12.

Es war eine riesige Ebene am Ende der Welt. So weit das Auge reichte, gab es nichts als Gestrüpp. In der Ferne erhob sich eine kleine Bergkette. Michael stieg auf den Gipfel eines kleinen Hügels, warf seinen Leinenrucksack auf die Erde und schaute sich um. Er war stundenlang durch steiniges Gelände marschiert, denn es führte keine Straße hierher, nur ein paar Feldwege durchschnitten die karge Vegetation.

Das öde Umland des Berges Kephas wurde von niemandem beansprucht, und ihm kam keine politische oder religiöse Bedeutung zu. Reiste man allerdings drei Meilen weiter Richtung Süden, gelangte man zu einer Hügelkette, die eine Höhe von über achthundert Metern erreichte. Zu dieser Hügelkette gehörte der Jebel et-Tur, der Ölberg, der eine dramatische historische Bedeutung hatte. Die Geschichten über den Ölberg waren vor langer Zeit aufgezeichnet und durch die Jahrhunderte überliefert worden: Vom Ölberg war Jesus zum Himmel gefahren.

Doch wichtiger für Michael war der Berg Kephas, genauer die Himmelfahrtskirche, die auf dem Gipfel stand. Michael hatte eine Vermutung, was diese Kirche betraf. Ob er mit seiner Vermutung recht hatte, wusste er nicht, doch viele Fakten wiesen darauf hin. Und Bruder Joseph hatte gesagt, Petrus habe vor seinem Tod eine Pilgerreise zum Berg Kephas unternommen, um dort zwei Wochen lang zu beten und Gott um Führung zu bitten. »Einige Wissenschaftler vertreten die Ansicht«, hatte Joseph erklärt, »dass Petrus eine Vorahnung hatte, was die Zukunft bringt, und dass er auch seinen Tod vorausgeahnt hat. Deshalb habe er einen bestimmten Gegenstand in das Land seines Gottes zurückgebracht, weil er fürchtete, dieser Gegenstand könne Kaiser Nero in die Hände fallen.«

Doch Petrus besaß nichts von Wert; er hatte alle weltlichen Besitztümer aufgegeben. Nur das Wort des Erlösers hatte eine besondere Bedeutung für ihn. Petrus' einziger materieller Besitz waren die Schlüssel, und die würde er um jeden Preis vor Kaiser Nero beschützen, der danach strebte, alles zu zerstören, was mit den verhassten Christen zu tun hatte.

Daher nahm Michael an, dass Petrus – dessen Name von dem griechischen Wort petros abstammte, »Felsen« – eine Pilgerfahrt zu genau dem Berg gemacht hatte, von dem Jesus in den Himmel aufgefahren war, ein Berg namens Petros oder im Aramäischen Kephas. Indem der Vatikan die Schlüssel des Petrus im Vatikanischen Museum unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ausstellte, wurde der ganzen Welt ihre vermeintliche Echtheit bewiesen. Auf diese Weise konnten die echten Schlüssel an dem Ort verwahrt werden, an den Petrus selbst sie gebracht hatte, ohne Angst vor einem Diebstahl haben zu müssen. Denn wer würde die Schlüssel Christi in einem nichtchristlichen Teil der Welt suchen, wo sie doch bereits im Vatikan ausgestellt waren, wo jeder sie sehen konnte ?

Michael hatte sofort einen Flug von Rom nach Tel Aviv gebucht. Er besorgte sich alles, was er brauchte, fuhr mit einem Wagen zu der Hügelkette in der Nähe von Jerusalem und begann seinen Marsch.

Auf dem Gipfel des letzten Berges erblickte Michael die alte Steinkirche. Auf einem schlichten Holzschild standen die Zeiten des Sonntaggottesdienstes. Hinter der Kirche lag ein riesiger Friedhof, der sich bis zum Horizont erstreckte. Es war niemand zu sehen, und es gab im weiten Umkreis keine Häuser oder gar eine Ortschaft.

Die Himmelfahrtskirche war ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Die untergehende Sonne tauchte die Kirche in orangerotes Licht. Michael öffnete die Tür. Es war ein einfaches Bauwerk aus Holz und unbehauenen Steinen. Es gab keine Fenster, nur Schlitze in der dicken Steinmauer. Die matten Strahlen der Sonne beleuchteten ein Kruzifix über dem Altar. Michael kam es so vor, als wäre an dieser heiligen Stätte die Zeit stehen geblieben. Der Altar bestand aus verwittertem Holz und Stein; eine weiße Decke lag darauf, auf der das päpstliche Symbol der beiden gekreuzten Schlüssel zu sehen war. Zwei Karaffen, die eine mit Wein, die andere mit Wasser gefüllt, standen neben einer Zinnschale. Zu beiden Seiten des Altars brannten zwei Kerzen, deren flackernder Schein sich auf einem alten Kelch spiegelte.

Michael ging um den Altar herum, berührte die Wände, den Stuhl des Priesters und den kleinen Tabernakel, der am Rand des Altars stand. Er hatte sein Werkzeug mitgebracht, doch er bezweifelte, dass er es heute Nacht brauchen würde. Dies hier war kein Museum mit hohen Sicherheitsstandards, sondern eine schlichte, antike Kirche, die die Menschen nicht aussperren, sondern einladen wollte. Es war ein Ort, an dem jeder Gedanke an ein Verbrechen völlig absurd erschien, außer vielleicht in einer Predigt oder bei der Vergebung.

Michael kroch unter den Altar und legte sich auf den Rücken. Der Altartisch war nicht besonders dick, aber stabil. Dort war nicht genug Platz für das, was er suchte. Er drehte sich auf den Bauch. Unter dem Altar war der aus uraltem Buchenholz bestehende Boden ungefähr fünfzehn Zentimeter höher als in den anderen Bereichen der Kirche. Als Michael die einen Meter zwanzig lange Fläche langsam abklopfte, wobei er aufmerksam lauschte, hörte er genau unter dem Altar ein hohles Geräusch. Sofort zog er sein Messer hervor, stieß es in eine Ritze und hebelte das Bodenbrett heraus.

Fünfzehn Zentimeter darunter war nur nackte Erde. Michael hebelte die beiden angrenzenden Bretter heraus, doch auch darunter war nichts als Erde. Enttäuscht steckte Michael das Messer ein, stand auf, setzte sich in die erste Kirchenbank und dachte nach. In katholischen Kirchen war es üblich, Reliquien in den Altären aufzubewahren und sie auf diese Weise mit einer Aura Gottes zu umgeben. Im Vatikan gab es sogar eine eigene Abteilung mit dem Namen »Bibliothek der Reliquien«. Es war ein makabrer Raum, in dem Knochen von Heiligen und andere antike Artefakte aufbewahrt wurden. Der Bibliothekar hatte die Aufgabe, winzige Schachteln und Umschläge mit diesen Reliquien zu füllen und sie an Kirchen in der ganzen Welt zu schicken, wo sie in den Altären aufbewahrt werden sollten.

Michael starrte auf den schlichten Altar vor ihm. Auch diese Kirche war mit Sicherheit keine Ausnahme von der Regel...

Er ging zurück zum Altar, zog das Messer wieder heraus und kroch unter den Tisch. Er betrachtete die feste Erde, klopfte darauf und begann mit den Fingern zu graben, doch ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Dann hob er das Messer und stieß es mit voller Wucht in die Erde.

Michaels Arm zuckte schmerzhaft, als das Messer stecken blieb. Die fünfzehn Zentimeter lange Klinge drang zwar in den Boden ein, aber nicht weiter als zwölf Zentimeter. Michael zog das Messer heraus und stieß es ungefähr dreißig Zentimeter weiter links erneut in die Erde. Wieder blieb die Klinge nach zwölf Zentimetern stecken. Einen halben Meter weiter rechts stieß Michael das Messer ein drittes Mal in die Erde. Wieder ragten ein paar Zentimeter der Klinge aus dem Boden.

Hektisch begann Michael mit dem Messer zu graben. Die Erde war sehr fest, als wäre sie seit Jahrhunderten nicht berührt worden. Seine Arme ermüdeten, als er den Boden lockerte und dann mit der Hand wegschaufelte. Nach ein paar Minuten machte er eine Pause und spähte hinaus. Die Einsamkeit machte ihm zu schaffen. Die Stille war bedrückend, beinahe unheimlich. Selbst das Graben schien keine Geräusche zu verursachen.

Bis Michael gegen Metall stieß. Ein leises Kreischen erklang, als das Messer über die unsichtbare Oberfläche kratzte. Michael grub die Erde noch schneller weg, und langsam kam das Hindernis zum Vorschein. Es schien eine Kiste zu sein. Hastig wischte Michael die letzten Reste Erde weg. Die Kiste bestand aus zerfressenem, uraltem Metall. Die gehämmerte Oberfläche war stumpf und verrostet.

Michael klopfte das Herz bis zum Hals. Er hatte recht gehabt: In der Kiste lag mit Sicherheit irgendetwas Wertvolles.

Er strich mit den Fingern über den Rand. Ja, es war eindeutig eine Metallkiste, deren Seiten etwa sechzig Zentimeter lang waren. Doch Michael sah kein Schloss und keine Griffe. Es gab keine Möglichkeit, die Kiste zu öffnen.

Michael zog einen tragbaren Gasschweißbrenner aus der Tasche und zündete ihn an. Die blaue Flamme warf Schatten auf die Wände. Er stellte den Brenner so ein, dass die Flamme kaum zu sehen war, und richtete sie dort auf die Kanten der Kiste, wo sie am dünnsten war. Die zwölfhundert Grad heiße Flamme brannte die Schweißnähte schnell auf. Ehe Michael die Kiste rundherum aufgeschweißt hatte, stellte er den Brenner ab, zog ein kleines Stemmeisen aus der Tasche und schob es in die nun offene Schweißnaht. Der Deckel der Kiste quietschte, als er ihn aufhebelte. Michael spähte hinein und entdeckte ungefähr einen Meter tiefer einen weiteren Behälter. Er sprang in die Öffnung, hockte sich hin und sah, dass es eine kleine Kiste aus Metall war. Seine Erregung wuchs, als er sie herausnahm. Die kleine Kiste besaß kein Schloss, nur einen einfachen Riegel.

Michael öffnete ihn, griff in die Kiste und brachte ein kleines Holzkästchen zum Vorschein. Es hatte ungefähr die Größe einer Zigarrenkiste. Es schien uralt zu sein; in den Deckel war die verzierte Himmelspforte geschnitzt. Michael legte das Kästchen auf den Altar und öffnete es. In dem Kästchen lag ein weißes Tuch, zerfetzt und vermodert. Michael nahm es heraus und legte es andächtig auf den Altar. Tief im Inneren wusste er, dass der Inhalt des Tuches für seine Frau die Rückkehr ins Leben bedeutete.

Als er das Tuch auseinanderfaltete, fielen zwei schlichte Schlüssel heraus. Das Metall war angelaufen. Sie glichen ihren Nachbildungen im Vatikan fast aufs Haar. Auch die echten Schlüssel waren nur ein wenig größer als ihre modernen Gegenstücke. Beide waren ziemlich dick und fast zehn Zentimeter lang. Einer schien aus Silber zu sein, der andere aus Gold. Doch als Michael sie in der Hand hielt, verriet ihm das Gewicht die Wahrheit. Sie bestanden nicht aus wertvollem Metall, sondern vermutlich aus Messing und Eisen.

Dies waren die Schlüssel, die er gesucht hatte.

Michael rollte sie wieder ins Tuch ein und legte es vorsichtig in die Kiste. Diese wickelte er dann in seinen Pullover und steckte ihn in seinen Rucksack. Dann verließ er die Kirche. Die Sonne war längst untergegangen. Nur ein matter Schimmer tauchte den Horizont an diesem Frühsommerabend noch in ein zartrotes Licht. In der Ferne hatte sich leichter Nebel gebildet.

Michael ging den Pfad hinunter und war froh, dass die Dunkelheit hereinbrach. Die Dunkelheit war sein Freund. Er genoss den Schutz der Nacht: Niemand konnte ihn sehen, wenn er selbst nichts sah.

Michael wurde von Hochstimmung erfasst. Er hatte es geschafft und konnte endlich nach Hause zurück!

»Entschuldigen Sie ...«, sagte eine Stimme.

Michael kniff die Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit. Argwöhnisch verlangsamte er seine Schritte.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme kam von oben. Die Dunkelheit verdeckte den Fremden. Seine Stimme hatte keinen hebräischen Akzent, sie klang Italienisch.

Michael blieb abrupt stehen. »Wo sind Sie?«

Schweigen.

Michael zog die Taschenlampe hervor und ließ den Lichtstrahl über den Pfad gleiten. Es war eine starke Lampe, aber der Nebel war dichter geworden, und Michael konnte niemanden sehen.

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er reagierte instinktiv und hielt die Lampe so weit von seinem Körper weg, wie sein ausgestreckter Arm es erlaubte, denn mit der Taschenlampe in der Hand bot er die perfekte Zielscheibe. Er kniff die Augen zusammen und versuchte angestrengt, etwas zu erkennen.

Ein Schuss peitschte. Die Taschenlampe flog Michael aus der Hand und zerbrach mit lautem Klirren.

Michael rannte los, lief quer über das freie Feld. Dunkelheit und Nebel waren mittlerweile verschmolzen. Michael hatte längst die Orientierung verloren und wusste nicht, wohin er lief. Er wusste nur, dass er sich von den Schüssen entfernte.

Doch sein Verfolger näherte sich ihm ...

Michael fluchte lautlos. Alle Vorbereitungen, all die sorgfältige Planung für den Diebstahl im Vatikan waren umsonst gewesen. Er hatte sich zu viel auf seine Geschicklichkeit eingebildet und war dadurch unvorsichtig geworden. Der Diebstahl heute Abend war ein Job für einen Anfänger gewesen – und er hatte den Fehler eines Anfängers gemacht.

Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er vor der unsichtbaren Bedrohung davonlief.

Plötzlich sah er durch den Nebel in unmittelbarer Nähe Grabsteine. Dort musste der Friedhof sein.

Keuchend rannte Michael, so schnell er konnte, auf die Gräber zu. Wenn er es bis zum Friedhof schaffte, hätte er eine Chance. Er war dem Erfolg so nahe! Der Job war so gut wie erledigt und Mary fast gerettet. Jetzt durfte er nicht mehr scheitern.

Michael erreichte den Friedhof, wich alten Grabsteinen aus und sprang über Grabplatten. Obwohl die Dunkelheit und das Wetter seine Sicht beeinträchtigten, konnte er die Grabsteine erkennen – Tausende von Grabsteinen überall um ihn herum. Er drang tiefer auf den Friedhof ein. Der Nebel lag wie eine Daunendecke über der Erde und bildete eine kniehohe Schicht, die so undurchsichtig war wie Milch. Michael rannte um sein Leben, ohne auf die Hindernisse zu achten, die sich im Nebel verbergen mochten. Prompt stolperte er über eine Grabplatte, stürzte und stieß mit dem Kopf gegen einen Grabstein. Benommen versuchte er, den Schmerz abzuschütteln.

Sein Verfolger war ihm noch immer dicht auf den Fersen. Seine Schritte waren vorsichtig und gleichmäßig – die Schritte eines Jägers, der sich unerbittlich näherte, um seine Beute zu töten. Trotz aller Mühe gelang es Michael nicht, seinen Verfolger zu lokalisieren. Es hörte sich an, als wäre er überall gleichzeitig. Der Nebel behinderte die Sicht, während die kleinen Wassertröpfchen die Schritte des Unbekannten in sämtliche Richtungen trugen und ferne Geräusche verstärkten.

Michael überlegte fieberhaft, wie er seinen Verfolger loswerden konnte.

Er hatte zwei Möglichkeiten: davonrennen oder sich verstecken. Wenn er davonrannte, gab er seinen Standort preis. Doch er würde sich in ebenso große Gefahr begeben, wenn er sich versteckte, ohne sich verteidigen zu können. Und Michael trug nie eine Waffe bei sich. Waffen widersprachen seinen Prinzipien. Er hatte sich stets für einen Gentleman-Dieb gehalten. Noch nie hatte er jemanden bestohlen, der den Diebstahl nicht in jeder Hinsicht verschmerzen konnte. Sein Diebesgut stammte größtenteils aus großen Museen, Galerien, Banken und repräsentativen Regierungsgebäuden. Michael hatte nicht die Absicht, Menschen körperlich zu verletzen oder jemandem gar das Leben zu nehmen. Im Augenblick ging es ihm ganz im Gegenteil darum, Leben zu schenken – Marys Leben. Doch wenn es nur die Alternative gab, dass entweder er oder der Fremde sterben musste, war Michael zu allem entschlossen: Er würde seinen Verfolger notfalls töten.

»Ich werde Sie finden.« Die Stimme schien aus allen Richtungen zu kommen.

Michael kauerte sich auf den Boden und versteckte sich hinter dem Grabstein von Ishmael Hadacas. Geboren 1896, gestorben 1967. In der Inschrift stand, dass er im Krieg für die Freiheit Israels gestorben war, ein koptischer Christ, der sein Leben für das Land der Juden geopfert hatte. Er musste ein mutiger Mann gewesen sein, den Michael jetzt gerne bei sich gehabt hätte. Er hätte einen Verbündeten brauchen können.

»Sie wissen nicht, was Sie anrichten! Sie müssen rückgängig machen, was Sie getan haben!«, rief die italienisch gefärbte Stimme.

Wer immer dort draußen lauerte – er hatte Angst. Michael spürte es. Vielleicht war sein Verfolger ein Wachmann, der bei der Arbeit eingeschlafen war. Oder ein Polizist, der durch die Ereignislosigkeit und Langeweile in dieser Einsamkeit leichtsinnig geworden war.

Michael blieb stumm und ließ den Blick schweifen. Er wagte es nicht, sich zu bewegen.

»Ich bitte Sie aus Liebe zur Christenheit, aus Liebe zu allen Menschen«, sagte eine flüsternde, ruhige Stimme, in der nun Verzweiflung mitschwang. »Wenn Sie nicht aufgeben, bleibt mir keine andere Wahl, als Sie zu töten.«

Michael wusste, dass der Mann es ernst meinte. Langsam und geräuschlos kroch er weiter. Vorsichtig spähte er hinter jeden Grabstein und hoffte, dass er sich von der Stimme entfernte. Seiner Schätzung nach bewegte Michael sich Richtung Süden, zurück zu dem Pfad, der ins Dorf führte. Er schaute auf die Uhr. Zehn Minuten waren vergangen, seit er die Stimme des Mannes gehört hatte. Vielleicht hatte sein Verfolger aufgegeben und hatte seine Niederlage akzeptiert. Nein, bestimmt nicht. Der Mann lauerte noch irgendwo, da war Michael sicher.

Jetzt war es ein Geduldsspiel geworden. Der Geduldigere würde den Sieg davontragen.

Michael kam eine Idee. Er zog seine schwarze Jacke aus und hängte sie über einen verfallenen Grabstein. Dann kroch er noch zwanzig Meter weiter und ließ sich auf ein anderes halb verfallenes Grab sinken. Er sammelte ein paar Steine auf und legte sie vor sich auf die Erde. Den mit der Jacke bedeckten Grabstein in der Ferne konnte er kaum erkennen. Er hoffte, dass dieser Grabstein wegen der Jacke, die er darüber gehängt hatte, einem auf dem Boden sitzenden Mann glich.

Er lauschte, schaute sich um. Es war nichts zu hören und nichts zu sehen, aber Michael wusste, der Mann war noch da.

Vorsichtig warf er einen Stein gegen den Grabstein mit der Jacke. Nichts geschah. Er warf einen weiteren Stein. Kaum war dieser gegen den Grabstein geprallt, hallte ein Schuss durch die Dunkelheit, und der Grabstein mit Michaels Jacke stürzte in sich zusammen.

Michael schlug das Herz bis zum Hals. Das Mündungsfeuer war nur wenige Meter entfernt gewesen. Michael hielt den Atem an. Plötzlich konnte er seinen Verfolger sehen. Er war sehr groß. Sein Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen, als er auf die Reste des zertrümmerten Grabsteins zulief. Die Bewegungen und die Haltung des Fremden machten Michael Angst. Dieser Mann war ein Jäger, der niemals aufgab. Ein Profi. Vermutlich ein Elitesoldat.

Michael nahm den nächsten Stein und warf ihn mit aller Kraft. Der Stein flog vierzig, fünfzig Meter durch die Luft, ehe er gegen einen Grabstein prallte. Den Bruchteil einer Sekunde später peitschte der nächste Schuss. Wieder wurde ein Grabstein zertrümmert. Doch zu Michaels Verwunderung kam der Schuss diesmal aus größerer Entfernung. Der Mann hatte sich geräuschlos von Michael entfernt.

Michael sprang auf und rannte in den dichten Nebel hinein. Sofort peitschten hinter ihm Schüsse auf. In gleichmäßigen Abständen feuerte sein Verfolger genau in seine Richtung.

Michael warf keinen Blick zurück. Er rannte um sein Leben.

Der dunkle Pfad Gottes
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