14.

Morgenlicht fiel ins Zimmer. Mary hatte eine schreckliche Nacht hinter sich. Seit Beginn der Behandlung schlief sie schlecht, doch die letzte Nacht war besonders schlimm gewesen. Das Erbrechen und der Durchfall raubten ihr die Kraft, und der Schmerz höhlte sie aus. Sie war erschöpft, und ihr Lebenswille wurde immer schwächer.

Als das Sonnenlicht auf ihre Augen schien, erwachte Mary. Der Trost des Schlafes würde ihr nun wieder einen Tag lang versagt bleiben. Sie drehte sich auf die Seite ...

Und konnte kaum glauben, was sie sah.

Michael war zurück! Jetzt würde sie das Monster, das sie herausgefordert hatte, besiegen und an den schrecklichen Ort verweisen, woher es gekommen war. Mary hatte von schrecklichen Gefahren und vom Tod geträumt, doch jetzt stellte sich heraus, dass es wirklich bloß Träume gewesen waren.

Michael war zu ihr zurückgekehrt, wie er es versprochen hatte.

»Na, ausgeschlafen ?«, scherzte Michael und stellte Blumen in eine Vase. Er hatte das Zimmer aufgeräumt, und zum ersten Mal seit Tagen waren die Vorhänge aufgezogen. Mary schaute auf den blauen Himmel, als sähe sie ihn zum ersten Mal.

Michael beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. »Ich habe dein Lächeln vermisst«, sagte er. »Wie geht es dir?«

»Viel besser.«

Michael wusste, dass sie log, hakte aber nicht nach. Er wusste, dass Mary für ihn stark sein wollte.

Sie kuschelte sich in seine Arme. Das hier war es, was sie wirklich brauchte, mehr als jedes Medikament und alle guten Wünsche. Gehalten zu werden und die Geborgenheit zu spüren. Das Gefühl, Liebe zu bekommen und Liebe zu geben. Es war für beide eine Quelle der Kraft, auch für Michael: Die Angst, die ihn geplagt hatte, seit er das Land verlassen hatte, war wie weggeblasen. Es war, als hätte er sie irgendwo in Deutschland zurückgelassen.

Schließlich löste er sich aus der Umarmung und blickte Mary in die Augen. »Wie wär's, wenn wir eine Woche ans Meer fahren und im Ship's Bell Inn übernachten, sobald du hier raus bist?«

»Und uns in den Dünen lieben.«

Michael lächelte. »Gute Idee. Haben die Ärzte gesagt, wie lange die Behandlung noch dauert?« Er konnte es nicht erwarten, Mary endlich wieder nach Hause zu holen.

»Noch eine Woche. Morgen wollen sie noch mal ein bisschen in mir herumstochern.«

Michael kicherte. »Ich würde auch gerne ein bisschen in dir herumstochern.«

»Das können wir arrangieren«, sagte Mary und stupste ihre Nase in seinen Nacken. Sie hatte seinen Geruch immer gemocht. Er schenkte ihr Trost und Sicherheit. In den letzten sieben Tagen hatte sie immer wieder die Befürchtung gehabt, Michael würde nie mehr zurückkehren. Der Gedanke hatte Mary mit Schrecken erfüllt. Sie hatte Angst, alleine zu sterben.

»Wie war deine Reise?«, fragte sie.

»Sie war anstrengender, als ich dachte.« Michael massierte ihr den Rücken. Seine Hände glitten langsam von den Schultern abwärts, so wie sie es am liebsten mochte.

»Hast du denn alles erledigt?«, fragte Mary.

»Ja.« Michael drückte sie an sich. »Jetzt lasse ich dich nicht mehr allein.«

Zum ersten Mal seit langer Zeit glaubten sie beide, dass alles wieder gut würde.

Michael betrat die dunkle Wohnung, warf die Post auf den Tisch in der Diele und schaute auf den Anrufbeantworter. Die kleine rote Anzeige zeigte dreizehn Anrufe an. Michael drückte auf die Abspieltaste.

»Erste Nachricht«, sagte die elektronische Frauenstimme; dann eine Männerstimme: »Michael ? Ich bin's. Ruf mich an.« Es war Paul. Michael drückte erneut auf die Taste, um sich die nächste Nachricht anzuhören. »Ruf mich an, Michael.« Wieder Paul. Noch einmal drückte Michael auf die Taste. »Michael, ich weiß, dass du zurück bist. Zwing mich nicht, zu dir zu kommen und ...« Michael drückte auf die Taste, ehe er sich die vollständige Nachricht angehört hatte, und stellte den Anrufbeantworter ab. Dann schaute er in der Küche nach Hawk, doch der Hund war nirgends zu sehen. Vielleicht ging Mrs. McGinty gerade mit ihm spazieren. Auch CJ, die Katze, ließ sich nicht blicken.

Michael zuckte die Schultern, nahm seine Post und öffnete sie auf dem Weg ins Arbeitszimmer. Als er das Licht einschaltete, blieb ihm beinahe das Herz stehen.

Auf seinem Lieblingsstuhl saß ein Mann von kräftiger Statur, mit pechschwarzem Haar, schieferblauen Augen und wettergegerbtem Gesicht. Er trug eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd. Seine schwarzen Schuhe waren an den Sohlen abgelaufen, doch das Oberleder war blitzsauber. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen. Er konnte Mitte dreißig sein, aber auch ein Fünfzigjähriger, der sich gut gehalten hatte. CJ, Marys Katze, lag auf seinem Schoß. Der Mann streichelte sie, als wäre es seine eigene. Hawk lag zu seinen Füßen und schlief.

»Mr. St. Pierre ?«, fragte der Mann mit italienischem Akzent.

Michael erkannte die Stimme sofort wieder. »Raus hier!«, befahl er.

Der Mann rührte sich nicht.

Michael griff nach dem Telefon. »Ich gebe Ihnen dreißig Sekunden.«

»Und was wollen Sie Ihrem Freund, diesem Polizisten, sagen ?«, fragte der Fremde.

Michael nahm den Hörer ab und wählte.

»Dass der Mann, den Sie bestohlen haben, in Ihrer Wohnung sitzt?« Der Fremde verzog keine Miene.

Michael legte auf. »Wer sind Sie?«

»Ich heiße Simon«, erwiderte der Mann.

Michael klopfte das Herz bis zum Hals. Er überlegte angestrengt, was er tun sollte.

»Ich will meine Schlüssel zurück«, sagte Simon.

Michael zuckte zusammen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden...«

»Dann wollen wir mal sehen, ob ich Ihre Erinnerung auffrischen kann«, entgegnete Simon. »Sie sind knapp bei Kasse. Ihre Frau ist schwerkrank. Sie rennen durch den Vatikan und zünden Rauchbomben.« Er hob die Hände. »Dann stehlen Sie zwei wertlose Schlüssel, steigen in ein Flugzeug nach Jerusalem, klettern den Berg Kephas hinauf und stehlen zwei weitere Schlüssel in einer Kirche.« Er verstummte kurz, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Meine Kugeln haben Ihren Kopf nur um wenige Zentimeter verfehlt«, fügte er dann hinzu.

»Sie reden Blödsinn.«

Simon ließ Michael nicht aus den Augen, als er eine Pistole aus der Jacke zog. Er richtete die Mündung auf den Kopf der schlafenden Katze. Seine Miene war undurchdringlich. »Ich nehme an, das ist die Katze Ihrer Frau.«

Michael schwieg und ballte in hilfloser Wut die Fäuste.

»Sagen Sie mir, wo die Schlüssel sind.« Simons Blick wanderte von CJ zu Hawk, dem Hund, dann wieder zurück zu Michael. »Sie können alle drei überleben, wenn Sie meine Frage beantworten.«

»Die Schlüssel sind weg«, sagte Michael. »Ich habe sie verkauft.«

»An wen?«

»An einen Mann.«

Simon seufzte. »Und wie heißt dieser Mann?«

»Der Mann heißt August Finster. Er ist ein deutscher Industrieller«, sagte Michael schließlich. Der Name kam ihm leicht über die Lippen. Er hatte keine Gewissensbisse, seinen Auftraggeber zu verraten. Finsters Anwesen wurde von zwanzig Wachleuten bewacht, und die Schlüssel lagen in dem einbruchsicheren Kellerraum. Niemand konnte die Schlüssel stehlen, weder Simon noch sonst jemand.

Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit stand Simon auf. CJ sprang von seinem Schoß. Der Mann war groß, fast eins neunzig. »Sie wissen nicht, was Sie getan haben«, sagte er.

»Ich habe das Leben meiner Frau gerettet...«

»... und die Welt verdammt.«

Diese Bemerkung machte Michael für einen Moment sprachlos. »Was reden Sie da?«, fragte er, nachdem er sich ein wenig gefasst hatte.

»Glauben Sie an Gott, Mr. St. Pierre?«

»Nicht mehr.«

»Sie haben also an ihn geglaubt? Dann wäre es besser, Sie würden zum Glauben zurückfinden.«

»Ich spreche ein Dankgebet, wenn Sie verschwunden sind.«

Simon ließ sich nicht beirren. »Im Jahre zweiunddreißig nach Christi Geburt sagte Jesus zu einem seiner Jünger: ›Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen. Und alles, was du auf Erden bindest, soll auch im Himmel gebunden sein.‹ Und er gab Petrus zwei Schlüssel, um seine Macht zu symbolisieren, die Absolution zu erteilen oder zu verdammen. Die Macht, die Himmelspforte zu kontrollieren.«

Der Mann, der sich Simon nannte, strahlte eine solche Kälte aus, wie Michael es nie zuvor bei einem Menschen erlebt hatte. Offenbar handelte er aus einem tiefen Glauben heraus, der normalerweise Terroristen und Fanatikern vorbehalten war.

»Sie sollten jetzt gehen«, sagte Michael.

»Offenbar verstehen Sie immer noch nicht«, erwiderte Simon. »Sie haben die Schlüssel zum Himmel gestohlen.«

Der Mann musste verrückt sein. Jede Glaubwürdigkeit, die er bis jetzt noch besessen hatte, verflüchtigte sich. Michael hatte angenommen, dass es Simon nur um Geld ging. Aber der Mann schien tatsächlich zu glauben, im Auftrag Gottes zu handeln.

»Der Himmel ist geschlossen, Michael«, sagte Simon.

»Gehen Sie jetzt!«, fuhr Michael ihn an. »Verschwinden Sie aus meinem Haus!«

»Sie wissen nicht einmal, wem Sie die Schlüssel verkauft haben, nicht wahr, Michael?«

Michael umklammerte den Arm des Mannes, doch Simon reagierte blitzschnell. Er riss Michael so schnell herum, dass dieser gar nicht wusste, wie ihm geschah, und stieß ihn auf den Stuhl. Simon beugte sich zu Michael hinunter und sagte mit ruhiger, fester Stimme: »Wir holen uns die Schlüssel zurück.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon. Als er die Wohnungstür erreicht hatte, drehte er sich noch einmal kurz herum. »Wir brechen in zwei Tagen auf. Wie kann man nur so dumm sein ? Sie haben wirklich keine Ahnung, wer Finster ist.«

Michael schwieg. Er stand unter Schock. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie jemanden gesehen, der so voller Zorn war.

Der dunkle Pfad Gottes
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