3. Diamanten

 

Demir Kara

 

Obwohl Demir ohne Decke geschlafen hatte, wachte er schweißgebadet auf. Selbst durch die Gardinen hindurch brannten ihm die Sonnenstrahlen auf der Haut. Er ließ seine Hand auf den Wecker fallen, hob ihn vor sein Gesicht und versuchte durch verklebte Augenlider die Zahlen zu erkennen. 15:00 Uhr. So lange konnte er unmöglich geschlafen haben. Demir schüttelte den Digitalwecker, um das Gerät zur Vernunft zu bringen. Die Uhr reagierte auf ihre Art. Eine Ziffer sprang um. 15:01 Uhr. Er warf den Wecker achtlos auf den Boden und schwang mühsam die Beine aus dem Bett. Während er sich das Gesicht rieb, sah er sich um und stellte erleichtert fest, dass er sich tatsächlich zu Hause befand. Sein Jugendzimmer hatte sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert. An der Wand klebten vergilbte Bravostarschnitte von Musikern, die kein Mensch mehr kannte. Ein Freund fragte ihn einmal, auf welchem Trip er hängen geblieben war. Der Trip hieß Trägheit. Wenn Demir sich in seinem Leben durch Raum und Zeit bewegte, dann war ihm, als würde er durch durchsichtiges Gelee schwimmen. Jede Tätigkeit, die er nicht mit Spaß verbinden konnte, forderte von ihm gewaltige Anstrengungen. Sollte er überhaupt aufstehen? Der Tag war ohnehin im Eimer. Die ganze Nacht hatte er mit Bilal gesoffen und einen Joint nach dem anderen geraucht. Bilal war erst seit Kurzem wieder in der Stadt. Wenn man ihn fragte, wo er gewesen sei, dann antwortete er: »Auf Reisen.« Es war ein offenes Geheimnis, dass seine Reisen ihn in die JVA Weiterstadt geführt hatten, wo er mehrere Jahre verbracht hatte. Vermutlich, weil es ihm dort so gut gefiel.

Demir kannte Bilal seit seiner Kindheit, mochte ihn aber nicht besonders. Nur zufällig hatte er ihn gestern Abend beim Verlassen des Metropolis-Kinos getroffen. Bilal hatte ihn spontan eingeladen und damit überrumpelt. Zunächst war es eine unangenehme Erfahrung gewesen. Das änderte sich etwas mit der Einnahme einer Menge Alkohol und Drogen. Als Demir sich verabschieden wollte, weihte Bilal ihn in seinen neusten Plan ein. Den Überfall auf einen Diamantenkurier. Zunächst hielt Demir das für die Ausgeburt eines benebelten Geistes. Aber als er in Gelächter ausbrach, verdunkelte sich Bilals Gesichtsausdruck und Demir verschluckte seine restlichen Lacher. Es war sein Ernst. Die Aktion war ein Vorhaben, welches Bilal ganz sicher erneut auf eine mehrjährige Reise schicken würde. Bilal fragte Demir, ob er dabei sei. Er lehnte dankend ab, hegte nicht den Wunsch Bilals Reisebegleitschaft zu spielen.

Was für eine bescheuerte Idee. Demir saß auf der Bettkante und schüttelte den Kopf, was dieser mit pochenden Schmerzen quittierte. Er stand auf und öffnete vorsichtig seine Zimmertür. Das war einer dieser Momente, in denen er es hasste, bei seiner Mutter zu wohnen. Mit sechsundzwanzig Jahren lag er ihr immer noch als hauptberuflicher Nichtsnutz auf der Tasche. Eine Änderung war nicht in Sicht. Bemüht keine Geräusche zu verursachen schlich er durch den Flur. Er wollte seiner Mutter nicht über den Weg laufen. Sie würde sich nur darüber aufregen, dass er mal wieder den ganzen Tag verschlafen hatte. Realistisch gesehen konnte er sich seine Schleicheinlage sparen. Die Wohnung war so klein, dass er keine Chance hatte unbemerkt ins Bad zu gelangen. Als er an der Küche vorbei kam, sah er seine Mutter im Bademantel am Tisch sitzen. Sie wandte ihm den Rücken zu. Demir blieb stehen. Ihre Ellenbogen hatte sie auf die Tischplatte gestützt, den Kopf nach vorne gebeugt, das Gesicht in den Händen verborgen. Im Aschenbecher lag eine qualmende Zigarette. Neben ihr auf dem Tisch, einige geöffnete Briefe. Der Körper seiner Mutter bebte. Sie weinte tonlos.

Demir ahnte, was in den Briefen stand. Seine Mutter kämpfte mit Geldsorgen, seit er sich erinnern konnte. Genau gesagt seit dem Tod seines Vaters. Der war bei der Arbeit von einem Baugerüst gestürzt, als Demir noch ein Kleinkind war, und hatte ihnen Schmerzen und Schulden hinterlassen. Möglicherweise lag es an der Restwirkung der Drogen. Ein nie gekanntes Gefühl der Scham überwältigte ihn. Dann wusste er, was er zu tun hatte. Warum nicht? Sein Leben besaß ohnehin keinen besonderen Wert. Entweder die Sache würde laufen oder nicht. Falls er im Gefängnis landen sollte, würde er seiner Mutter wenigstens nicht mehr den Kühlschrank leerfressen. Er war der Mann im Haus und das verlieh ihm nicht nur Rechte. Jetzt war es an der Zeit, sich seinen Pflichten zu stellen.

 

Eine Stunde später wartete Demir am Bahnhof von Frankfurt-Höchst auf Bilal. Er lehnte an einer mit schlechten Graffitis vollgesprühten Wand und rauchte Kette. Langsam wurde er nervös. Endlich kam Bilal mit einem aufgemotzten 3er-BMW um die Ecke. Schwarzer Lack, breite Reifen, große Auspuffanlage. Bilal brachte den Wagen an der Bordsteinkante zum Stehen und Demir stieg auf der Beifahrerseite ein.

»Hast du deine Waffe?«, begrüßte ihn Bilal.

Demir zog sein T-Shirt hoch, zeigte das Griffstück einer Pistole. Bilal nickte. »Was ist das für ein Ding?«

»Sig Sauer 227.«

»Wie viel Schuss?«

»Fünfzehn.«

Bilal rümpfte die Nase. Demir wusste, dass sein Komplize einen alten sechsschüssigen Revolver bei sich trug. Vermutlich war er eingeschnappt, weil ihm das Kräfteverhältnis nicht passte.

»Poserkiste«, sagte Demir. »Sehr auffällig.«

»Egal. Wir werden den Wagen nicht lange brauchen.«

»Du hast bulgarische Kennzeichen dran. Woher hast du die Mühle?«

»Gestohlen.«

»Von einem Bulgaren?«

»Spielt das eine Rolle?«

Demir machte einen gequälten Gesichtsausdruck.

»Was, Alter? Soll ich mir einen Mietwagen nehmen? Denkst du, ich bin blöd?«

Demir sagte nichts. Natürlich war Bilal blöd. Das wusste jeder im Viertel. Er jedoch hatte keinen Grund darüber zu lachen. Vielmehr musste die Frage erlaubt sein, ob nicht der blöder war, der sich mit einem Blöden einließ.

Nach kurzer Fahrt steuerte Bilal den Wagen auf das Bahngelände, das man von der Camberger Brücke erreichen konnte, parkte versteckt zwischen Baracken mit ausgeschlagenen Fenstern.

»Es ist viel zu früh. Der Transport kommt nicht vor 21:45 Uhr am Flughafen an. Je länger wir an der Bank stehen, umso gefährlicher wird es.« Bilal stieg aus und schraubte deutsche Kennzeichen an das Fahrzeug.

Demir sah ihm zu, zündete sich eine Zigarette an.

»Wieso klaust du ein bulgarisches Auto und schraubst jetzt deutsche Kennzeichen dran?«

Bilal sah nicht auf. »Weil bulgarische Kennzeichen zu auffällig sind. Die Bullen achten auf so etwas.«

»Wo hast du die Kennzeichen her? Vielleicht sind die schon als gestohlen gemeldet.«

»Sind sie nicht.«

»Sicher?«

»Ja.«

»Willst du das wirklich durchziehen?«

»Was ist los? Machst du dir in die Hose?« Bilal sah auf Demirs Hände, zwischen deren Fingern ein Feuerzeug unentwegt im Kreis lief.

»Du bist sicher, dass dich dein Kontakt nicht bescheißt?«, fragte Demir.

»Mein Kontakt ist eine Schlampe aus dem Geschäftszimmer der Wachfirma. Die hat mir nichts verraten. Ich habe die Alte im Büro gebumst und dabei die Papiere gesehen. Nur Zufall. Die Maus ist auf den Pott gegangen und ich habe die Unterlagen mit meinem Handy fotografiert. Ich wusste, das ist was Gutes.« Bilal ließ knackend die Schultern kreisen. »Ich habe es drauf, Alter.«

»Was weiß das Mädchen über dich?«

»Die denkt, mein Name ist Jochen.«

»Jochen? Willst du mich verarschen? Das kann die nicht geglaubt haben.«

Bilal kicherte. »Siehst du, Alter, wie blöd die ist?«

Na, wenigstens gab es keine Mitwisser. Bilal war neunundzwanzig Jahre, trug einen Adidas-Trainingsanzug. Seine Haare waren an den Seiten kurzgeschoren, den Augen fehlte der Funke der Intelligenz. Nur körperlich war er gut in Form. Das T-Shirt spannte sich über seinen Muskeln. Demir hatte da weniger zu bieten. Dafür sah er nicht zu sehr nach Gangster aus. Er trug seine Haare in einer unauffälligen Länge, die Kleidung wirkte im Vergleich zu Bilal bürgerlich. Außerdem hasste er diesen Straßenslang. »Erklär mir noch mal, wie das läuft.«

Bilal hatte sich wieder auf den Fahrersitz gesetzt. »Du nervst langsam. Also, die Maschine landet um 21:45 Uhr. Um 22:15 Uhr sollen die Diamanten am Flughafen von einem Kurier abgeholt werden«, dozierte Bilal. »Dann geht es direkt zum Commerzbank-Tower. Der Fahrer hält kurz. Der Kurier springt raus und, zack, ist er in der Bank. Diamanten im Wert von vier Millionen Euro. Zwei für jeden.«

»Ist das nicht seltsam? Nur ein Typ. Kein Geldtransporter.« Demir hatte sich die Geschichte mittlerweile dreimal erklären lassen. Das kribbelige Unbehagen blieb ihm erhalten.

»Nein. Das funktioniert. Ist einfach ein Kerl im Anzug mit einer Aktentasche. Kein Aufstand, kein Stress.«

Demir schmiss eine Kippe aus dem Fenster. »Spielen wir es noch einmal durch.«

Bilal ließ seine Scheibe herunter, spuckte aus dem Fenster. »Geh mir nicht auf den Sack.«

»Der Plan ist beschissen. Wenn wir darüber reden, dann fällt uns vielleicht etwas Besseres ein.«

»Alter, machst du jetzt auf schlau. Nur weil du fast deinen Hauptschulabschluss nachgemacht hättest.«

Demir spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er war ohnehin angespannt. Seine Hände schwitzten. Da kam ihm Bilal mit seinem großen Maul gerade recht. »Wie lief es denn im Knast?«, wollte Demir wissen.

»Halt die Fresse. Alter. Halt einfach die Fresse.«

Auf der Straße ging das Gerücht, dass vier Russen Bilal im Knast vergewaltigt hätten. Das würde Demir niemals offen ansprechen. Der Spinner blies ihm glatt das Hirn weg. Bilal erfreute seine Umwelt seit seiner Kindheit mit extremen Stimmungsschwankungen. Beim Kiffen hatte er ihm mal erzählt, dass er an einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung litt. Demir wusste zwar nicht, was das sein sollte, aber es klang so scheiße, dass es sicher stimmte. Mit Bilal spaßte man nicht.

»Reg‘ dich ab.« Demir zündete sich noch eine Zigarette an. »Es muss einen besseren Weg geben. Ich habe keinen Bock, dass die Bullen uns fertigmachen.«

»Es gibt keinen besseren Weg.« Bilal zog einen Faltplan der Innenstadt aus der Hosentasche.

»Hast du kein Smartphone?«

»Alter.« Bilal sah ihn mit großen Augen an. »Ich hoffe, deins ist ausgeschaltet.«

»War nur ein Witz.«

»Die Bullen können da alles peilen. Mach das Scheißding bloß nicht an.«

Bilal zeigte mit dem Finger auf die Karte. »Hier ist der Commerzbank-Tower, Große Gallusstraße. Das ist eine Einbahnstraße. Auf der Seite der Commerzbank stehen überall Poller. Vor denen wird der Transport kurz anhalten. Der Spasti springt raus und läuft die Treppen zur Bank hoch. Gegenüber der Bank gibt es ein paar Parkplätze. Aber da ist auch irgendwas Wichtiges. Da hängen ständig Wachleute herum. Da können wir uns nicht aufhalten.« Bilal spuckte aus dem Fenster. »Wir kennen das Auto, mit dem der Kurier ankommt. Ein schwarzer gepanzerter A8 mit Frankfurter Kennzeichen. F-GG 313. Sollte man erkennen. Wir stellen uns weiter vorne auf. Wenn das Teil an uns vorbeikommt, geht es los. Wir fahren ihnen nach und plätten sie, wenn sie anhalten.«

Was für ein beschissener Plan. Aber Bilal hatte recht. Entweder so oder gar nicht. Der Zeitpunkt musste genau stimmen. Erwischten sie den Kurier zu dicht am Fahrzeug, sprang er in den Wagen zurück. War er bereits zu nahe an der Bank, würde er in den Eingang flüchten. Nur das Überraschungsmoment sprach für sie. Nicht eben viel. Wenn das nicht in die Hose ging, wusste er es auch nicht.

»Warum machst du eigentlich doch mit?«, fragte Bilal. Demir zuckte mit den Achseln. Er blieb Bilal die Antwort schuldig, stocherte nervös in der Kippenschachtel herum. Die Frage konnte er sich selber kaum beantworten. »Okay, behalte es für dich. Aber vielleicht kannst du mir sagen, wo du die Knarre herhast.«

»Die habe ich von Onur.«

»Onur? Der Penner.« Bilal lachte.

»Das ist zwei oder drei Jahre her. Der hat damals herumgetönt, dass er die Knarre einem Bullen abgenommen hat.«

»Scheiße. Der nimmt nicht einmal einem Schülerlotsen die blöde Kelle ab.« Bilal kicherte. »Das hast du dem doch nicht geglaubt.«

»Nein.« Demir drehte an der Musikanlage herum. »Hat auch nicht lange gedauert, bis er die Wahrheit ausgespuckt hat.«

»Wo hatte er sie wirklich her?«

»Von einem Junkie. Bei dem wollte er Stoff kaufen. Der Junkie hielt ihm plötzlich die Knarre unter die Nase. Onur hat sich fast in die Hosen gepisst. Nach dem ersten Schreck hat er sie ihm für einen Hunderter abgekauft.«

»Wo hatte der Junkie sie her?«

»Der hat sie in einer Tankstelle auf der Toilette gefunden.«

»Dann hat sie dort ein Bulle liegen gelassen? Wäre nicht das erste Mal.«

»Ich glaube schon. Sig Sauer 227. Die Bullen haben früher die gleiche getragen.«

»Geschieht dem blöden Bullen recht.« Bilal sah Demir von der Seite an. »Also gibt es nur einen, der dich mit der Waffe in Verbindung bringen kann.«

»Ja. Und?« Demir wandte sich Bilal zu. »Soll ich ihn umbringen?« Er lachte. Bilal verzog keine Miene. »Wäre es schade um ihn?«

»Nein. Aber ich bin kein Killer.«

»Dann lebst du damit, dass es jemanden gibt, der weiß, dass du eine Waffe hast.«

»Ja, muss ich wohl.«

»Und ich muss es auch.«

Demir sah Bilal an, wusste dessen Aussage nicht einzuordnen.

»Ich mach jetzt mal für einen Moment die Augen zu. Wird ein harter Tag.«

Demir sah seinem Partner zu, wie er den Sitz nach hinten drehte und es sich bequem machte. Er sah auf die Uhr. Es war 17:25 Uhr. Bilal fing an zu schnarchen. Für ihn war an Ruhe nicht zu denken. Er überlegte, wie er sich im Knast am besten mit den Russen arrangieren könnte.