31.
Die 747 rollte über die Landebahn und durchbrach den dichten Morgendunst auf dem Flughafen Tegel in Berlin. Das Licht des Sommermorgens spiegelte sich wie Kristall auf den von Tau bedeckten Wiesen ringsherum. In der vergangenen Nacht waren viele Gefühle, die lange Zeit in Simons Seele verschüttet gewesen waren, wieder aufgetaucht und erinnerten ihn daran, wer er war und was aus ihm geworden war. Er hatte sich auf den Sonnenaufgang gefreut, doch er hatte nicht die reinigende Wirkung, die er normalerweise spürte und auf die er gerade heute mehr gehofft hatte als an jedem anderen Tag. Er wusste, dass die Albträume ihn bald wieder quälen würden – und diesmal am helllichten Tag.
Simon und Michael passierten den Zoll ohne Probleme. Zu Michaels großer Überraschung sprach Simon fließend Deutsch und erklärte den Zollbeamten, dass er und Michael eine Geschäfts– und Vergnügungsreise machten und nichts zu verzollen hätten. Er bat, schnell abgefertigt zu werden, da sie einen Termin einhalten müssten.
Während der letzten Stunden ihres gemeinsamen Fluges hatte Michael geschlafen. Es war kein erholsamer Schlaf gewesen, aber er hatte sich wenigstens nicht mit Simon befassen müssen. Michael bemitleidete diesen Mann und fürchtete ihn zugleich. Der entsetzliche Verlust der eigenen Mutter war für jedes Kind ein erschütterndes Erlebnis, vor allem, wenn der eigene Vater für diesen Verlust verantwortlich war.
Simon hatte dieser Verlust nachhaltig geprägt. Vermutlich war dieser Mann, der sich unter dem Deckmantel der Kirche versteckte, noch weiter von der Erlösung entfernt als Michael selbst. Das Rätsel, das Simon darstellte, verwirrte Michael. Jede Religion mit mehr als einer Milliarde Anhängern verfügte über enorme Macht und versuchte mit allen Mitteln und um jeden Preis, diese Macht zu bewahren. Simon war Handlanger der Kirche geworden. Er würde sämtliche Gesetze übertreten, um sie zu schützen.
»Wir treffen uns im Hotel«, sagte Simon kurz angebunden. Er reichte Michael ein Couvert und winkte ein Taxi vom fast leeren Stand vor dem Flughafen heran. »Ich muss ein paar Besorgungen machen.«
Simon sprang ins Taxi und fuhr davon, ohne etwas zu erwidern. Besorgungen, dachte Michael. Wer weiß, was das bedeutete. Bestimmt ging es nicht tim Gebetbücher.
Michael hängte die Tasche über seine Schulter. Nach dem langen Flug war er müde, und nachdem er sechs Stunden auf dem engen Sitz gesessen hatte, war es schön, die Glieder zu strecken.
Es herrschte nicht viel Verkehr; darum fiel ihm die Limousine sofort auf. Sie war ungefähr hundert Meter entfernt und fuhr in seine Richtung. Michael achtete nicht weiter darauf und ging weiter. Die schwarze Mercedes-Limousine fuhr noch immer auf ihn zu. Michael bog links in eine Geschäftsstraße ab. Wahrscheinlich war seine Reaktion überzogen, aber er litt unter Schlafmangel und zu viel Stress.
Die Limousine bog hinter ihm in die Straße ein. Zufall, nichts weiter. Michael versuchte, den Wagen zu ignorieren. Er verlangsamte seine Schritte und blickte in die Schaufenster. Die Geschäfte waren geschlossen, aber die Inhaber arbeiteten noch und bereiteten sich auf den nächsten arbeitsreichen Tag vor.
Als der Mercedes an den Bordstein fuhr, sah Michael das dunkle Spiegelbild des Wagens in der Schaufensterscheibe eines Metzgergeschäfts. Das hintere Beifahrerfenster wurde geöffnet. Michael versuchte angestrengt, das Gesicht zu erkennen, und beschleunigte dann seine Schritte.
Der Wagen beschleunigte ebenfalls.
Das war kein Zufall!
Michael rannte los.
Als der Wagen in rasendem Tempo die Verfolgung aufnahm, brach das Heck aus. Von den durchdrehenden Reifen stieg schwarzer Qualm auf. Doch der Fahrer des Mercedes trat weiter aufs Gas und fuhr schlingernd um die Kurve. Michael rannte, so schnell er konnte. Das Adrenalin strömte durch seinen Körper. Er hatte keine Ahnung, wohin er lief. Der schwarze Wagen legte in Sekundenschnelle die Entfernung zu ihm zurück. Michael war sicher, dass der Fahrer ihn überfahren wollte. Das Dröhnen des Motors wurde lauter. Irgendwo in der Ferne glaubte Michael, jemanden schreien zu hören.
Er musste sich etwas einfallen lassen, und zwar schnell, sonst war er in ein paar Sekunden tot.
Michael bog rechts ab und gelangte in eine dunkle, beinahe mittelalterliche Gasse, die von Müll übersät war. Zu schmal für die Limousine. Er hörte das Kreischen der Reifen, als der Fahrer eine Vollbremsung machte. Michael warf einen raschen Blick zurück. Der Wagen konnte ihm nicht mehr folgen, er hatte ihn abgehängt.
Michael ging weiter in Richtung des Volksparks. In der Mitte war ein Teich, zu seiner Linken eine grüne Wiese und in der Ferne ein Spielplatz. Hier konnte Michael in der Menge untertauchen.
Am Ufer des Teichs blieb er keuchend stehen und lehnte sich gegen eine Trauerweide. Es war ein idealer Beobachtungsposten. An beiden Enden des Parks, der von einer hohen Mauer umschlossen wurde, führten Ausgänge zurück in die Stadt. Hohe, gusseiserne Tore waren in glänzendem weißem Marmor verankert. Michael fragte sich, ob es die ursprüngliche Absicht des Architekten gewesen war, die Menschen mit der bedrohlich wirkenden Betonmauer und den riesigen Toren hier einzusperren oder auszusperren. Er wurde die Vorstellung nicht los, dass der Park zu einem grotesken Naturreservat wurde, wenn die Tore geschlossen und die Menschen hier gefangen waren, sodass die ganze Welt sie beobachten konnte.
Michael versuchte sich alles in Erinnerung zu rufen, was er in den letzten zwei Minuten erlebt hatte. Ein großer Mercedes mit deutschem Kennzeichen. Er hatte am Flughafen auf ihn gewartet. Der Fahrer hatte gewusst, wann seine Maschine landete. Er hatte gewartet, bis Simon sich verabschiedet hatte, und Michaels Verfolgung erst aufgenommen, als er allein war. Er hatte einen flüchtigen Blick auf den Beifahrer werfen können: ein älterer Mann, dessen Gesichtszüge er nicht erkennen konnte. Sie schienen mit der Dunkelheit im Wagen zu verschmelzen. Dennoch hatte Michael keinen Zweifel.
In der Limousine hatte Finster gesessen.