50.
Paul war übel zugerichtet. Simon und Michael hatten seine Hand und seine Schulter verbunden. Stöhnend lag er in verdrehter Haltung auf der Motorhaube des Wagens, doch er würde überleben, und nur das zählte.
»Jetzt haben Sie sie.« Paul sprach so leise, dass er kaum zu verstehen war.
Simon nickte und bewunderte die Schlüssel, die er so ehrfürchtig in der Hand hielt, als wären sie aus Glas und könnten zerbrechen, wenn nur sein Atem darüberstrich.
»Sie sind so schlicht.«
»Ja. Kaum zu glauben, wo sie doch so machtvoll sind ...«
»Freunde, wir müssen abhauen«, unterbrach Michael die beiden.
Doch Paul starrte noch immer fasziniert auf die Schlüssel. »Darf ich?«
Behutsam legte Simon sie in seine Hand. Sie waren größer, als Paul vermutet hatte. Als er die Schlüssel umfasste, rechnete er mit irgendeiner überwältigenden Empfindung, doch nichts geschah. Stattdessen empfand Paul nur grenzenlose Verwunderung, dass zwei so kleine Objekte tatsächlich eine so große Bedeutung haben konnten. Michael hatte seine Freiheit und sein Leben aufs Spiel gesetzt, um diese zwei Metallstücke zurückzugeben. Es war nicht so sehr ihre Symbolik, die Paul tief beeindruckte, sondern die Kraft, die sie in den Herzen erweckte – einen so starken Glauben an das Unfassbare, dass Menschen bereit waren, dafür Kriege zu führen, zu sterben und alles zu opfern, weil sie von der Erfüllung eines Versprechens überzeugt waren. Es war ein Wunder des Glaubens, das er gut verstand, aber bis zu diesem Augenblick nie selbst erlebt hatte. Und er spürte, dass alles gut werden würde.
»Kommt jetzt«, sagte Michael ungeduldig.
Paul reichte Simon die Schlüssel zurück, der sie in ein Samttuch wickelte, ehe er sie in die Tasche steckte.
Er war erleichtert. Allen Widrigkeiten zum Trotz würden er und Michael nach Hause zurückkehren.
Die großen Türen der Bibliothek flogen krachend auf. Flammen schössen heraus. In dem riesigen Haus wütete eine Feuersbrunst. Scheiben zerbarsten in der Hitze. Rauch quoll heraus, und Flammen erhellten die Nacht. Eine Gestalt rannte durch den Feuersturm auf sie zu. Wie eine schwarze, wilde Bestie legte sie die zweihundert Meter binnen Sekunden zurück.
»Sie werden nichts zurückgeben!« Die Stimme dröhnte aus allen Richtungen. Und ehe sie reagieren konnten, stand er genau vor ihnen. Seine zu Asche verbrannte Kleidung bildete einen sonderbaren Kontrast zu seiner makellosen Haut, die keine Brandblase, keinen einzigen Fleck aufwies. Das aber war völlig unmöglich, wo dieser Mann doch gerade erst durch ein flammendes Inferno gelaufen war.
Michael trat vor und bereitete sich auf einen Angriff vor. »Wie kommen Sie darauf, dass wir...«
Ehe er den Satz beenden konnte, streckte Finster ihn mit einer Drehung seines Handgelenks zu Boden. »Ich werde so viel Leid über Sie bringen, wie Sie sich niemals hätten vorstellen können.«
»Sie haben mir Ihr Wort gegeben«, stöhnte Michael.
»Mit Ihnen habe ich nicht gesprochen.« Finster wandte sich Paul zu. »Jetzt verschone ich niemanden mehr«, brüllte er den verwundeten Polizisten an.
Paul wich zurück und versuchte zu entkommen. Als er von der Motorhaube des Wagens fiel und zu Boden stürzte, hatte er das Gefühl, jemand hätte ein Messer in seine verwundete Schulter gestoßen. Er war wie gelähmt und verbiss sich einen Schmerzensschrei, doch in Gedanken schrie er wie am Spieß. Sein Albtraum war Wirklichkeit geworden: Er verbrannte bei lebendigem Leib. Seine Haut fühlte sich an, als würde sie in Flammen stehen, doch es war nicht das kleinste Flämmchen zu sehen.
Er war wieder auf dem Boot seines Vaters. Flammen rasten übers Deck, erfassten seine Beine und drohten ihn zu verschlingen. Er war wieder das hilflose Kind, vollkommen machtlos gegen das Monster. Er krümmte sich im Gras, während ihn unerträgliche Schmerzen quälten.
»Hören Sie auf!«, rief Michael und stand mühsam auf.
»Geben Sie mir die Schlüssel.« Finster funkelte Michael zornig an. Seine Stimme war so bedrohlich wie das Feuer, das sein Haus verschlang, und seine Augen waren kalt, tot und schwarz wie die tiefsten Tiefen des Ozeans.
Michael spürte eine so entsetzliche Angst, wie er es niemals für möglich gehalten hatte. Er hatte nicht nur Angst um sich oder Mary – auch um Paul, um Simon, um alle Menschen. Verwirrt drehte er sich zu Simon um und blickte ihn fragend an. Der Priester schüttelte heftig den Kopf.
»Geben Sie mir die Schlüssel, sonst bringe ich Leid über jeden, den Sie kennen und lieben«, zischte Finster.
»Niemals«, rief Simon.
Hilflos beobachtete Michael, wie Paul sich im feuchten Gras hin und her warf, sich aufs Gesicht schlug, die Arme um seinen Körper schlang und versuchte, die unsichtbaren Flammen zu löschen.
»Nein! Hören Sie auf!«, schrie Michael, der das Leid seines Freundes nicht mehr ertragen konnte. »Versprechen Sie das, wenn ich Ihnen die Schlüssel gebe? Versprechen Sie, dass Sie kein Leid über die Menschen bringen?«
»Ich verspreche gar nichts!«, brüllte Finster.
Michael antwortete ihm so leise, dass er kaum zu verstehen war: »Dann können Sie die Schlüssel abschreiben«, sagte er trotz der Gewissheit, dass seine Worte den Tod seines besten Freundes besiegelten.
Paul fiel das Sprechen ungeheuer schwer. Mühsam presste er hervor: »Michael... verhandle nicht mit ihm ...«
»Die Schlüssel!« Finster trat so dicht an Michael heran, dass sein heißer, stinkender Atem ihm übers Gesicht strich.
Paul wälzte sich hin und her. »Nimm keine Rücksicht auf mich, Michael...« Dann sah er etwas im Gras liegen und streckte trotz der unsäglichen Schmerzen die Hand danach aus.
Michael sah aus den Augenwinkeln, was Paul vorhatte. »Paul... nein ... o Gott!«
»Der ist nicht hier«, spottete Finster.
Paul schlang eine Hand um die Waffe, hob sie auf und richtete sie auf Finster.
»Damit können Sie mir nichts anhaben«, zischte Finster, der sich nicht einmal die Mühe machte, sich nach der Waffe umzudrehen, die auf seinen Rücken gerichtet war.
Doch Paul hatte gar nicht die Absicht, Finster zu erschießen. Er drückte sich die Waffe an den eigenen Kopf. »Versprich mir, Michael, dass du dich um Jeannie und meine Kinder kümmerst.«
»Paul!«, schrie Michael.
»Deine Anstrengungen... und mein Opfer... dürfen nicht umsonst gewesen sein.«
Nie zuvor hatte Paul so klar gesehen. Es war, als wären seine Schmerzen eine zwar unerträgliche, aber doch irgendwie reinigende Feuertaufe. Er glaubte an Michael, und er glaubte an Simon. Und vor allem glaubte er an die Schlüssel.
»Paul, tu es nicht...«
»Versprich es mir«, bettelte Paul mit flehendem Blick.
Michaels Herz kämpfte gegen die Worte in seinem Kopf an. Er sprach sie dennoch aus: »Ich verspreche es«, flüsterte er, obwohl er wusste, dass er damit das Todesurteil seines besten Freundes unterschrieb.
Paul legte den Zeigefinger auf den Abzug, mobilisierte seine letzten Kräfte und drückte ab, doch seine Hand rutschte weg. Kein Schuss fiel. Plötzlich rasten stechende Schmerzen durch seine Brust. Keuchend bäumte er sich auf, riss die Augen auf und brach zusammen.
»Sie haben ihn getötet!«, rief Michael.
»Nein«, erwiderte Finster. »Wünschen Sie sich, ich hätte es getan? Dann hätten Sie endlich etwas gegen mich in der Hand, nicht wahr? Nein, es war zu viel für ihn. Er hatte einen Herzinfarkt. Wenn er nicht sofort in ein Krankenhaus kommt, wird er sterben. Geben Sie mir die Schlüssel, Michael. Dann lasse ich Sie gehen, dann können Sie ihn retten. Noch haben Sie Zeit. Sind Sie gewillt, über sein Leben zu verhandeln? Wenn nicht, wird sein Tod für immer auf Ihrem Gewissen lasten.«
Michael war wie erstarrt. Pauls Leben oder Marys Seele? Finster hatte recht. Es spielte keine Rolle, wie er sich entschied. Er würde für den Rest seiner Tage eine unerträgliche Schuld mit sich herumtragen.
Mit einem Mal stieg eine so unbändige Wut in Michael auf, dass sie jeden vernünftigen Gedanken verjagte. Er stürzte sich auf Finster, schlang in blinder Wut beide Hände um dessen Kehle und drückte zu.
Und dann stand sie dort.
Dort, wo gerade noch Finster gestanden hatte.
Mary.
Michael würgte sie mit solcher Kraft, dass sie zu ersticken drohte.
»Michael... bitte ... lass mich ...«, keuchte Mary.
Michael erstarrte vor Angst. »Mary? Mary, es tut mir so leid ...«
»Machen Sie die Augen zu, Michael. Das ist ein Trick«, warnte Simon ihn leise. »Sie wissen doch genau, dass das nicht Ihre Frau ist. Geben Sie nicht nach.« Es war das erste Mal, dass Michael Gefühlsregungen bei Simon bemerkte.
Michaels Arme fielen herunter. Er sank auf dem Boden zusammen und senkte schluchzend den Kopf – ein geschlagener Mann. Mary legte eine Hand auf seine Schulter. Als Michael den Kopf hob, hatte sie sich wieder in Finster verwandelt. »Wenn Sie mir die Schlüssel geben, Michael, können Sie Ihren Freund noch retten, und ich lasse zu, dass Ihre Frau ihren Frieden findet. Das ist doch der Grund dafür, weshalb Sie das alles hier tun. Ich garantiere Ihnen, dass sie ihren ewigen Frieden finden wird.« Finster verstummte kurz. »Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Michael, der nicht mehr ein noch aus wusste, schaute Simon hilflos an.
»Sein Wort bedeutet nichts«, warnte Simon.
Michael stand schweigend auf. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er ging zu Simon. »Geben Sie mir die Schlüssel«, sagte er und wich dem Blick des Priesters aus.
»Was ?« Simon traute seinen Ohren nicht. »Ich bin nicht so weit gereist, um ...« Wut erfasste ihn. »Es spielt keine Rolle, was mit uns geschieht, Michael. Das hier ist für Gott.«
Michaels Enttäuschung brach sich Bahn. »Wir mussten alle Hindernisse ganz alleine aus dem Weg räumen, Simon. Von Gott gab es keine Hilfe. Wo war er denn die ganze Zeit? Er will diese Schlüssel zurück? Warum hilft er uns dann nicht? Warum gibt er mir kein Zeichen ?«In Michaels Stimme schwang Verachtung mit. »Soll er sich die Schlüssel selbst zurückholen. Ich brauche ihn nicht. Er hat nichts für mich getan. Weder für mich noch für meine Frau.«
»Michael...«
»Das stimmt, Michael.« Finster ergriff die Gelegenheit, sich einzumischen. »Er hat Sie vor langer Zeit verlassen.«
»Das hat er nicht, Michael! Ihr Name ist St. Pierre, der heilige Petrus. Glauben Sie, das ist ein Zufall? Sie waren dazu bestimmt.«
»Nein!«, brüllte Finster. »Das ist nicht wahr! Denken Sie nach, Michael«, fügte er in liebenswürdigem Tonfall hinzu. »Wenn es so ist, hat Gott dieses Leid über Sie gebracht. Und wenn nicht...« Er trat näher an Michael heran. »Wenn nicht, hat er Sie verlassen.«
Finsters Worte klangen in Michaels Ohren nach. Er wandte sich wieder Simon zu. »Geben Sie mir die Schlüssel.«
»Dann müssen Sie mich töten.«
»Zwingen Sie mich nicht dazu.«
»Ich helfe ihnen«, bot Finster an, worauf Simon plötzlich schmerzhafte Krämpfe verspürte. Er streckte die Arme zur Seite, sodass sein Körper die Gestalt eines Kreuzes annahm.
»Sie erinnern mich an jemanden. Wer war das noch gleich?« Finster lachte und rieb sich das Kinn.
»Michael, Sie haben Gott betrogen. Sie werden die Himmelspforte nicht sehen«, stieß Simon hervor.
»Das werden Sie auch nicht.« Finster lächelte.
Michael zog das Samttuch aus Simons Tasche, drehte sich zu Finster um und wickelte die Schlüssel aus. »Wenn ich Ihnen diese Schlüssel gebe, gehört die Seele meiner Frau Gott. Sie wird in Frieden ruhen. Außerdem werden Sie uns nicht im Weg stehen, wenn wir versuchen, Pauls Leben zu retten. Und lassen Sie Simon in Ruhe. Bringen Sie kein Leid über die Menschen, die ich kenne. Versprechen Sie es mir.«
Finster griff gierig nach den Schlüsseln.
»Versprechen Sie es!«, rief Michael und zog die Hand zurück.
»Sie haben mein Wort«, gab Finster nach.
Mehr tot als lebendig sank Simon zu Boden.
Mit ausgestreckter Hand, in der beide Schlüssel lagen, trat Michael vor.
Finster begann zu zittern und wich hastig zurück. »Warten Sie. Ich kann die Schlüssel nicht berühren.«
»Dann lege ich sie an einen sicheren Ort.«
»Denken Sie nach, Michael«, keuchte Simon. »Vergebung ... Sie dürfen nicht vergessen, dass es stets Vergebung gibt.«
»Dann vergeben Sie mir, Simon.«
Schockiert beobachteten Finster und Simon, wie Michael zu dem Steinbrunnen ging, der noch immer von den Halogenscheinwerfern angestrahlt wurde. Ohne eine Sekunde nachzudenken, warf er die Schlüssel in den Brunnen.
»Was haben Sie getan!«, kreischte Finster.
»Es ist Ihr Brunnen. Ihnen wird schon etwas einfallen, die Schlüssel zu bergen.«
»Aber ich kann sie nicht berühren!«, rief Finster verzweifelt.
»Das ist nicht mein Problem.«
Michael ging zur Limousine und öffnete die Tür. Er reichte Simon die Hand, doch der lehnte die Hilfe wütend ab. Ohne ein Wort zu sagen, ging Michael zu Paul, griff unter die Arme seines Freundes und zog ihn zum Wagen. Wortlos eilte Simon ihm zu Hilfe und ergriff Pauls Beine. Die beiden Männer legten Paul auf die Rückbank, fuhren los und verschwanden in der Nacht.