46.
Busch und Finster standen sich Auge in Auge gegenüber, doch im Club bekam niemand etwas von ihrer Auseinandersetzung mit. Die Musik dröhnte noch immer, und die Tänzer wirbelten über die Tanzfläche. Paul hatte Simons Überzeugungen bisher nicht geteilt und Michaels Plan für verrückt gehalten. Jetzt stand er hier, umklammerte den Arm des Mannes, und Finster konnte nichts anderes tun, als zu versuchen, Paul abzuschütteln.
Finster geriet in Panik, was er noch nie erlebt hatte. Seine Gedanken überschlugen sich, als er hektisch nach einer Lösung suchte, aber keine fand. Nie zuvor hatte er sich so schwach und machtlos gefühlt. Er war an diesem bedrückenden Ort gefangen. Die Bilder auf den bunten Fensterscheiben schrien in sein dunkles Herz, und die Marmorwände sperrten ihn ein. Das verächtliche Grinsen des Riesen, der vor ihm stand, erstickte jedes Leben in ihm.
Dann aber ging eine Wandlung mit ihm vor. Finster hob siegessicher den Kopf, starrte in Pauls Seele ... und lächelte. Und dann begann er zu kochen, im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Augen flackerten und rollten nach oben, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Seine Hände zitterten und zuckten, sein Unterkiefer fiel herunter, und vor seinem Mund bildete sich Schaum. Sein ganzer Körper erbebte wie bei einem epileptischen Anfall. Wild warf er den Kopf von einer Seite zur anderen. Ehe Paul sich versah, lag Finster auf dem Boden und zuckte wie ein Fisch auf dem Trocknen. Seine Fäuste waren geballt, der Kopf flog hin und her und prallte auf den Tanzboden. Die Gäste wurden aufmerksam. Sie gingen zur Seite und machten Platz für den Mann, der wahrscheinlich eine Überdosis genommen hatte.
Paul, der Finster soeben noch mit arroganter, siegessicherer Miene gegenübergestanden hatte, bekam jetzt wahnsinnige Angst. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass Finsters Körper vor seinen Augen von unkontrollierten Krämpfen geschüttelt wurde. Die Gäste im Club beobachteten das Schauspiel teils fasziniert, teils erschrocken. Der schrille Schrei einer Frau übertönte die Musik.
Paul wurde gepackt und von drei kräftigen Rausschmeißern zur Seite gestoßen. Sie hoben Finster vom Boden auf und trugen den von Krämpfen geschüttelten Mann zu einer Couch in einem der kleinen Salons. Für diese Männer war das offenbar Routine. Vermutlich brachen jede Nacht ein paar Leute vor Erschöpfung oder unter Drogeneinfluss zusammen. Diese Männer hatten die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es innerhalb des Clubs zu keinen unliebsamen Zwischenfällen kam. Nicht auszudenken, wenn ein Gast im Drogenrausch starb. Eine polizeiliche Ermittlung konnte dieser Club sich nicht leisten.
Die immer größer werdende Menge folgte ihnen sensationslüstern in den kleinen Salon. Der Mann, der sie eben noch so begeistert hatte, zog sie nun aus anderen Gründen in ihren Bann.
Paul wurde immer weiter von der Szene weggedrängt. Ehe er sich versah, legten die Rausschmeißer Finster auf eine Trage und schnallten ihn fest. Jetzt umringte ihn eine riesige Menge. Fast der halbe Club scharte sich um ihn und verfolgte neugierig das Geschehen. Zwanzig Reihen hatten sich gebildet. Mit donnernder Stimme verlangte Paul, durchgelassen zu werden, doch niemand reagierte darauf, falls ihn überhaupt jemand über die dröhnende Musik hinweg hörte. Paul war ein machtloser amerikanischer Cop in einem fremden Land. Hier hatte er keinerlei Befugnisse. Er hätte nicht weiter von Finster entfernt sein können, der jetzt hinausgeschoben wurde. Wie aus dem Nichts tauchten weitere Rausschmeißer auf und hielten die Neugierigen zurück, damit die Sanitäter den berühmten Industriellen, der offenbar einen epileptischen Anfall hatte, zum Rettungswagen bringen konnten.
Paul wühlte sich bis auf die Straße durch, an den Paparazzi und der neugierigen Menge hinter der Samtkordel vorbei – jene Leute, die auf Einlass hofften. Dann stand er auf dem Bürgersteig, sah aber nur noch die Rücklichter des Rettungswagens und Finsters Limousine gleich dahinter. Beide Fahrzeuge verschwanden in der Dunkelheit.
Michael erwachte inmitten des Gemetzels. Blut floss in kleinen Rinnsälen über die Auffahrt. Er war wie benommen und spürte seinen Körper kaum. Da er nicht wusste, ob es sein eigenes Blut war, wagte er es nicht, sich zu bewegen. Kugeln zischten über seinen Kopf hinweg. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er zwei neue Leichen. Drei Söldner lebten noch und feuerten aus allen Rohren.
Jax stand rechts von Michael im Schutz eines grünen Peugeots. Mit wild funkelnden Augen bestrich der Söldner die Gärten mit Schüssen. Sein Körper zitterte vom Rückstoß des Sturmgewehrs. Einer der Söldner flog rückwärts durch die Luft und blieb regungslos liegen. Michael hörte, wie er durch das knopfgroße Loch im Nacken sein Leben aushauchte.
»Wo ist der Colonel?«, rief der andere Söldner inmitten des Feuergefechts.
»Keine Ahnung«, erwiderte sein Kamerad, der Michael gefangen hielt.
»Eine kleine Schießerei, und schon versteckt er sich? Ich dachte, er ist ein Profi.«
Jax wirbelte herum und richtete die Waffe auf seinen Kumpanen. »Konzentrier dich auf den Feind«, rief er und zeigte in die Dunkelheit.
Michael wartete schweigend, während der Streit eskalierte. Diese Männer waren keine regulären Soldaten, sondern moderne Landsknechte.
Jax drehte sich um. Als er Michael wach zwischen den Leichen liegen sah, rief er triumphierend: »Sieh mal, wer aufgewacht ist.« Er riss Michael an den Haaren hoch.
»Ich will verdammt sein ...«, sagte der andere Söldner.
»Pssst«, fiel Jax ihm ins Wort. »Runter!«
»Bist du Gott, oder was?«, fuhr der Söldner ihn an, während er in die Dunkelheit spähte. Irgendwo in der Finsternis krachte ein Schuss.
»Scheiße!«, war alles, was der Soldat sagte, ehe er vor Michaels und Jax' Augen tot zu Boden fiel.
Simon lag hinter einem alten Steinbrunnen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die gekauften Killer hatten keine Chance. Sie stürzten nacheinander zu Boden.
Wenn er richtig gezählt hatte, lebten nur noch zwei – der Anführer und ein Söldner. Der Söldner – ein Kerl mit dünnen grauen Haarsträhnen – versteckte sich noch immer hinter dem Peugeot. Wo der andere Mann war, wusste Simon nicht. Er schaute durchs Zielfernrohr auf die Auffahrt und entdeckte Michael. Auf wackeligen Beinen stand er hinter dem Peugeot. Er sah arg mitgenommen aus. Sein rechtes Auge war zugeschwollen. Der Söldner mit den dünnen Haarsträhnen stand hinter Michael und drückte ihm die Mündung seines Gewehrs unter das Kinn. Simon versuchte verzweifelt, den Söldner ins Visier zu nehmen, aber der Kerl war nicht dumm. Er riss Michael hin und her, sodass Simon keinen sauberen Schuss auf ihn abgeben konnte. Hundert Meter bei Seitenwind auf ein kleines, bewegliches Ziel – dieses Risiko konnte Simon nicht eingehen.
Er näherte sich den beiden Männern bis auf fünfzig Meter, legte sich auf dem freien Feld auf den Boden, klappte das Zweibein des Gewehrs heraus und zog seine Pistolen. Er bewegte die Finger, um die Verspannungen zu lösen. Dann schlang er die rechte Hand um den Schaft, presste den Kolben gegen die linke Schulter, legte den Zeigefinger auf den Abzug und spähte durchs Zielfernrohr, wobei er die Waffe ganz leicht hin und her bewegte und das Fadenkreuz schließlich auf die Motorhaube des grünen französischen Wagens richtete. Langsam hob er den Lauf und peilte wenige Zentimeter links neben Michaels rechter Schulter einen Punkt an. Ungefähr anderthalb Sekunden lang bewegte der Kopf des Söldners sich im Fadenkreuz hin und her, ehe er verschwand. Kurz darauf tauchte er wieder im Visier auf. Simon kalkulierte den schwachen Wind mit ein, zielte auf den Kopf des Mannes und atmete aus, um abzudrücken ...
Der Fuß traf ihn genau an der Schläfe. Das Gewehr flog ihm aus den Händen und landete auf der Wiese. Simon rollte sich instinktiv zusammen, um den nächsten Schlag abzumildern. Sein Schädel pochte, als er aufsprang. Vor ihm stand ein Mann mit einer der hässlichsten Narben im Gesicht, die Simon je gesehen hatte. Er trug einen beigen Tarnanzug mit den Rangabzeichen eines Colonels – von welcher Armee, war nicht zu erkennen.
Es war das Selbstvertrauen dieses Mannes, das Simon am meisten irritierte. Links und rechts in seinem Hüftgurt steckten Pistolen, doch er hielt keine Waffe in der Hand. Dieser käufliche Killer vertraute offenbar darauf, seinen Gegner auch ohne Waffen töten zu können.
Sie standen sich gegenüber und beäugten sich über eine unsichtbare Barriere hinweg. Der Colonel griff zuerst an und verpasste Simon einen harten Tritt in die Rippen. Simon taumelte nach hinten, gewann sein Gleichgewicht aber rechtzeitig zurück, um dem nächsten Tritt auszuweichen. Er schlug mit den Fäusten auf seinen Gegner ein, der jeden Schlag abblockte. Es schien fast, als könnte dieser seltsame Colonel die Gedanken seines Gegners lesen. In Simon stieg die Angst auf, dass er seinen Meister gefunden hatte.
Der Colonel ging wieder zum Angriff über und traktierte ihn mit zahlreichen Tritten und Fausthieben. Mit jedem Schlag wurde Simon weiter zurückgedrängt und entfernte sich immer mehr von seinen Waffen. Verzweifelt schlug er auf die Beine und den Magen des Colonels ein. Es schien fast, als würde Simon die Oberhand gewinnen, denn zum ersten Mal geriet der Colonel ins Wanken. Simon setzte seinen Angriff fort und legte seine ganze Kraft in jeden Schlag. Doch wie bei einem Schachspiel, das eine ungünstige Wende nahm, erkannte er seinen Irrtum zu spät: Der Colonel legte es darauf an, dass Simon seine Energie verschwendete. Er täuschte Schmerzen und Unterlegenheit vor, obwohl er in Wirklichkeit der Überlegene war.
Als Simon dies erkannte, schlug der Colonel noch brutaler zu und versetzte ihm einen Schlag nach dem anderen. Simons Kräfte ließen jetzt rasch nach. Er wehrte die Schläge ab, so gut er konnte, doch sie trafen ihn immer härter im Gesicht und in der Magengegend. Er wich weiter zurück, weg von seinem Gegner, weg von seinen Waffen, bis er gegen eine Mauer stieß. Er spürte die kalten Steine im Rücken. Simon roch feuchte Luft, die von unten aufstieg. Es war ein Brunnenschacht.
Mit einem wütenden Schrei warf der Colonel sich nach vorne, legte die Hände um Simons Hals und drückte beide Daumen auf seine Kehle. Simon versuchte verzweifelt, sich zu befreien, doch er war zu erschöpft. Er hatte es mit einem Gegner zu tun, der ihm nicht nur kräftemäßig, sondern auch technisch überlegen war. Der Colonel lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Simon und krümmte dessen Rücken so stark, dass er gefährlich weit über den Brunnenrand ragte. Simon sah die tiefe Narbe, die das Gesicht des Colonels entstellte, und die weiße, vernarbte Haut. Als die kräftigen Finger ihm unbarmherzig die Luft abschnürten, hörte Simon seinen Puls in den Ohren und das Aufschlagen der Steine, die über seine Schulter hinweg mindestens zwanzig Meter tief in den Brunnenschacht fielen. Dann wurde es immer dunkler um ihn herum, und er spürte, dass ihm die Sinne schwanden.
Plötzlich waren die Finger, die ihm gerade noch die Luft abgeschnürt hatten, verschwunden. Simon rang keuchend nach Atem und wurde vom Gewicht des Colonels fast erdrückt. Als endlich wieder Sauerstoff in sein Blut gelangte, bekam er so heftige Kopfschmerzen, dass er am liebsten geschrien hätte. Stöhnend befreite er sich vom schlaffen Körper seines Gegners, worauf der Colonel mit einem Messer im Rücken über den Brunnenrand sackte.
Simon sank auf den Boden und lehnte sich gegen die kalten Steine. Übel zugerichtet und blutverschmiert stand Michael vor ihm und lächelte verkniffen. Er ging zum Colonel und zog ihm das lange Messer aus dem Rücken. Der bräunliche Tarnanzug hatte sich rötlich verfärbt. Ohne zu zögern, umklammerte Michael die Beine des Mannes und riss sie hoch, sodass der Leichnam vom eigenen Gewicht in die Tiefe gerissen wurde. Es dauerte fast fünf Sekunden, bis der Körper auf dem Wasser tief unten im Brunnenschacht aufschlug.
Simon fragte Michael nicht, wie er dem anderen Söldner entkommen war, doch er hatte neuen Respekt vor dem Mann gewonnen, den er vor einer Woche noch töten wollte.
Michael steckte das Messer, das er einem der toten Söldner abgenommen hatte, in die Scheide an seinem Unterschenkel. Mit diesem Messer hatte er auch Jax getötet, den brutalen Söldner, der ihn in der letzten halben Stunde gefangen gehalten und als lebenden Schild benutzt hatte.
Paul brauchte zehn Minuten, um zu seinem Auto zu gelangen, und noch einmal fünf, um die Seitenstraßen Berlins hinter sich zu lassen, während er die ganze Zeit wie ein Besessener auf die Tasten seines Handys drückte. Jedes Mal meldete sich eine deutsche Frauenstimme und sagte etwas, dessen Bedeutung Paul nur erahnen konnte. »Die von Ihnen gewählte Nummer ist derzeit nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie nach dem Signalton eine Nachricht.«
Genau das hatte Paul getan, doch er wusste nicht, ob Michael und Simon seine kurze Nachricht jemals erhalten würden. Sie lautete: »Haut ab, er kommt.«
Er drückte auf Wahlwiederholung. »Nun geht ran!«
Wieder war nur die Frauenstimme zu hören.
»Scheiße!« Verärgert klappte Paul das Handy zu.
Warum hatten Michael und Simon ihre Handys nicht eingeschaltet?
Paul schlängelte sich wie ein Wahnsinniger durch den Verkehr, jonglierte mit dem Handy, betätigte die Lichthupe und drückte auf die Hupe. Fünf Kilometer hinter der Stadt sah er den Rettungswagen mit aufgerissenen Türen und eingeschalteten Scheinwerfern am Straßenrand stehen. Paul brauchte gar nicht anzuhalten und nachzusehen, er wusste auch so, dass der Fahrer und der Sanitäter im Wagen tot waren.
Paul hatte nur einen Gedanken: Finster kochte vor Wut und war auf dem Weg nach Hause.