57

Michael saß am Schreibtisch und schaute auf seinen Kontoauszug. Auf dem Konto auf den Cayman Islands waren 276 000 Dollar, doch es hatte alles nichts gebracht. Mary war tot. Seine Bemühungen waren vergebens gewesen. Er hatte gehofft, das Geld könne Mary retten, doch es hatte ihn auf einen Weg geführt, der die Frage nach Marys ewigem Leben unbeantwortet ließ. Zwar hatte Simon ihm versichert, dass alles in Ordnung sei, doch Michael war sich da nicht so sicher.

Außerdem stammte das Geld von Finster. Es war beflecktes Geld, teuflisches Geld – eine Prämie, die Michael bekommen hatte, um Gott und der Kirche Schaden zuzufügen. Dieses Geld hatte nur Leid gebracht.

Als Hawk bellte und in den Flur flitzte, wurde Michael aus seinen Gedanken gerissen. Es hatte geklingelt. Michael steckte den Kontoauszug in die Gesäßtasche, verließ das Arbeitszimmer und öffnete die Tür. Vor ihm stand eine hochgewachsene Frau.

»Mr. St. Pierre?«, fragte sie mit einem Akzent, den Michael nicht einordnen konnte.

Michael musterte die Frau. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Sie konnte Ende dreißig sein, aber auch fünfzig.

»Das mit Ihrer Gattin tut mir sehr leid.« Sie reichte Michael ein schmuckes Kuvert. »Das hier ist vom Vatikan, der Ihnen sein tiefstes Beileid ausspricht. Man wird für Sie beten in den Stunden Ihrer Trauer.«

Michael senkte den Blick. Er wusste wirklich nicht, in welchem Verhältnis er nach all dem Chaos, das er angerichtet hatte, zur Kirche stand.

Die Frau lächelte. Sie schien seine Verlegenheit zu spüren. »Mr. St. Pierre, Sie müssen wissen, dass die Kirche die Fallen der Versuchung kennt. Doch die Kirche glaubt an die Vergebung der Sünden.«

Michael schaute auf die Visitenkarte. »Sind Sie Nonne?«

Die Frau lachte leise. »Nein. Ich heiße Genevieve. Simon ist ein Freund von mir. Ich leite ein Waisenhaus in Italien und bin in der Stadt, um Spenden zu sammeln.«

Michael schaute schweigend auf den Umschlag des Vatikans.

Die Frau lächelte. »Natürlich nicht von Ihnen. Ich nehme hier in der Stadt an einer Spendengala teil. Simon hat mich gebeten, Sie zu besuchen, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«

»Es geht mir gut«, sagte Michael, doch sie wussten beide, dass es eine Lüge war.

»Wenn ich etwas für Sie tun kann ...« Die Frau streckte die Hand aus. »Jeder geht mit seiner Trauer anders um. Manchmal können einem Menschen helfen, die dasselbe Leid durchgemacht haben.«

Michael drückte die Hand der Frau. Sie war weich und überraschend zart. Einen Augenblick spendete die Gegenwart dieser Frau ihm Trost. Er wusste nicht, ob es ihre freundliche Art war, die ihn berührte, oder die Tatsache, dass sie ein Waisenhaus leitete. Da er als Baby adoptiert und von liebevollen Eltern aufgenommen worden war, hatte er immer schon eine Seelenverwandtschaft zu anderen Waisen verspürt. Diese Menschen waren ganz allein auf der Welt. Und die Frau, die sich ihm als Genevieve vorgestellt hatte, kümmerte sich um diese vergessenen Kinder. Sie gab ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein, und erfüllte ihre Welt mit Liebe.

Michael schob eine Hand in die Gesäßtasche und strich über den Kontoauszug. Mit einem Mal wusste er, was er mit dem Geld tun würde.

Doch es würde ihm keinen Frieden bringen. Nichts und niemand konnte ihm Frieden bringen, innere Ruhe, Gewissheit. Nicht diese Frau, nicht Simon, nicht Paul und auch nicht die Kirche, und wenn sie noch so mächtig war. Denn keiner von ihnen konnte die Frage beantworten, die ihn noch immer quälte.

Er wusste nicht, ob Mary in Frieden ruhte.

Der dunkle Pfad Gottes
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