10.

Bruder Joseph führte die Gruppe durch die Menschenmassen im Petersdom zur Sakristei und zur Schatzkammer, dem letzten Punkt ihrer exklusiven Führung. In fünfzehn Minuten würde die Gruppe sich in einem Vortragssaal versammeln, wo Fragen gestellt werden konnten.

In der Schatzkammer waren Gemälde ausgestellt, die den heiligen Petrus, die Apostel und ihren Einfluss im Laufe der Jahrhunderte thematisierten. In Vitrinen in der Mitte des Saales lagen Bibeln, Bücher und Handschriften, die aus der riesigen Bibliothek des Vatikans stammten. Die meisten Bände standen in den Vatikanischen Archiven, zu denen man nur Zugang hatte, wenn man eine spezielle päpstliche Genehmigung besaß. Einige Vitrinen enthielten Artefakte aus der Zeit Konstantins, während andere Stücke aus der Zeit Jesu Christi zeigten: Tongefäße, Münzen, kleine Stücke antiker Kleidung und Werkzeuge aus längst vergangener Zeit. Die bedeutendsten Artefakte waren in eigenen Vitrinen ausgestellt, die zum Teil in abgetrennten Bereichen standen.

Michael zog zwei Notizblöcke aus seiner Umhängetasche. Während er sie in der rechten Hand hielt, griff er in die Westentasche und zog mit der Linken die Brieftasche hervor.

»Albert«, sagte er zu Higgins. »Könnten Sie mir kurz helfen? Würden Sie das hier festhalten?«

Higgins schnaufte ungehalten, nahm dann aber die Notizblöcke entgegen. Michael griff erneut in seine Tasche, zog einen roten Stift heraus und steckte ihn in die Brusttasche. Dann nahm er Higgins die Notizblöcke wieder ab, worauf der Professor sich wortlos der Gruppe anschloss.

»Danke«, rief Michael ihm hinterher und schaute auf die Uhr. Es war 11.59 Uhr.

Er beugte sich über die letzte Vitrine, zog einen Gegenstand aus der Tasche und klebte ihn unter die Vitrine. Es war eine kleine braune Kugel mit einem rosafarbenen Kern, der nicht zu sehen war.

Dann folgte er der Gruppe, die sich um einen Schaukasten versammelt hatte, in dem alte, verrostete Ketten ausgestellt waren. Auf dem Messingschild stand ein Dank an die Kirche San Pietro in Vincoli – Sankt Peter in den Ketten–, die Ketten des heiligen Petrus ausstellen zu dürfen.

»Vor seinem Tod unternahm Petrus eine Pilgerreise ins Heilige Land zum Berg Kephas«, erklärte Bruder Joseph. » Dort betete er zwei Wochen lang und bat Gott um Führung. Einige Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass Petrus eine Vorahnung hatte, was die Zukunft bringen würde, und dass er auch seinen Tod vorausgeahnt habe. Deshalb habe er einen bestimmten Gegenstand in das Land seines Gottes zurückgebracht, weil er fürchtete, dieser Gegenstand könne Nero in die Hände fallen, dem grausamen Herrscher über das Römische Reich.

Während der Reise des Petrus vernichtete ein verheerendes Feuer mehr als zwei Drittel der Stadt Rom. Tausende von Menschen starben. Nach seiner Rückkehr musste Petrus mit ansehen, dass Nero seine Glaubensbrüder gnadenlos verfolgte, da er ihnen die Schuld an dem Brand Roms in die Schuhe schob. Auch Petrus wurde in Ketten gelegt und seines Glaubens wegen gefoltert.« Bruder Joseph zeigte auf die Ketten in der Vitrine. »Petrus blieb neun Monate lang gemeinsam mit dem heiligen Paulus in den dunklen Verliesen des Mamertinischen Kerkers gefangen, dann ordnete Nero seine Hinrichtung an und befahl, Petrus zu kreuzigen. Petrus, der nicht mit Jesus auf eine Stufe gestellt werden wollte, bat darum, mit dem Kopf nach unten gekreuzigt zu werden, und die Bitte wurde ihm erfüllt.«

Während die anderen aufmerksam zuhörten, verschwand Michael in einer Ecke des Saales. Von einem einzigen Scheinwerfer angestrahlt, stand dort eine Vitrine, ungefähr sechzig mal sechzig Zentimeter groß, auf einem Onyxsockel. Eine an drei Pfosten befestigte Samtkordel sperrte den Bereich ab. Michael verschwendete keine Zeit damit, einen Blick in die Vitrine zu werfen; das hatte er in den letzten zwei Tagen schon getan. Unter dem Schutzglas lagen die beiden antiken Schlüssel auf einem dicken, purpurroten Samtkissen.

Bruder Joseph setzte seinen Bericht über die vom Kaiser befohlene Kreuzigung des Heiligen fort. »Nero, einer der skrupellosesten Cäsaren, die es je gegeben hat, hatte unter anderem durch seinen berüchtigten Circus Berühmtheit erlangt, in dem er Löwen auf Menschen hetzte, um sich auf diese Weise von unliebsamen Gegnern zu befreien und sich daran zu ergötzen, wie diese Menschen von den Raubtieren zerfetzt wurden. Sogar die eigene Mutter ließ Nero töten. Seine Gelage und sein ausschweifendes Leben waren legendär, und seine Dekadenz sucht auch zweitausend Jahre später noch ihresgleichen. Diesem Mann gebührt ein Platz in den Reihen der übelsten Verbrecher in der Geschichte.«

In den Jahren seiner Universitätslaufbahn hatte Bruder Joseph die Fähigkeit entwickelt, die Aufmerksamkeit von Zuhörern auf sich zu ziehen. Seine Seminare an der Universität waren stets überfüllt gewesen. Und auch jetzt umringten ihn alle, damit ihnen nichts von seinem Vortrag entging.

Diese Aufmerksamkeit sorgte nun dafür, dass alle erschrocken zusammenzuckten, als der gedämpfte Knall einer Explosion am Ende des Saales zu hören war.

Es gab dreihundertsechzehn Kameras, deren Bilder auf Sechsundsechzig Monitore übertragen wurden. Die Bilder auf jedem Monitor wechselten im Vier-Sekunden-Takt und konnten per Tastendruck jederzeit gestoppt werden. Gruppen von Monitoren standen zwischen rosafarbenen Marmorsäulen und wurden von Sicherheitskräften in drei Schichten überwacht. Eine Viertelstunde Pause pro Stunde war Vorschrift, damit die Augen der Wachleute nicht ermüdeten und ihnen nichts entging.

In den letzten drei Jahren hatte es keine größeren Zwischenfälle im Vatikan gegeben. Zuletzt hatte ein Verrückter namens Juan Medenez eine Waffe gezogen und verlangt, Gott solle ihm persönlich erscheinen, oder er würde in der Sixtinischen Kapelle um sich schießen. Der Vorfall wurde in den Nachrichten kaum erwähnt. Die Festnahme von Juan Medenez war einem einzigen Mann zu verdanken. Dieser Mann wurde für sein schnelles Einschreiten in den Rang eines Oberst befördert und von Papst Johannes Paul II. zum Kommandanten der Vatikanischen Polizei ernannt. Stephan Enjordin war mit einunddreißig Jahren der jüngste Chef, den die Sicherheitskräfte des Vatikans je gehabt hatten. Von seinen Untergebenen respektiert und gefürchtet, zögerte Enjordin nicht, in seiner ruhigen Baritonstimme harte Strafen für Indiskretion, Unfähigkeit oder Gehorsamsverweigerung zu verhängen. Als er seinen Dienst im Vatikan angetreten hatte, war er wegen seiner freundlichen und humorvollen Art einer der beliebtesten Schweizergardisten. Doch mit zunehmender Verantwortung legte er seine gewinnende Art mehr und mehr ab, denn er war der Meinung, sie würde seine Karriere behindern.

Jetzt durchquerte Enjordin den Kontrollraum im Untergeschoss der Polizeidienststelle und überwachte die dreiundvierzig Männer, die in diesem mit Hightech und Renaissancekunst ausgestatteten Raum ihren Dienst versahen. Wie alle Schweizergardisten war auch Enjordin unverheiratet; er konzentrierte sich auf seinen Job, ohne dass private Interessen ihn ablenkten. Er war ein Soldat, der seine Aufgaben stets klar vor Augen hatte, der für das Gute kämpfte und sich auch durch Änderungen in der Politik und Verwaltung nicht beirren ließ. Enjordins Mission war, Gott, den Papst und diesen vierundvierzig Hektar großen Staat zu beschützen.

Er sorgte dafür, dass die Sicherheitsanlagen des Vatikans immer auf dem neuesten Stand der Technik waren. Die »Sprengstoff-Schnüffler« beispielsweise waren Hightech-Geräte, wie sie auch vom Militär benutzt wurden. Die Bodyscanner, die an den Eingängen installiert waren, waren hochwertiger als alle Geräte, über die Flughäfen, Botschaften und sogar das Weiße Haus verfügten. Im Lauf der Zeit waren zahllose Waffen von Touristen beschlagnahmt worden.

Oberst Enjordin hatte seinem Feind das Überraschungselement aus der Hand genommen. Nun blickte er wachsam und angespannt auf die Monitore sechs und sieben.

Er konnte nicht glauben, was er da sah.

Ein leises Grollen war zu hören, das von der Vitrine in der Mitte der Schatzkammer zu kommen schien. Unter der Vitrine drang dicker Rauch hervor, der einem in Sekundenschnelle die Sicht nahm und der sich in der Schatzkammer ausbreitete. Die Vitrinen klirrten, als eine Serie dumpfer Explosionen zu hören war. Was zunächst wie ein kleiner Zwischenfall ausgesehen hatte, verwandelte sich mit einem Mal in eine gefährliche Situation. Die Explosionen begannen am Ende des langen Saales und setzten sich weiter fort wie Dominosteine, die einander umstießen.

Als der Rauch sich im ganzen Raum ausbreitete, gerieten die Besucher in Panik. Geschrei brandete auf; Mütter rissen ihre Kinder an sich. Der Feueralarm heulte. In diesem Lärm hörte niemand die Anweisung der Vatikanischen Polizei, Ruhe zu bewahren, und auch nicht die Hinweise, wie man am schnellsten ins Freie gelangte. Die verschreckten Besucher, von denen sich allein zweihundert in der Schatzkammer aufhielten, drängten im dichten Rauch zu den Ausgängen. Das totale Chaos brach aus.

Fast zeitgleich erfolgten die gedämpften Explosionen auch im Gregorianisch-Etruskischen Museum. Auch hier vernebelte dicker Rauch die Räume und Gänge, als die in Panik geratenen Touristen zu den Ausgängen strömten. Unter vier weiteren Vitrinen quoll Rauch hervor und versetzte die Massen in immer größere Verwirrung.

Ohne Vorwarnung senkten sich an jeder Wand im gesamten Museum Stahlplatten herab, um die Kunstwerke vor der Zerstörung zu retten. Die Bücher, Handschriften und Artefakte lagen in vakuumversiegelten Vitrinen unter drei Zentimeter dickem Panzerglas und waren vor fast jedem äußeren Einfluss geschützt. Die Fresken und Ölgemälde, Bücher und Artefakte waren unersetzbar; deshalb handelte die moderne Welt blitzschnell, um die kostbare Vergangenheit zu schützen.

Bruder Joseph war die Ruhe inmitten des Sturms. Er forderte die Mitglieder seiner Gruppe auf, sich die Hände zu reichen, sodass er sie alle ins Freie führen konnte. Seine Augen brannten, und Tränen liefen ihm über die Wangen, doch nichts konnte seine Entschlossenheit ins Wanken bringen.

Auch die Nonnen und Rabbiner bewahrten Ruhe. Auf Professor Higgins traf das allerdings nicht zu. Was würden die Zeitungen schreiben, was seine Kollegen und Kritiker sagen, wenn er hier starb ? Niemand würde sich an seine großartigen wissenschaftlichen Arbeiten erinnern.

Plötzlich packte jemand Higgins' Nacken. Eine Sekunde später spürte er einen Einstich unterhalb des rechten Ohrs. Sofort wurde ihm schwindelig, doch er riss sich von seinem Angreifer los. Blindlings rannte er in Richtung Ausgang, prallte jedoch mit Wucht gegen eine Marmorstatue des heiligen Thomas von Aquin, des Schutzheiligen der Gelehrten, und verlor das Bewusstsein, noch ehe er auf dem Boden aufschlug.

Die Besuchermassen strömten aus allen Ausgängen auf den Petersplatz. Das Gerücht von einem Terrorangriff machte die Runde. Bruder Joseph gelang es, seine Gruppe an den Rand des Platzes zu führen. Keiner von ihnen bemerkte, dass sie Michael und Higgins verloren hatten.

Der fette, ölige Rauch im Museum war dichter geworden. Man konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Die panischen Schreie verstummten allmählich, nachdem die Touristen ins Freie geflohen waren. Nur noch Michael und der bewusstlose Higgins hielten sich in dem Museum auf.

Michael blieben weniger als dreißig Sekunden. Er wusste, dass die Vatikanische Polizei und die Feuerwehr jeden Moment eintreffen würden. Doch er hatte alles sorgfältig geplant, und sein Timing war perfekt. Die Rauchbomben, die er in der Werkstatt aus Zucker, Mottenkugeln und Epsomsalz zusammengemischt hatte, hatten ausgezeichnet funktioniert. Die rosafarbenen und weißen Zünder waren das Geheimnis. Sobald sie in die braune Masse gesteckt wurden, schmolz der Überzug. Die Gefahr eines Feuers hatte zu keinem Zeitpunkt bestanden. Michael hatte nicht die Absicht, jemanden zu töten.

Er umklammerte Higgins' Füße und zog ihn zu der Vitrine mit den Schlüsseln. Der Rauch war jetzt undurchdringlich. Michael schaute sich um und lauschte. Er war allein.

Er griff in die Tasche, nahm die Gegenstände heraus, die er in Vitellis Autowerkstatt angefertigt hatte, und setzte sie schnell und geschickt zu einem Hammer zusammen, mit dem er auf die Vitrine schlug. Die dünne Diamantspitze des Hammers durchdrang mühelos das zweieinhalb Zentimeter dicke Glas. Durch das winzige Loch strömte Druckluft aus dem Griff des Hammers und zersprengte die Nähte der Glasvitrine von innen. Eine zweite Alarmsirene heulte los.

Michael griff in die zerschmetterte Vitrine und nahm die kostbaren Schlüssel heraus. Blitzschnell zerlegte er den Hammer, dessen Griff acht Liter Druckluft enthielt, in seine drei Einzelteile und setzte die Diamantspitze in den Stift. Der Kopf des fünf Pfund schweren Hammers war das Gehäuse des Fotoapparats, und der Griff sah aus wie die Spirale eines Notizblocks. Michael verstaute alles in Higgins' Umhängetasche und blickte dann auf seine Fingerspitzen, die mit Latexhaut überzogen war, die man von seiner echten Haut nicht unterscheiden konnte; auf diese Weise hatte er keine Fingerabdrücke hinterlassen. Michael riss sich die Latexhaut von den Fingern, rollte sie zu einer kleinen Kugel zusammen, steckte sie sich in den Mund und schluckte sie herunter.

Oberst Enjordin und zwei Schweizergardisten eilten durch den Petersdom, während die letzten Besucher zu den Ausgängen flohen. Enjordin hatte die höchste Alarmstufe ausgegeben. Die Feuerwehr musste jeden Augenblick eintreffen. Sechsunddreißig Sicherheitskräfte liefen zu den Ausgängen, um ihre vierzig Kollegen dort zu unterstützen.

Enjordin bahnte sich mit den beiden Gardisten den Weg durch den dichten Rauch bis in die Schatzkammer. Obwohl die Türen geöffnet waren und die Ventilatoren auf höchster Stufe liefen, löste der Rauch sich nur langsam auf. Enjordin hustete, wedelte mit den Armen und versuchte verzweifelt, etwas zu erkennen.

Dann endlich standen er und seine Männer vor der Vitrine mit den Schlüsseln. Sie sahen zwar das zerbrochene Glas, konnten aber nicht ins Innere der Vitrine blicken, weil noch immer dichter Rauch in der Luft hing. Enjordin wollte seinen beiden Untergebenen einen Befehl erteilen, drehte sich um ...

Und erstarrte, als er einen Mann dort stehen sah.

»Was tun Sie hier?«, fragte Enjordin auf Englisch.

Der Mann antwortete nicht.

»Reden Sie! Warum ist das Glas zerbrochen?«, meldete sich einer der beiden Wachleute zu Wort. Er hieß Vernea und war der Kräftigste der drei Männer. Seine blau-goldene Uniform spannte sich über seinen breiten Schultern. Er war entschlossen, Antworten zu bekommen; dabei war es ihm egal, zu welchen Mitteln er greifen musste.

Der Fremde hüllte sich noch immer in Schweigen.

Vernea packte ihn und zerrte ihn zu der Vitrine. »Wo sind die Schlüssel?«, fuhr er den Mann an. Was dieser Kerl getan hatte, war mehr als ein Diebstahl. Es war ein Sakrileg, ein Angriff auf Gott. Für ein solches Vergehen war in Verneas Augen keine Strafe hart genug.

Der Rauch, der die Vitrine einhüllte, löste sich allmählich auf. Vernea schaute genauer hin, als Oberst Enjordin sich über die Vitrine beugte.

Sofort ließ Vernea Michaels Schulter los.

Auf dem purpurroten Samtkissen lagen die beiden Schlüssel.

»Tut ... tut mir leid«, stammelte der kräftige Wachmann. »Ich dachte ...«

Michael winkte ab. »Schon gut. Ich konnte in dem Rauch nichts sehen und bin mit dem Mann dort zusammengestoßen.« Er zeigte auf Higgins, der auf dem Boden lag. »Sie sollten sich um ihn kümmern.«

Enjordin achtete nicht auf die Worte des Fremden, bei dem es sich offenbar um einen Amerikaner handelte. Stattdessen versuchte er sich ein Bild von der Situation zu machen. Er starrte auf die zerbrochene Vitrine, als würde sie ihm verraten, was wirklich geschehen war. Dann trat er zurück und betrachtete die anderen Vitrinen und Kunstwerke in der Nähe. Schließlich beugte er sich über Higgins, rollte ihn auf den Rücken und tastete den Bewusstlosen ab, fand aber nur dessen Brieftasche und die Hotelschlüssel. Dann nahm er sich die braune Büchertasche vor, die neben Higgins auf dem Boden lag. Zuerst zog er zwei Bücher heraus und reichte sie Vernea. Als er noch einmal in die Tasche griff, entdeckte er drei Stifte und mehrere Flugblätter mit kirchenfeindlichen Parolen. Mit grimmiger Miene setzte Enjordin seine Suche fort und zog eine schwere Kamera aus der Ledertasche. Er drehte sie hin und her und staunte über das Gewicht. Die Kamera wog mindestens zwei Kilo.

Als Enjordin auf die Flugblätter mit den kirchenfeindlichen Parolen schaute, errötete er vor Wut. Dann musterte er Higgins mit einem verächtlichen Blick. Dieser Mann war ihm heute schon aufgefallen. Auf einem der Monitore hatte Enjordin beobachtet, wie er mit Bruder Joseph diskutiert hatte.

Enjordin wandte sich Michael zu. »Sind Sie verletzt?«

»Nein«, antwortete Michael. »Aber das Feuer ...«

»Wir zeigen Ihnen den Weg hinaus«, unterbrach Enjordin ihn und wandte sich seinem Kollegen zu. »Reiner?«

»Kommen Sie, Sir«, sagte Unteroffizier Reiner, nahm Michaels Arm und führte ihn durch die Rauchfetzen. Die Schritte der Männer hallten gespenstisch durch das verlassene Museum. Mitglieder der Schweizergarde und der Vatikanischen Polizei standen schweigend vor jeder Vitrine, jedem Kunstwerk und jedem Ausgang in Position. Sie hatten ihre Hellebarden gegen Gewehre und Pistolen eingetauscht.

Als Michael sich zum Tatort umdrehte, staunte er, wie schnell und effizient der Sicherheitsdienst auf die Bedrohung reagiert hatte. Michael sah, dass Higgins zu sich kam. Vernea riss ihn wütend vom Boden hoch. Michael grinste. Zu gerne hätte er bei Higgins' bevorstehendem Verhör Mäuschen gespielt. Es wäre sicherlich amüsant zu hören, wie dieser arrogante Mistkerl zu erklären versuchte, woher die Gegenstände in seiner Tasche kamen. Herausreden konnte er sich bestimmt nicht, denn sein Hass auf die katholische Kirche war allein schon wegen seiner Bücher bekannt. Man würde Higgins die Schuld an diesem Vorfall geben, da war Michael sicher.

»Un momento! Warten Sie!« Die Stimme war laut und hallte von den Museumswänden wider.

Michael sah, dass Enjordin auf ihn zukam. Er erteilte Reiner knappe Anweisungen auf Italienisch; dann musterten die beide Männer Michael mit misstrauischen Blicken.

Michael schwante Böses. Offenbar war doch nicht alles glattgelaufen.

Drei schwarze Suburbans näherten sich mit heulenden Sirenen dem Hotel und blieben mit kreischenden Reifen vor dem Eingang stehen. Als der Portier auf die Straße rannte, wurde er beinahe von einem Trupp Polizisten niedergetrampelt. Sie stürmten die Treppe hinauf, während mehrere Kollegen zurückblieben und die Ausgänge sicherten. Der Portier lief hinter ihnen her, wobei er einen Generalschlüssel schwenkte, und rief den Männern zu, sie sollten stehen bleiben. Doch niemand achtete auf ihn.

Mit gezogenen Waffen stürmten die Polizisten in den zweiten Stock und brachen die Tür von Zimmer 306 auf. Der atemlose Portier, noch immer den Generalschlüssel in der Hand, stolperte Augenblicke später ebenfalls ins Zimmer.

Die Polizisten brauchten ihre Waffen nicht. In Zimmer 306 hielt sich niemand auf. Sie brauchten das Zimmer nicht einmal zu durchsuchen, denn es lag alles auf dem Tisch: Pläne und Skizzen des Vatikans, Bilder des Museums und eine Anleitung zur Herstellung von Rauchbomben.

Reiner nahm Michaels Fingerabdrücke und reichte ihm ein Tuch, damit er sich die Tinte von den Händen wischen konnte, während ein Polizist ihn von allen Seiten fotografierte. Er stand in Unterwäsche in einem kleinen Vorraum, in dem nur ein Tisch und zwei Lampen standen. Die Tür war von außen verschlossen. Der Inhalt von Michaels Tasche – seine Notizblöcke, die Sonnenbrille, die Bücher über den Vatikan – waren auf dem Tisch verteilt. Daneben lagen seine Kleidung und der Inhalt seiner Taschen: Brieftasche, Geld, Reisepass, Schlüsselbund, PalmPilot und das Satellitentelefon.

»Sie wohnen im Hotel Bella Coccinni?«, fragte Reiner auf Englisch, während er sich auf das Formular konzentrierte.

»Ja.« Michael knüllte das Papiertuch zusammen und warf es in den Papierkorb.

Ein Ermittler in der Uniform der Vatikanischen Polizei beugte sich über Michaels Sachen und kontrollierte sie mit einem elektronischen Scanner. Als das Gerät über dem Schlüssel, dem PalmPilot und dem Telefon kreiste, schlug es an. Der Polizist nahm jedes Teil in die Hand und betrachtete es aufmerksam. Dann leerte er Michaels Brieftasche und schaute sich alles an, von den Kreditkarten bis zu kleinen Notizzetteln, die er aufmerksam las. Er schaltete den PalmPilot ein, scrollte durch die Programme, überprüfte, ob das Gerät funktionierte, und legte es wieder hin. Als er das Telefon vom Tisch nahm, staunte er über dessen Größe und Gewicht. Er drehte das Gerät um und nahm den großen, schwarzen Akku heraus.

»Ein Satellitentelefon, nicht wahr?«, fragte er mit starkem Akzent.

Michael lächelte. »Der Empfang ist großartig.«

Der Ermittler betrachtete das Telefon von allen Seiten, als würde er ein Schmuckstück bewundern. Michael spürte, dass der Mann misstrauisch war. Schließlich legte er den Akku wieder ins Gerät und schaltete es ein. »Darf ich?«, fragte er Michael.

»Nur zu.«

Der Ermittler wählte eine Nummer, worauf das Handy in seiner Tasche klingelte. Zufrieden legte er das Telefon zurück auf den Tisch. Dann wandte er sich Michael zu und tastete ihn am ganzen Körper mit dem Scanner ab. Das Gerät gab kein Signal von sich, worauf der Polizist es zur Seite legte. Dann blickte er Reiner an und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, dass alles in Ordnung war.

Reiner reichte Michael seine Kleidung und schob ihm seine Sachen hin. Michael zog sich schweigend an.

»Ich hoffe, Sie verstehen das, Professor McMahon«, begann Reiner. »Bei einem solchen Vorfall müssen wir jedes noch so winzige Detail beachten.« Reiner legte seinen Stift auf den Tisch, drehte das Formular um und zeigte Michael, wo er unterschreiben musste. »Es gibt keinen gründlicheren Ermittler als Oberst Enjordin. Es könnte sein, dass er noch einmal mit Ihnen sprechen muss, falls sich noch Fragen ergeben.«

»Natürlich.« Michael zog seine Schuhe an und unterschrieb das Entlassungsformular.

Plötzlich ging die Tür auf, und Enjordin trat ein. Ohne auf Michael zu achten, wandte er sich Reiner und der Vatikanischen Polizei zu. »Wir waren in seinem Hotel.«

Michaels Miene war undurchdringlich, doch das Herz klopfte ihm bis zum Hals.

»In seinem Zimmer haben wir alles gefunden – Pläne, Karten, Fotos. Dieser Professor war nicht besonders clever.«

Enjordin musterte Michael von oben bis unten. Dann ließ er sich Michaels Reisepass geben und studierte ihn eingehend. Er richtete den Blick wieder auf Michael, wechselte ins Italienische und sagte etwas zu Reiner, worauf dieser nickte.

Einen Moment herrschte Stille. Dann reichte Enjordin Michael den Reisepass, klopfte dreimal gegen die Tür, worauf sie geöffnet wurde, und sagte Michael, dass er gehen könne.

Unendlich erleichtert trat Michael ins Freie. Er beobachtete, wie ein Rettungswagen auf den Petersplatz fuhr und neben mehreren Feuerwehrfahrzeugen hielt. Die Leute, die aus den umliegenden Gebäuden strömten, wurden von zahlreichen Schweizergardisten überprüft und befragt. Die Menschenmenge hatte sich noch nicht aufgelöst. Eine Zeitlang würde hier noch ein ziemliches Durcheinander herrschen.

Michael machte sich auf den Weg zu seinem Hotel. Als er den Petersplatz überquerte, an dem berühmten Obelisken vorbeiging und Berninis Kolonnaden passierte, blickte er noch einmal zurück auf den Petersdom. Er hatte nichts von seiner Pracht eingebüßt, doch Michael spürte nicht mehr die Ehrfurcht wie bei seinem ersten Blick auf die weltberühmte Kirche.

Er griff in die Tasche und zog das Telefon heraus. Er musste Marys Stimme hören, musste ihr sagen, dass er sie liebte und bald nach Hause kam. Die Gewissheit, dass Marys Überlebenschancen gestiegen waren, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.

Er hatte die Schlüssel.

Der dunkle Pfad Gottes
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