14. Gnade

 

Demir Kara

 

Demir sah auf seine Uhr. Es war 5:20 Uhr. Am Horizont zerschmolzen die ersten Lichtstrahlen die Dunkelheit. Nach der Flucht auf das Dach hatte sich Demirs Verstand angefühlt wie ein Kernreaktor, in dem aus Fragen geformte Brennstäbe überhitzten. Was war geschehen? Was sollte er tun? Konnte er überhaupt etwas unternehmen? Da er keine Antworten hatte finden können, hatte er einfach abgeschaltet.

Mittlerweile hatte das Abklingbecken der kalten Nacht seine Knochen in Blei verwandelt. Immer noch dröhnte es an der Tür. Das bemerkte er kaum mehr, er hatte sich an den Krach gewöhnt. Woran er sich nicht gewöhnte hatte, war das Wimmern des Wachmanns. Der Mann wälzte sich von einer Seite auf die andere, wie von Koliken getrieben. Das Mädchen aus dem Fahrstuhl saß seit zwei Stunden bei ihm und strich ihm sanft über die Haare. Flüsterte ihm wiederholt in sein Ohr, als gelte es, ein verängstigtes Pferd zu beruhigen. Hin und wieder sah sie Demir an. Er versuchte ihren dunklen Blicken auszuweichen. Sein im Laufe der letzten Stunden abgesackter Verstand tastete sich langsam zurück an die Oberfläche und bestand darauf, sich mit der Lage zu beschäftigen. Zwei Menschen hatte er getötet. Auch wenn der Wachmann formell noch lebte. Die Frau zu erschießen war notwendig gewesen. Hätte er sie nicht getötet, dann wäre der Fahrstuhl niemals losgefahren. Ihr Tod hatte ihm das Leben gerettet. Und nicht nur seins. Juristisch gesehen war das kein Mord. So weit kannte er sich aus. Niemand musste in Seenot hinnehmen, dass andere Ertrinkende das Rettungsboot kenterten, auf dem man sich befand. Was übrig blieb, war das moralische Dilemma. Das bedrückende Gefühl, Unrecht getan zu haben, konnte ihm niemand nehmen. Das musste er mit sich selbst aushandeln. Wie sah es mit dem Wachmann aus? War das auch nötig gewesen? Er verbuchte es als eine Art Unglück. Der Mann trug eine blaue Uniform. Sah aus wie ein Polizist und hatte sich an den Gürtel gegriffen. Demir hatte aus Angst geschossen, hatte sich ohnehin in Panik befunden. Das mochte verständlich sein, war aber keine objektive Rechtfertigung. Noch viel weniger als bei der Frau. Warum ging er nicht wieder zu ihm? Versuchte ihm irgendwie zu helfen? Warum bemühte er sich nicht?

Demir zwang die Gedanken zurück in den Keller und ließ seinen Blick schweifen. Die Überlebenden saßen auf dem Dach verteilt herum und hatten sich gegen die Kälte in ihre eigenen Arme eingewickelt. Demirs Mund fühlte sich an, als ob er die Nacht über Wellpappe gekaut hätte. Der Durst begann ihn zu quälen. Erstaunlich, wie schnell das ging. Er überlegte, wann er das letzte Mal getrunken hatte. Das musste gestern Nachmittag gewesen sein. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Demir spürte seine Blase. Nichts zu saufen, dafür pinkeln. So ein Dreck. Er stellte sich in eine Ecke des Daches, drehte der Gruppe den Rücken zu und öffnete seinen Reißverschluss. Zuvor hatte er nach einem Behältnis gesucht, um seinen Urin zu sammeln. Aber das Dach gab außer verzweifelten Menschen und einer ungewöhnlichen Aussicht nicht viel her. Einerseits war er froh darüber. Bei dem Gedanken seinen eigenen Urin zu trinken, schüttelte es ihn. Andererseits. In einigen Stunden würde die Sonne beginnen, ihm das Hirn weich zu kochen. Und dann? Ohne Wasser war er erledigt. Konnte man überhaupt seine eigene Pisse trinken? Er war sich nicht sicher. Hatte das nur einmal in einem Film gesehen. Egal. Das kö... .

Etwas zog an seinem Gürtel. Demir wirbelte herum.

Vor ihm stand das Mädchen. Sie hielt seine Pistole mit beiden Händen umklammert. Die Mündung zeigte auf ihn. Langsam ging sie rückwärts. Demir wollte sprechen, bekam keinen Ton heraus. Die anderen hatte noch nichts von der Aktion mitbekommen. Das Mädchen kniete sich neben den Wachmann, flüsterte ihm ins Ohr. Dann gab sie dem Mann einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, stellte sich hin, richtete die Waffe auf seinen Kopf und drückte ab.

Der Knall riss ein Loch in den frühen Morgen. Demir zuckte zusammen.

»Sie hat ihn erschossen.« »Tut doch etwas.« »Nehmt der Irren die Pistole ab.«

Das Mädchen fuchtelte mit der Waffe herum und schrie: »Was wollt ihr? Ich bin die Einzige, die sich um ihn gekümmert hat. Er hat es so entschieden.«

»Warum sollte er das gewollt haben? Sicher kommt bald Hilfe«, sagte einer der Banker.

»Was denn für Hilfe?« Das Mädchen sah ihn böse an. »Die Feuerwehr? Das Technische Hilfswerk?« Der Mann sagte nichts mehr. Sie ging auf Demir zu.

Die würde ihn erschießen. Die kleine Schlampe würde ihn einfach kalt machen. Langsam hob er die Hände. Als sie vor ihm stand, drehte sie das Griffstück der Pistole in seine Richtung und hielt ihm die Waffe hin. »Ich habe nur beendet, was du begonnen hast. Es wird keine Hilfe kommen.«

Demir griff nach der Pistole. Er nahm sich vor, nie wieder jemanden zu unterschätzen.

Die übrigen Dachbewohner hatten sich formiert, standen in einem dichten Haufen dem Mädchen und ihm gegenüber. Demir war bei genügend Schlägereien dabei gewesen. Er hatte ein Gespür für Körpersprache. Jetzt würde es ernst werden. »Wir müssen sie fesseln«, kam es aus der Gruppe. Der dicke Banker sprang auf das Mädchen zu, griff sie am Arm. Sie versuchte sich loszureißen. Eine der Frauen kam dem Mann zu Hilfe, krallte sich von hinten in ihren Haaren fest.

Demir hob die Waffe und schoss in die Luft. »Lasst sie in Ruhe.«

Die Angreifer wichen zurück. Nur der Catering-Typ näherte sich Demir langsam. »Du hast doch nicht genug Mumm. Die Kleine hat den Kerl erschossen. Aber du?«

»Ich hatte genug Mumm, um ihm in den Bauch zu schießen.« Demir hob die Waffe. »Den Gnadenschuss kann sie dir geben.« Der Mann blieb stehen. Demir wandte sich an alle. »Der Wachmann wollte es so. Daran habe ich keinen Zweifel.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich glaube auch ni...« Demir verstummte.

Etwas hatte sich geändert. Er starrte auf die Tür.

Es war still.