35. Licht und Schatten

 

Markus Steller

 

»Ist das der Rosarote Panther?«, fragte Fliege.

Steller grunzte zustimmend. Warum der SEK-Mann seinen Spitznamen trug, hatte Steller mittlerweile verstanden. Der Mann schwirrte ständig um einen herum.

»Wie sieht es auf den anderen Programmen aus?«

»Die meisten senden gar nicht mehr. Bei einigen läuft ein automatisches Band.« Steller sah zu, wie Paulchen Panther versuchte, in eine Bank einzubrechen. Er hatte den Ton abgedreht. Den Zeichentrickfilm zu sehen machte ihn nervös. Aber er sah sich nicht in der Lage den Fernseher auszuschalten.

»Radio?«

»Nichts.«

»Funk, Telefon?«

»Auch nichts. Wir haben jetzt alles durch. Nur das polizeiliche Informationssystem funktioniert«, sagte Steller ohne den Fernseher aus den Augen zu lassen.

»Das Intranet ist noch da?«

»Ja. Interessant, oder?«

Steller hatte sein Kennwort eingegeben und sich bei der Einsatzzentrale eingeloggt. Der letzte Einsatz war gestern um 23:55 Uhr geöffnet worden. Dort stand in der knappen Manier der Funker geschrieben: Krawalle in der Innenstadt. Führungsdienst löst Alarm aus. Landesebene. Das war alles. Nachdem er das gelesen hatte, kam ihm die Idee, dass die Telefone in der Einsatzzentrale noch funktionieren könnten. Die Behörden telefonierten über ein Sondernetz. Tatsächlich bekam er ein Freizeichen. Aber es hob niemand ab. Der Funk blieb ebenfalls stumm. Damit erschöpften sich die Informationsmöglichkeiten. Fahrzeuge gab es in der Tiefgarage auch keine. Ein kurzer Blick in das Regal mit den Fahrtenbüchern hatte ihm gezeigt, dass alle Autos außer Haus waren. Am Ende fanden sie Waffen und Munition. Momentan ruhten sie sich aus. Einen wirklichen Grund zum Entspannen gab es nicht, aber die Luft war fürs Erste einfach raus. Fliege hatte sich direkt neben Steller gestellt. Die beiden starrten gemeinsam auf den Fernseher. Dann griff der SEKler nach der Fernbedienung und schaltete den Ton an:

 

Man hat den Paul jüngst engagiert

Dass er zur Sommerzeit gastiert

In einem Badeort bei Celle

Als Geiger in der Kurkapelle

Wo man willkommen und beliebt

Wenn man nicht falsch spielt und viel übt.

 

Schwarz. Steller zuckte zusammen, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Das Bild war weg und würde nicht wiederkommen. Er ärgerte sich über seine Schreckhaftigkeit und schaltete den Fernseher aus. Seine Nerven waren dünn wie abgenutztes Schmirgelpapier. Der Adrenalinpegel fiel so schnell, wie er gestiegen war, und ließ seinen Körper vibrieren. Fliege gab einen grunzenden Laut der Missbilligung von sich und schwirrte davon. Immerhin.

Geraume Zeit geschah nichts. Steller saß weiterhin im mittleren Büro des Arbeitsbereichs. Im Wesentlichen war jeder von ihnen mit sich selbst beschäftigt und versuchte seine Gedanken zu sortieren. Nur gelegentlich weichten flüsternde Stimmen die Stille auf. Steller begann Dallas zu beobachten, der sich auf einen Schreibtisch gesetzt hatte. Mit seinem Rücken lehnte er an einer Wand. Seine Augen waren geschlossen. Hatte er bereits mit Fieber gesprochen? Falls ja, mit welchem Ergebnis? Er hoffte, dass sein offenes Wort an Fieber seine Wirkung nicht verfehlt hatte. An wen erinnerte Dallas ihn nur? Die Frage trieb ihn in Ermangelung einer sinnvollen Beschäftigung schon länger um. Mit seinen fast schulterlangen Haaren und dem Vollbart sah er einem Schauspieler ähnlich. Dann fiel es ihm ein. Natürlich. Dallas hieß der Kommandant des Frachters Nostromo im ersten Alien-Film. Das war es. Daher kam der Spitzname. Der gute Kapitän hatte das Ende des Films nicht erlebt. Was aber wichtiger war: Dallas war Fiebers rechte Hand. Das machte ihn tatverdächtig.

Die Zeit lief weiter. Steller versuchte sich zu erinnern, wer von den Männern Fieber bei der Hinrichtung der Zivilisten geholfen hatte. War es Dallas gewesen? Er hatte kein Bild vor Augen. Das konnte doch nicht so schwer sein. Er betrachtete die Kollegen nacheinander.

Wenn er Schwede ansah, stellte er sich ihn in einer HJ-Uniform vor. Einer der Jungen, die 1945 vom Führer die letzten Eisernen Kreuze an die schmale Brust geheftet bekamen. Im Moment schien er gefasst. Aber bei genauerer Draufsicht durchschaute Steller den dünnen Tarnanstrich seiner Selbstsicherheit. Schwedes Blick irrlichterte durch den Raum, glitt von allem ab. Wie ein Zwangsgestörter prüfte er die Taschen seiner Uniform, vergewisserte sich ohne Unterlass, dass sich alles an seinem Platz befand. Aus irgendeinem Grund wirkte der Bursche auf Steller sympathisch. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Schwede zu so einer Tat fähig war. Aber was hieß das schon?

Wolf trug einen ordentlichen Vollbart, blickte mürrisch wie ein Seefahrer, sprach nicht viel. Mehr gab es zu seiner Person nicht zu sagen. Schippe erschien ihm als unsteter Charakter. Nicht zuletzt aufgrund seines Nervenzusammenbruchs, den er auf dem Dach erlitten hatte. Körperlich unterschied er sich deutlich von den anderen. Man konnte ihn als leptosom bezeichnen. Im Gegensatz zu dem, was Laien dachten, waren Angehörige einer Spezialeinheit meistens nicht besonders muskelbepackt. Zuviel Muskelmasse machte einen schwerfällig und behinderte beim Klettern oder Abseilen. Schippe schien aber überhaupt keine Muskeln zu besitzen, was auch merkwürdig war.

Flu hatte es nicht geschafft. Steller war überrascht, wie stoisch die Truppe sein unfreiwilliges Ausscheiden aus dem aktiven Dienst hinnahm. Als kämen solche Dinge jeden Tag vor. Auch Fieber zeigte keine posttraumatischen Aussetzer. Im Westen nichts Neues. Es war wie verhext. Steller konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wer von denen Fieber geholfen hatte. Seine Gedanken wurden durch Kattas Stimme unterbrochen. »Ich habe Durst.« Sie sprach aus, was Steller dachte. Die Gruppe hatte die Büroräume geplündert und ein paar Wasserflaschen gefunden. Aber das war eindeutig zu wenig gewesen. Steller litt stumm vor sich hin. Die Hitze verwandelte seinen Körper in ein Nudelsieb. Ständig drückte sich warmes Wasser von innen durch seine Hautporen und lief kitzelnd an seinem Rücken hinab. Niemand reagierte auf Kattas Bemerkung. Es wurde wieder still. Das Mädchen saß zusammen mit ihren beiden Freunden auf dem Boden. Bilal versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Ihm schwante offensichtlich Übles. Als Fieber ihm erklärt hatte, dass seine Hinrichtung verschoben sei, lag die Betonung eindeutig auf verschoben. So richtig entspannen konnte er sich nicht. Mittlerweile tat er Steller leid. Fieber beschäftigte sich damit 9mm-Patronen in ein Magazin zu drücken. Seine Bewegungen wirkten geschmeidigt. Wie geölt.

Klick, klick, klick.

Kein Verkanten, kein Fummeln.

Klick, klick, klick.

Sein durch jahrelanges Training geschultes Waffenhandling wirkte völlig gelassen. Das war Steller bereits aufgefallen, als Fieber seine Waffe gereinigt hatte. Unter minimalistischen Fingerbewegungen zerlegte die MP sich praktisch selber. Nachdem Fieber die Einzelteile gesäubert hatte, floss die Waffe wieder zu einem Ganzen zusammen. Bei ihm sah das anders aus. Das Waffenreinigen nach dem Schießtraining war für Steller ein Graus. Ein lustloses Herumfummeln, bis der Lauf wieder eingesetzt war. Am schlimmsten war es den Schlitten einzusetzen. Er konnte gar nicht zählen, wie oft er sich dabei schon den Finger eingeklemmt hatte.

Dadurch, dass sie die Waffenschränke geplündert hatten, war auch Steller nun im Besitz einer MP5. Nur den beiden Jungs und Katta verweigerte man die Bewaffnung. Plötzlich zuckte Katta zusammen. Sie griff sich ihre Handtasche und wühlte darin herum. Nach einiger Zeit gab sie es auf und fluchte leise vor sich hin. Steller glaubte nicht, dass sie ihren Lippenstift vermisste. Aber das ging ihn nichts an. Die Sache mit dem Wasser hingegen schon. Ihr ursprünglicher Plan war es gewesen, alle auffindbaren Behälter sowie die Waschbecken im Duschraum mit Leitungswasser zu füllen. Aber die Leitungen spuckten nur kurz und waren dann trocken. Demir hatte gesagt, dass die Wasserversorgung noch vor Kurzem funktioniert hätte. Das mochte sein, brachte sie aber nicht weiter.

»Wir brauchen was zu trinken«, meldete sich Katta erneut. Wo das Mädchen recht hatte, hatte sie recht. Fieber blickte kurz zu Katta, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Das ist richtig.«

»Und jetzt?«, fragte Steller.

»Das frage ich dich. Du kennst dich hier besser aus als ich.«

Da hatte er nicht unrecht. »Wir müssen das Gebäude absuchen. Ich glaube, dass hier niemand ist. Das sind lauter Büros von verschiedenen Behörden. Da ist am Wochenende keiner da.«

»Denkst du, wir finden etwas?«

Steller hob die Schultern. »Vermutlich schon. Die haben alle irgendwo ein Sixpack Wasser herumstehen. Es sollte mich wundern, wenn wir nicht genug Getränke für zwei oder drei Tage auftreiben können.«

»Solange will ich nicht bleiben.«

Fieber wollte die Stadt verlassen. Es war nicht so, dass Steller das für eine dumme Idee hielt. Schließlich ließ sich eine einfache Formel aufstellen: Je weniger Menschen, je weniger Gefahr. Aber bei dem Gedanken nach draußen zu müssen, fingen seine Hände an zu zittern.

»Ihr geht zu dritt. Markus, Dallas und Fliege«, ordnete Fieber an. Steller nickte und stand auf. Seitdem sie sich in dem Gebäude versteckt hielten, war es ruhig geblieben. Möglichst geräuschlos legten sie den verbarrikadierten Ausgang frei. Im Treppenhaus war es still. Sie schlichen die Treppe nach oben und fanden sich vor einer Glastür wieder.

»Und jetzt? Kommst du da rein?«, wollte Dallas von Steller wissen.

Der schüttelte den Kopf. »Wir müssen sie aufbrechen.«

»Na, dann.«

Das Platzen des Glases verursachte einen gewaltigen Lärm. Steller zuckte merklich zusammen. Dallas grinste ihn an. »Nervös?«

»Ein wenig.«

Es blieb still. Sie stiegen durch den Türrahmen und fingen an die Büros zu durchsuchen. Auf diese Art arbeitete die Gruppe sich die Etagen nach oben. Zum Schluss belief sich ihre Beute auf sieben Wasserflaschen, fünfzehn Flaschen Cola, neun Flaschen Fanta und drei Flaschen Weißwein. Darüber hinaus zwei Kisten Bier. In einem Besprechungsraum stand eine Schüssel mit Schokoriegeln auf dem Tisch. Als Steller die Süßigkeiten entdeckte, bemerkte er seinen Hunger. Gierig schob er sich zwei Riegel in den Mund. Den Rest schaufelte er in eine Plastiktüte, die er in einem der anderen Räume gefunden hatte. Dallas stand neben ihm und riss mit den Zähnen die Verpackung eines Riegels auf.

»Wie lange ist Fieber schon euer Kommandoführer?«, fragte Steller ihn.

»Seit zwei Jahren.«

»Und? Zufrieden?«

Dallas zuckte mit den Schultern. »Was spielt das für eine Rolle?«

»Keine Ahnung. Ich versuche nur, Konversation zu treiben.«

»Spar dir deinen Atem für wichtigere Dinge.«

Das bedeutete wohl, dass Dallas keine Lust hatte zu reden. Sie machten sich auf den Rückweg. Von dem Fund der Süßigkeiten abgesehen, war Steller enttäuscht. Diese erbärmlichen Büroheinis tranken nur Zuckerwasser und Alkohol.

 

Wieder in den Räumen der Fahndung zurück, teilten sie ihre Beute auf. Fieber zeigte sich über die Cola- und Weinflaschen wenig begeistert. »Kippt den Dreck weg.« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Wir kämpfen um unser Leben. Alkohol und Cola dehydrieren den Körper. Also weg mit dem Zeug.« So geschah es.

Bis morgen hielten sie mit dem Wasser durch. Aber kaum länger. Die Möglichkeiten, die ihnen die Dienststelle bot, erschöpften sich. Stellers größte Hoffnung ruhte auf der Mutter von Katta. Sie wollte sich melden. Wenn es ging, mit einem konstruktiven Vorschlag im Gepäck. Er war sicher, dass sie alles versuchen würde, um ihre Tochter zu retten. Die Frage lautete, ob sie es konnte. Das Einfachste wäre einen Hubschrauber zu schicken. Hatten die einen? Steller hoffte es sehr.

»Sie ist überfällig.« Fieber sah auf seine Armbanduhr. »Es ist fast halb sechs.«

»Meine Mutter wird anrufen.«

Steller war erschöpft. Er stellte einen der Computer vom Schreibtisch auf den Boden, legte sich auf die Tischplatte und versuchte zu schlafen. Es gelang ihm nicht. Sein Körper schmerzte. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, schloss die Augen. Ben. Steller stand auf, griff sich ein Fernglas, ging an ein Fenster und suchte die Umgebung ab. Es gab nichts Neues zu entdecken. Keine Bewegung. Ben, wo hast du dich versteckt? Wie erleichtert wäre er, seinen Kollegen mit zerschmetterten Knochen am Fuße des Hochhauses liegen zu sehen. Dann wüsste er, dass er nicht mehr durch die Gegend lief. Er hatte ihn nicht töten wollen, das musste Ben doch wissen. Wie rachsüchtig können Geister sein? Steller schüttelte sich und sah auf seine Uhr. Die zeigte 17:56 Uhr. Da klingelte das Satellitentelefon. Steller hörte, wie Katta sich am Telefon meldete. Nach kurzem Gespräch gab sie das Gerät Fieber, der zuhörte und mit Stakkatosätzen antwortete. Steller verstand die Worte nicht, aber es klang nicht sonderlich euphorisch. Dann wurde Fieber lauter. »Katta. Deine Mutter will dich noch mal sprechen.«

In diesem Moment sah Steller aus dem Fenster und wunderte sich, warum es Nacht war. Hinter ihm wurde es hektisch, den anderen war der plötzliche Lichtabfall nicht entgangen. Alle klebten an den Fensterscheiben. »Da. Könnt ihr das sehen? Was ist das?« Demir zeigte in den Himmel. Alle redeten durcheinander. »Wir gehen hoch«, sagte Steller. Ohne eine Reaktion abzuwarten, begann er den Ausgang freizuschaufeln. Fliege und Schippe halfen ihm. Jede Vorsicht war verschwunden. Geschlossen rannte die Gruppe die Treppen hinauf. Wenig später standen sie auf dem Dach und blickten in den nachtschwarzen Himmel. Die Sterne funkelten. Deutlich erkannte Steller das helle Band der Milchstraße. Er verstand nicht, was er dort sah. Katta stand neben ihm, starrte mit offenem Mund nach oben. Ihre Hand umklammerte immer noch das Telefon. Aus der Muschel quäkte eine Stimme. Langsam hob sie den Hörer an ihr Ohr. »Mama? Schau aus dem Fenster.« Dann drückte sie das Gespräch weg.