38.
Ungefähr zu der Zeit, als Paul und Simon diskutierten, tauchte Dennis Thal im Berliner Polizeipräsidium auf und legte Michaels Auslieferungspapiere vor. Er sprach mit mehreren Polizisten, die jedes Mal ihren nächsten Vorgesetzten hinzuriefen, doch das führte nur zu immer größerer Verwirrung. Als alle behaupteten, einen Dolmetscher zu benötigen, wurde Thal sauer, vor allem, weil die Antwort immer dieselbe war: Michael St. Pierre war verschwunden. Jemand hatte die Auslieferungspapiere unterschrieben und ihn abgeholt, und damit war es nicht mehr ihr Problem. Jedes Mal nickte Thal höflich und bat dann, mit dem nächsthöheren Vorgesetzten sprechen zu dürfen. Als der oberste Chef ihm schließlich klipp und klar die Situation erklärte, versuchte Thal, seine Wut zu verbergen. Die Beschreibung des Mannes, der Michael abgeholt hatte, war vage und doch eindeutig: »Ein riesengroßer Kerl.«
Als Thal den Parkplatz überquerte, regnete es nicht mehr. Die Karten waren neu gemischt worden. Paul Busch war ihm einen Schritt voraus. Thal jagte jetzt zwei Männer statt einen, und je länger er darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihm der Gedanke. Sein Job war es, Michael St. Pierre zu schnappen – Paul war eine erfreuliche Zugabe. Es wäre schon ein großes Vergnügen für ihn gewesen, sie einzeln zur Strecke zu bringen, doch beide gemeinsam zu schnappen war das Größte.
Und dann sah Thal plötzlich die beiden Leichen. Sie lagen zwischen den parkenden Autos. Die weißen Streifen auf ihren Jogginganzügen hatten sich blutrot verfärbt. Einer der beiden Toten hielt noch immer eine 9mm-Automatik in der Hand. Thal schaute sich um. Es war niemand zu sehen. Er beugte sich hinunter und untersuchte beide Leichen. Die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Thal fluchte. Paul war ihm zuvorgekommen. Aber er konnte noch nicht weit sein.
Die beiden Kerle sollten offenbar Unterstützung von europäischer Seite für Thal sein. Der Gedanke, dass sein Auftraggeber ernsthaft glaubte, er könnte Hilfe brauchen und möglicherweise versagen, verärgerte Thal maßlos. Er nahm sich vor, die Sache anzusprechen, sobald er seinen Einsatz erfolgreich beendet hatte.
Er schaute sich die Leichen genauer an und überprüfte die Eintritts- und Austrittswunden. Sie wiesen auf einen Profi hin: ein Kopfschuss und ein Genickbruch. Das war nicht Pauls Handschrift.
Jemand anderes beschützte Michael.
Die Situation hatte sich zugespitzt.
Ursprünglich lautete Thals Auftrag nicht, Michael St. Pierre zu töten. Er sollte ihn nur beobachten und beschatten. Als er erfuhr, dass Michael eine Bewährungsstrafe verbüßte, leitete Thal eine interne Ermittlung gegen Michaels Bewährungshelfer ein, Paul Busch. Es war lächerlich einfach, jenem Mann als Partner zugeteilt zu werden, der Michael am nächsten stand.
Seit fünf Jahren versteckte Thal sich unter dem Deckmantel interner Ermittlungen. Diese Polizeiabteilung bot ihm Mobilität und die nötige Freiheit, sich unter dem Vorwand geheimer Ermittlungen jederzeit aus dem Staub zu machen. Thals Leistungen waren mittelmäßig – und genau das war seine Absicht. Mittelmäßigkeit wurde in dieser Welt meist ignoriert. Durchschnittliche Leistungen waren für die Menschen uninteressant. Nur die Herausragenden, die Erfolgreichen und Beliebten oder diejenigen, die jämmerlich scheiterten, zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Daher bewegte Thal sich absichtlich immer im Mittelfeld. Er konnte sich keine Aufmerksamkeit leisten, sonst lief er Gefahr, seiner großen Leidenschaft nicht mehr frönen zu können: dem Töten.
Dennis Thal war außergewöhnlich gut und wurde außergewöhnlich gut bezahlt. Die Welt bot ihm nicht viel Freude, aber dass er für seine Leidenschaft so gut entlohnt wurde, war wirklich urkomisch. Sein Auftraggeber hatte ihn aufgefordert, sich eine Arbeit zu suchen, bei der er seinem eigentlichen Job nachgehen konnte, ohne dass jemand misstrauisch wurde. Genau diese Chance boten ihm die Internen Ermittlungen. Ein Undercover-Cop unter den Undercover-Cops. Der Job erlaubte es Thal, die Fortschritte sämtlicher Ermittlungen zu verfolgen, die in seine eigene Richtung wiesen, und sie nötigenfalls zu manipulieren. Die Arbeit bei den Internen Ermittlungen gefiel ihm gut. In der schmutzigen Wäsche anderer Leute zu wühlen. Er hatte die Macht, das Leben anderer Menschen zu zerstören. Was konnte es Schöneres geben?
Am besten aber gefiel es ihm, heimlich für jene gesichtslosen Menschen zu arbeiten, die ihn beschäftigten. Er wurde nicht nur sehr gut bezahlt – der Job bereitete ihm auch größtes Vergnügen. Er hatte seine Berufung im Leben gefunden und zeigte hervorragende Leistungen auf seinem Gebiet.
Unter dem Vorwand, als interner Ermittler die Durchführung der Bewährungshilfe überprüfen zu wollen, insbesondere Paul Buschs Arbeit, hatte Thal sich ins Byram Hills Police Department eingeschlichen. Captain Delia war so nervös und ängstlich darauf bedacht, den eigenen Kopf zu retten, dass er sofort alles über seinen besten Mann preisgab: Pauls Werdegang, seine Akten, einfach alles.
Vor allem hatte Delia eine Akte herausgerückt, die Thals aktuellen Auftrag betraf: die Akte von Michael St. Pierre.
Thal sollte Michael beschatten. Der Auftrag schloss keinen Mord mit ein, nur das Beobachten des Mannes. Doch Thal wäre nicht Thal gewesen, hätte er nicht eine ganz andere Richtung angesteuert. Er verabscheute Paul, sein behagliches kleines Leben, seine Moralvorstellungen und seine Gesetzestreue. Von dem Moment an, als Paul ihm blöd gekommen war und ihm klipp und klar erklärt hatte, er wolle nicht mit ihm zusammenarbeiten, suchte Thal nach einer Möglichkeit, Paul und sein perfektes kleines Leben zu zerstören. Schließlich überwachte Thal die Polizei. Er hatte die Macht, jeden Cop aus dem System zu entfernen, der sich als korrupt erwies. Es kam ihm sehr gelegen, dass Paul seinen Untergang selbst heraufbeschwor. Seine dumme, ehrenwerte Geste, seinem besten Freund Michael zu helfen, gegen seine Bewährungsauflagen zu verstoßen, würde ihm das Genick brechen. Und Thal wäre sofort zur Stelle, um ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Zuerst würde er Pauls Karriere zerstören, dann sein Leben.
Als Thal jetzt vor dem Polizeipräsidium stand, wusste er, dass er auf seine Instinkte hätte hören sollen. Er hätte Paul töten sollen, als er die Möglichkeit gehabt hatte. Jetzt geriet die ganze Sache außer Kontrolle. Paul hatte Michael, und sie waren ihm entwischt. Thal durfte auf keinen Fall scheitern. Wenn er versagte, würde er seinen Job verlieren. Sein Auftraggeber würde ihn ersetzen, und besonders unangenehm war, dass er mit seinem sicheren Tod rechnen musste.
Michael hatte die Staaten verlassen, ehe Thal ihn aufhalten konnte; deshalb hatte Thal neue Anweisungen erhalten. Das Herz schlug ihm vor Freude bis zum Hals. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zurückzuhalten. Er hasste es, Leute zu beobachten und zu beschatten. Schließlich war er kein Babysitter. Er war ein Raubtier, das immer in Bewegung sein musste, immer auf der Jagd und von einer ungestillten Mordlust angetrieben.
Thal würde Michael nicht mehr beschatten, er würde ihn töten. Und nicht nur Michael. Er beschloss, dass Paul ebenfalls sterben musste. Und wenn ihm einer der beiden Schwierigkeiten machte, würde er ihren Familien später Besuche abstatten. Die süße Mary brauchte sich wegen ihrer Krebserkrankung dann keine Sorgen mehr zu machen.
Die Schritte hallten von den feuchten Steinwänden wider, und die Flamme des Streichholzes flackerte in der Dunkelheit. Die dicke Zigarre glühte, während der Rauch in dem Gewölbe in die Höhe stieg und die Stalaktiten in zwanzig Metern Höhe einhüllte. Nacheinander zündete Finster die einhundert Kerzen an, die die Wände säumten. Er tauchte die kubanische Zigarre, die er gerade erst angesteckt hatte, in den Cognac und betrachtete seine bizarre Sammlung religiöser Kunstwerke. Als würde er einem König Ehre erweisen, ging er langsam an jedem Meisterwerk vorbei. Er kannte die Geschichte und Bedeutung jedes Gemäldes genau. Sie waren alle aufgespürt, erworben, katalogisiert und restauriert worden. Eitelkeit war Finster die liebste aller Todsünden. Für ihn war sie durch eigene Leistungen erzeugte Selbstachtung. Und er liebte seine Leistungen sehr.
Es waren mehr als dreitausend Kunstwerke, die hier versammelt waren, und seine Lieblingswerke standen ganz vorne. Viele hatte er in Galerien und Auktionshäusern legal erworben. Bestimmte Stücke, die er in Privatbesitz oder in Sammlungen fand, und Werke, von denen er glaubte, nicht darauf verzichten zu können, verschaffte er sich gelegentlich auf andere Weise. Er besaß dreizehn Stücke dieser Art, und von diesen dreizehn stammten neun aus Gotteshäusern.
Finster faszinierten besonders die weniger bedeutenden Götter und Teufel der frühen Religionen, die von den heutigen »modernen« Religionen als Mythologie angesehen wurden. Die griechischen Götter der Unterwelt, Hades und Persephone; Anubis, der ägyptische Totengott; Proserpina, die römische Göttin der Unterwelt; Loki und Sigyn, die heimtückischen nordischen Götter. Und besonders fesselte ihn, dass diese »finsteren Götter« als Teil einer ausgleichenden Macht in ihren jeweiligen Reichen betrachtet wurden. Es waren keine Götter, die besiegt oder verstoßen werden sollten. Sie wurden zwar gefürchtet, aber auch respektiert und bewundert und als notwendig im täglichen Leben betrachtet. Es verwirrte und verärgerte ihn maßlos, dass die »modernen Religionen« alles versucht hatten, um ihren einzigen Fürsten der Finsternis in ein schlechtes Licht zu rücken.
Der hinduistischen Göttin Kali, einer der finstersten Gottheiten, waren Schreine und Tempel erbaut worden, und man verehrte sie bis zum heutigen Tag. Sie wurde beschwichtigt; ihr wurden Opfer dargebracht. Die Menschen sprachen mit Ehrerbietung von der Göttin und suchten Hilfe bei ihr. Auf ihre Anhänger wurde nicht herabgesehen. Wenn ein Mensch etwas Schlimmes getan hatte, wurde nicht Kali dafür verantwortlich gemacht, weil sie seine Seele besaß; vielmehr ging man davon aus, dass der betreffende Mensch aus freiem Willen gehandelt hatte und die Schuld trug. Finster liebte das Meisterwerk vor ihm, das im Schutz der Dunkelheit aus einem Tempel außerhalb von Jaipur gestohlen worden war.
Kali hatte ihre sechs Arme zu ihren schreienden Anhängern ausgestreckt, die in der Tiefe von Flammen verschlungen wurden.
Vlad der Pfähler war ein Ölgemälde von Rukaj, das er Ceauşescu gestohlen hatte. Der rumänische Fürst der Walachei brachte bei Finster eine Saite zum Klingen. Vlad, der den Beinamen Drăculea trug, war niemals ein Gott gewesen. Er war nur ein Mensch, in dem das Böse in seiner schlimmsten Form Gestalt angenommen hatte. Ein militärisches Genie, das nicht nur seine Feinde, sondern auch seine Landsleute in Angst und Schrecken versetzte. Drăculea, der Fürst aus den nördlichen Regionen der Karpaten, war machtgierig und blutdürstig. Ein siegreicher General, der das Ritual genoss, seine Opfer zu Tausenden auf Pfählen aufzuspießen, sodass ihr Blut als Warnung buchstäblich in Strömen floss. Mit Männern wie ihm – normalen Menschen mit einer Neigung zu Gewalt und Grausamkeit, die ihrer eigenen Selbstzufriedenheit entsprangen – war es nicht notwendig, die Gottlosigkeit in die Welt einzuführen. Die Menschen gerieten auch so auf den Pfad der Sünde.
Ohnehin hatte das Böse die Menschen stets mehr fasziniert als das Gute. Viele Mädchen fühlten sich zu Rebellen hingezogen, dem Mann in der Lederjacke und mit dem Motorrad, der gegen die Gesetze verstieß. Was sollte eine junge Frau an einem Streber, einem Computerfreak, einem Musterknaben schon reizen? Und so war es überall im Leben: Schauspieler wollen böse Charaktere darstellen; der Böse war immer die interessantere Figur in der Literatur. Bittet man jemanden, zehn gute und zehn schlechte Menschen aufzuzählen, wird der Gefragte zehn schlechte Menschen in zwanzig Sekunden nennen, aber nachdem er fünf Gute genannt hat, muss er angestrengt nachdenken.
Und dieser ganze Wirrwarr hatte Finster erschöpft. Die Menschen waren so einfach zu durchschauen. Wenn man mit Geldscheinen wedelte oder sie mit Sex lockte, wurden sie schwach und beugten sich wie ein junger Baum in der Brise. Finster war nur der Verführer und niemals derjenige, der die Waffe schwang.
Er setzte seinen Gang durch seinen makaberen Louvre fort und gelangte schließlich zur Tür der Schlüsselkammer, neben der das Gemälde der Himmelspforte stand.
Mit einem langen schwarzen Sack und einem großen Messer kam Charles die Stufen hinunter.
Finster wandte seinen Blick nicht von dem Gemälde ab, als er mit dem Butler sprach. »Und er sah alles an, und er sah, dass es gut war«, murmelte er.
Charles stand in der Ecke neben dem von der Decke baumelnden Leichnam. Er legte den schwarzen Leichensack auf den Boden und zog den Reißverschluss auf, um alles für den letzten Neuzugang vorzubereiten. Der Leichnam verströmte den Geruch des Todes. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Es kostete Charles einige Mühe, das Seil zu durchschneiden und den Leichnam auf den Boden zu legen. Dann strich er Elles rotes Haar aus dem einst hübschen Gesicht und löste den Strick von dem geschwollenen, gebrochenen Genick.
Gedankenverloren schaute Finster noch immer auf das Gemälde der Himmelspforte. Dann verzog er die Lippen zu einem Lächeln.
»Ich gehe nach Hause«, sagte er.