43. Suizid

 

Aila Torbeck

 

Dr. Hartmann war mit düsterer Miene in der Messe erschienen und hatte Torbeck gebeten, ihn zu begleiten. Gemeinsam fuhren sie mit einem Fahrstuhl drei Ebenen nach unten. Dabei beobachtete sie den Arzt von der Seite. Sie hatte ihn gefragt, was geschehen sei, aber nur eine ausweichende Antwort erhalten. »Das ist hier der falsche Ort«, hatte er gesagt. Jetzt näherten sie sich offenbar dem richtigen. Die Fahrstuhltür glitt zur Seite. In der Ebene lagen Wohnquartiere für das technische und wissenschaftliche Personal. Der Gang war leer. Entweder waren die Leute am Arbeiten oder sie schliefen nach beendeter Nachtschicht. Dr. Hartmann blieb vor der Tür zu einer Unterkunft stehen. »Wir haben vermutlich einen Suizid«, flüsterte er. Er hielt eine Karte an das Öffnungssystem der Tür. Auf dem Display leuchteten rote Buchstaben auf.

 

Notfallöffnung

Dr. Hartmann

 

Nachdem die Tür seitlich in der Wand verschwunden war, trat der Arzt in den Raum. Torbeck folgte ihm. Die Unterkunft bestand aus einem zehn Quadratmeter großen Wohnraum und einem winzigen Bad. Die Mannschaftsquartiere ließen kaum Spielraum für individuelle Raumgestaltung. Sie unterschieden sich nur an der Art der Bilder, die an fast jeder Wand hingen. Hier erkannte Torbeck die Fotos von zwei kleinen Kindern. Sie sah sofort weg, wollte sich damit nicht befassen. Es war so schon unangenehm genug. Einen Mitleidsschub konnte sie nicht gebrauchen.

Der Aufwand für das gesamte Personal Einzelquartiere zur Verfügung zu stellen war gigantisch gewesen und hatte Unsummen verschlungen. Die Idee, den Menschen einen minimalen Intimbereich zu lassen, sollte sich positiv auf die Psyche auswirken. Hier hatte dieser Plan versagt.

Auf dem Bett lag die Leiche einer Frau. Ihrer Kleidung nach war sie Angehörige der Forschungsabteilung. Sie war knappe dreißig Jahre alt, rothaarig. Ihr rechter Arm war übel zugerichtet. Die Pulsadern waren mit mehreren Schnitten geöffnet worden. Das meiste Blut war in der Matratze versickert, sodass sich auf dem Boden nur eine kleine Pfütze gebildet hatte. Torbeck erschrak über ihre eigene Teilnahmslosigkeit. Das Bild der Toten im Bett ließ sie seltsam unberührt. Das war kein gutes Zeichen. Hartmann sprach noch immer nicht. Er drückte Torbeck einen Zettel in die Hand. »Abschiedsbrief?«, fragte sie.

»Wie man es nimmt.«

Auf dem Zettel stand nur ein Satz: Es tut mir leid. »Nicht gerade aussagekräftig. Ist Fremdverschulden ausgeschlossen?«

»Das kann ich nicht sagen. Aber da die Korridore kameraüberwacht sind, sollte es kein Problem sein, das festzustellen.«

»Ich werde der Form halber eine Überprüfung veranlassen.« Torbeck sah in das blasse Gesicht der Toten. »Seit wann ist sie tot?«

»Vielleicht seit fünf Stunden.«

»Wie haben Sie sie gefunden?«

»Sie ist nicht zu ihrer Schicht erschienen. Da ich im Notfall die Türen öffnen kann, hat ihr Vorgesetzter mich verständigt.«

»Warum hat man Sie informiert?«

»David und ich kennen uns schon recht lange. Mir ist bewusst, dass er einen anderen Weg hätte einschlagen müssen. Aber er wollte erst mal keinen allzu großen Wirbel veranstalten.«

»Verstehe. Wie heißt sie? Kannten Sie sie?«

»Ihr Name ist Frida Hank.« Hartmann schüttelte den Kopf. »Nein, ich kannte sie nicht.« Er sah sie an. »Ich denke, wir können zunächst davon ausgehen, dass es sich um einen Suizid handelt. Wenn das so ist, wie gehen wir damit um?«

Gute Frage. Wenn sie es öffentlich machten, dann konnte das zu einer Welle von Selbstmorden führen. Versuchten sie, es zu vertuschen und es kam heraus, waren die Folgen womöglich noch gravierender. Außerdem würden Gerüchte entstehen und die Menschen zum Tuscheln bringen. Hatte der Virus in der Anlage zugeschlagen? Gab es einen Frauenmörder?

»Wer weiß noch von der Sache?«

»Bis jetzt nur Sie. Aber ihr Vorgesetzter wird bald Fragen stellen. Letztendlich kann niemand aus der Anlage verschwinden. Also werden wir irgendeine Antwort präsentieren müssen.«

»Wir sollten mit der Psychologin sprechen«, sagte Torbeck.

Hartmann sah sie entgeistert an. »Sie wollen mit Kranz sprechen?«

»Warum nicht? Was ist mit ihr?«

»Sie wissen es nicht? Die Frau ist völlig durcheinander. Sie redet vom Jüngsten Gericht und davon, dass wir nur in Trautheim sicher wären.« Er machte mit der flachen Hand eine entsprechende Bewegung vor seinem Gesicht. »Die Frau ist im Wahn.«

Davon hatte Torbeck nichts mitbekommen. »Trautheim?«

»Ein kleiner Ort in Norddeutschland. Da hat sie gewohnt.«

Torbeck begriff, dass die Probleme nicht nur draußen warteten. Entglitt ihr die Anlage? Sie hatte die Stunden seit dem Ausbruch fast ausschließlich auf dem Leitstand verbracht. Aber wer das Kommando hat, der hat noch lange nicht die Kontrolle. Sie musste etwas tun. »Wie bedenklich ist ihr Zustand? Ist sie arbeitsfähig?«

»Auf keinen Fall.«

»Dann suspendiere ich sie bis auf Weiteres vom Dienst.«

»Das befürworte ich.«

»Wie ist die Situation? Was haben Sie für ein Gefühl? Ich meine, was die Menschen angeht.«

Der Arzt legte eine Tagesdecke über das Gesicht der Leiche. »Schwer zu sagen. Die Leute sind still. Beim Essen in der Messe wird kaum geredet. Man hört nur das Klappern des Bestecks. Eine bedrückende Atmosphäre. Was in den Menschen genau vorgeht, kann ich Ihnen nicht sagen. Das Problem ist, dass wir kein gefestigtes soziales Gefüge haben. Es gibt kaum Bindungen zwischen den Leuten. Das wäre sicherlich anders, wenn wir schon alle seit Jahren zusammengearbeitet hätten. Aber so?«

Was konnte sie tun? Sie dachte nach. Ihre Möglichkeiten waren begrenzt. »Ich werde eine Ansprache halten.«

»Gut. Und bis dahin?«

»Bringen Sie den Leichnam in die Krankenstation. Wenn Sie jemand fragt, dann sagen Sie die Wahrheit. Alles andere führt nur zur Legendenbildung.«

»Dann machen wir es so.«

 

Torbeck begab sich wieder zurück in ihr Quartier. Auf halbem Weg bemerkte sie, dass sie die Tote schon fast vergessen hatte. Sie hatte immer mehr Probleme damit, sich zu konzentrieren. Sie musste sich dringend ein oder zwei Stunden hinlegen. Und wenn das nicht ging, dann wenigstens unter die Dusche springen. Sie konnte nicht verstehen, warum sich Frida Hank das Leben genommen hatte. Nein, das war falsch. Vielmehr konnte sie nicht verstehen, warum niemand ihren Gefühlszustand bemerkt hatte. Torbeck nahm das NanoCom vom Gürtel und tippte den Namen der Verstorbenen ein. Ein kurzes Personagramm mit den nötigsten Daten erschien auf dem Bildschirm. Zumindest wusste sie jetzt, dass Hank als medizinisch-technische Assistentin im S4-Labor gearbeitet hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen kannte sich das Personal des Hochsicherheitslabors ziemlich gut. Hatte da keiner etwas bemerkt? Sie musste mit den Leuten dort sprechen. Eine Selbstmordwelle war das Letzte, was sie in der Anlage gebrauchen konnte. Die Frau hatte Kinder. Warum brachte sich so jemand um? Schuldgefühle, weil sie sich selbst in Sicherheit befand, während ihre Kinder draußen litten? Eigentlich war das ein eindeutiger Fall für die psychologische Abteilung. Aber die war leider auf eine, nicht mehr dienstfähige Mitarbeiterin geschrumpft und hatte sich damit aufgelöst. Torbeck durfte die Ansprache für das Personal auf keinen Fall vergessen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. Außerdem musste sie noch die Videoauswertung veranlassen. Nur für alle Fälle.

Torbeck hatte ihr Quartier erreicht und legte sich sofort aufs Bett. Fragen begannen sich in ihrem Kopf gegenseitig zu jagen. Was sollte sie tun, wenn die Anlage ein weiteres Mal angegriffen wurde? Hatte Gärtner mehr als nur Verdacht geschöpft? Konnte sie Theißen wirklich vertrauen? Brach die Seuche bald im Bunker aus? Was war mit Katta? Wie sollte sie Wiegner aus der Quarantäne holen? Durfte sie das überhaupt riskieren?

Ihre Gedanken kreiselten in ihrem Kopf und versuchten in verschiedene Richtungen zu fliehen.