das nicht miteinander vergleichen kann.«

»Sie haben recht.« Er hielt kurz inne. »Wir stehen vor dem Ende der Zeit und dieser Umstand zwingt uns, mit allen Mittel zu kämpfen. Denn, wenn wir diesen Kampf verlieren, dann wird es der letzte gewesen sein.« Niemand redete. »Ich gebe zu, dass wir Wissenschaftler einen Vorteil haben. Wir beschäftigen uns seit Jahren mit dem Virus und den möglichen Konsequenzen eines Ausbruchs. Für Sie hingegen ist es wie ein Eimer Eiswasser, der Ihnen ins Gesicht geschüttet wird. Das verstehe ich.« Danielsen bat Dr. Reza um die Fernbedienung. »Sehen Sie sich das an.« Auf dem Monitor erschien wieder eine Weltkarte. Auf ihr waren unzählige Punkte eingetragen. »Das sind alles Server-Standorte.« Eine Uhr lief beschleunigt vorwärts. Mit jeder Sekunde verschwanden Punkte von der Karte. »Das Internet existiert, weil der Mensch existiert. Ohne den Menschen stirbt das Internet. Andersherum kann man es aber auch betrachten. Sie sehen hier den Untergang einer Zivilisation.«

Torbeck beobachtete, wie der Welt das Licht ausging. Einfach so, von einem Moment auf den anderen. Danielsen redete weiter. »Wir sind die Einzigen, die handlungsfähig sind und über das nötige Wissen verfügen. Auf andere zu hoffen ist sinnlos. Wir sind es, auf die gehofft wird. Also müssen wir handeln. Ich bin mir über die Risiken absolut im Klaren. Glauben Sie mir. Ich bin Virologe. Aber wir brauchen diese Proben. Um jeden Preis. Wenn alle Optionen bis auf eine erschöpft sind, dann muss man diese letzte versuchen. Egal, wie gefährlich sie auch sein mag.«

»Was machen Sie, wenn Sie die Proben haben? Ist es Ihnen technisch überhaupt möglich ein Gegenmittel herzustellen? Vorausgesetzt, es gibt eins und Sie finden es.« Torbeck war von dem Gedanken einer Außenmission nicht begeistert.

»Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich sagen, dass es unwahrscheinlich ist. Sogar ziemlich unwahrscheinlich. Aber was ist die Alternative? Ich sehe keine. Nichthandeln kann unmöglich zum Erfolg führen«

Für eine Minute redete keiner. Wiegner sah Torbeck an. Sie nickte ihm zu.

»Ein mögliches Außenteam müsste nach der Mission doch sicherlich in Quarantäne«, sagte Wiegner an Danielsen gewandt.

»Das ist richtig. Und zwar unabhängig davon, ob jemand hier den Cluster trägt. Es könnte sein, dass sich jemand durch Tröpfcheninfektion ansteckt. Mit viel Glück verhindern die Medikamente, die wir bekommen, dauerhaft einen Ausbruch. Aber das wissen wir nicht. Ein Restrisiko besteht.«

»Wie lange?«

»Ich denke, eine Woche. Wenn wir erst im Besitz von Proben sind, sollte es schnell gelingen, einen verlässlichen Test zu entwickeln.«

Der Oberst griff sich einen Kugelschreiber und zog ein Notizbuch aus seiner Hemdtasche. »Gut, Professor. Dann legen Sie mal los. Was brauchen Sie?«