5.
Durch die Drehtür betrat Michael den beeindruckenden Rundbau der First Bank of Byram Hills. Er fühlte sich klein und unbedeutend, als er den Blick über die Marmorsäulen und durch die riesigen Geschäftsräume und über die elegant ausgestatteten Wartebereiche schweifen ließ. Banker und Geschäftsleute strömten an ihm vorbei, als er in seinem einzigen Anzug dastand und das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er kam fünf Minuten zu spät zu seinem Termin und musste noch einmal doppelt so lange warten, ehe der Bankangestellte ihn zu sich rief und ihm einen Platz anbot.
Kerry Seitz, der Abteilungsleiter, gewandet in einen tadellos sitzenden Anzug mit Weste, überprüfte Michaels Akte. Seine Miene war undurchdringlich. Zehn Minuten lang sprach er kein Wort, nahm Michaels Leben unter die Lupe und sah sich die Unterlagen der Banken und Behörden an. Michael kam sich vor wie ein unwillkommener Bewerber um einen Job, der auf einem viel zu großen Stuhl dem Big Boss gegenübersaß.
Schließlich hob Seitz den Blick. Er strich mit der Hand durch sein perfekt gestyltes Haar und sagte im kältesten und überheblichsten Tonfall, den Michael je gehört hatte: »Tut mir leid, da ist nichts zu machen.«
»Wie bitte?«
»Wir können Ihnen nicht helfen.« Seitz warf den Kreditantrag achtlos in seine Ablage.
»Sie haben mir keine einzige Frage gestellt!«, rief Michael mit aufwallendem Zorn.
»Ich habe Ihren Kreditantrag gelesen. Wir brauchen eine Sicherheit«, sagte Seitz abwesend, denn er hatte Michaels Antrag bereits ad acta gelegt und beschäftigte sich mit einem anderen Dokument.
»Mein Geschäft ist meine Sicherheit«, widersprach Michael und starrte auf den Mann, für den menschliche Schicksale keine Rolle zu spielen schienen.
»Ihr Lebenslauf«, sagte Seitz frostig, »macht das unmöglich, Mr. St. Pierre.«
»Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe ...«
»Das hoffe ich doch sehr.«
»... aber als ich hier mein Geschäftskonto eröffnet habe, war das kein Problem für Sie!«
»Ihr Geld zu verwalten und Ihnen Geld zu leihen sind zwei verschiedene Paar Schuhe«, sagte Seitz, ganz Banker.
Michael sprang auf. Er musste sich zusammenreißen, um dem arroganten Pinsel nicht an die Gurgel zu gehen. »Wie Sie wollen. Dann gehe ich zu einer anderen Bank!«
»Die Zeit können Sie sich sparen«, sagte Seitz und stand auf. Das Sicherheitspersonal der Bank war bereits aufmerksam geworden und kam näher. »Niemand wird Ihnen einen Cent leihen. Ihre Bonität lässt das nicht zu. Sie sind ein verurteilter Verbrecher. Und Ihr Laden ist nichts wert. Sie stellen ein Risiko dar, das niemand eingehen wird.«
»Meine Frau wird sterben!«, rief Michael verzweifelt.
»Tut mir leid, aber das ist nicht unser Problem.«
Die Sicherheitsbeamten rückten näher.
Michael stürmte aus der Bank, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Es war ein scheußlicher, klinisch weißer Raum. In einer Zeit, in der man oft darüber sprach, wie man mit Kranken umgehen müsse, hielten viele Krankenhäuser noch immer an diesem antiseptischen, kalten Weiß fest. Die Atmosphäre war kalt und unpersönlich, genau wie das Verhalten der Ärzte und Pfleger.
Mary und Michael aßen eines der typischen Krankenhausgerichte: Schmorbraten in einer dünnen, braunen Sauce, wässrige Bohnen, die sich mit dem Kartoffelpüree vermischten, und eine Birnenscheibe von undefinierbarer Farbe. Marys Kopfteil war hochgestellt; sie lehnte mit dem Rücken an den Kissen. Infusionen und Schläuche steckten an den unangenehmsten Stellen in ihrem Körper.
Michael hatte sich einen Stuhl herangezogen und benutzte Marys Bett als Ablage. »Kann ich dir irgendetwas besorgen ?«, fragte er.
»Nein, danke. Wie gehen die Geschäfte?«
»Gut«, log Michael. Er war schon seit drei Tagen nicht mehr in seinem Laden gewesen.
Er beugte sich vor, nahm eine Gabel voll Kartoffelpüree und schob sie sich in den Mund. Dabei betrachtete er Mary, die eines der kurzen weißen Krankenhaushemden mit dem peinlichen Schlitz im Rücken trug.
»Wie sollen wir das alles nur bezahlen ?«, fragte Mary leise.
»Mach dir keine Sorgen.«
»Unsere Ersparnisse sind fast aufgebraucht.« Mary bemühte sich, ihre Furcht zu verbergen, während sie nervös das goldene Kreuz befingerte, das sie an einem Kettchen um den Hals trug, das Geschenk eines Onkels zur Erstkommunion.
»Du musst dich nur darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden, Mary. Um das Geld kümmere ich mich.« Michaels Magen verkrampfte sich. Er hatte Mary nie belogen. Vielleicht hier und da eine kleine Schwindelei, aber keine Lügen. Jetzt hatte er sie innerhalb von zwei Minuten dreimal belogen.
Michael wollte die Nacht auf dem unbequemen Stuhl neben dem Krankenbett verbringen, doch Varissa Schrier, die Oberschwester, die ihre Mitarbeiter mit harter Hand führte, hatte sich alle Mühe gegeben, ihm diesen Plan auszureden. Die korpulente Schwester wusste genau, dass die engsten Angehörigen genauso viel Unterstützung brauchten wie der Patient. Sie hatte lange mit Mary über Michael gesprochen. Die beiden Frauen waren sich einig: In dieser Situation brauchte Michael einen Freund, einen Vertrauten, jemanden, mit dem er seine Gedanken austauschen und seinen Kummer teilen konnte.
Mit Marys Erlaubnis hatte die Schwester vor einer Stunde ein Telefonat geführt. Nun wurde die Tür leise geöffnet.
Paul Busch stand im Türrahmen.
Paul spielte alleine Poolbillard an seinem Lieblingstisch. Der grüne Filz roch nach Whiskey und war so sehr durchgescheuert, dass man den Schiefer darunter sehen konnte. Paul versenkte fast alle Kugeln. Das Old Stand, eine der schmutzigsten Kneipen in ganz Nordamerika, hatte es schon in den Fünfzigern gegeben. Pauls Vater hatte ebenfalls hier verkehrt und an demselben Tisch Poolbillard gespielt.
An diesem Mittwochabend um halb zwölf herrschte im Old Stand noch reges Treiben. Ein paar Arbeiter, die hier Stammgäste waren, diskutierten über das Für und Wider der Gewerkschaften und darüber, was diese bisher für sie getan hatten.
»Noch einen Drink?«, fragte Paul.
Michael, der lustlos Pfeile auf die Dartscheibe warf, antwortete nicht. Er hatte heute Abend überhaupt noch nicht viel gesprochen. Paul bestellte beim Barkeeper eine weitere Runde. Auf der Fahrt hierher und in der letzten halben Stunde hatte er versucht, zu Michael durchzudringen und ihn zum Sprechen zu bringen. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie Druck sich auf Menschen auswirkte, die Kummer hatten. Entweder explodierten sie und verletzten andere, oder sie kapselten sich ab und gingen zugrunde. Er wusste aber auch, dass er nicht viel für Michael tun konnte, wenn der keine Hilfe zuließ.
»Manchmal ist das Leben echt beschissen«, sagte Michael.
Paul beugte sich über den Tisch und versenkte die letzte Kugel. »Mary wird das durchstehen. Sie ist zäh.« Er lief über den klebrigen Fußboden der Kneipe, der ihn an heißen Teer im Hochsommer erinnerte, nahm das Dreieck und legte die Billardkugeln hinein.
Michael warf einen Pfeil. »Zweihundertfünfzigtausend Dollar. Das ist mehr Geld, als ich jemals besessen habe. Mein Gott, ich hab's noch nicht einmal geschafft, so viel Geld zu klauen.«
Paul ignorierte die Bemerkung. »Wie kommt es eigentlich, dass ihr nicht krankenversichert seid ?«, fragte er stattdessen.
»Als Mary ihre letzte Stelle aufgegeben hat, ist der Versicherungsschutz erloschen, und wir hätten drei Monate warten müssen, bis die neue Versicherung gültig wird. Aber wer konnte denn ahnen, dass es so kommt?«
Paul nickte bloß. Hinterher war man immer schlauer.
Die Kellnerin brachte Paul eine Cola und Michael einen Whisky.
»Hör mal, Mike, ich habe fünfunddreißigtausend Dollar ...«, bot Paul ihm an.
»Ich kann dein Geld nicht annehmen.«
»Es ist ja nicht für dich, sondern für Mary.« Paul unterbrach sein Spiel und lehnte sich an den Billardtisch. »Aber fünfunddreißigtausend reichen vorne und hinten nicht. Sag mal, mit deinem Laden als Sicherheit müsstest du doch einen Kredit aufnehmen können, oder?«
Michael schüttelte den Kopf. »Die Bank war nicht sehr hilfreich.«
»Gibt es keine Angehörigen?«
»Marys Mutter war bis zu ihrem Tod ständig pleite. Und meine Eltern haben mir nichts hinterlassen.«
»Hast du je daran gedacht, deine richtigen Eltern ausfindig zu machen?«
Michaels französischer Nachname war nicht sein Geburtsname, sondern der seiner Adoptiveltern. Von seinen richtigen Eltern wusste er nicht viel. Er wusste nur, dass drei ihrer Vorfahren Iren waren und dass sie ihn aus einem unbekannten Grund in ein Waisenhaus abgeschoben hatten, als er einen Monat alt gewesen war. Michael hatte sich nie dazu durchringen können, seine richtigen Eltern zu suchen.
»Nun, jetzt ist es ein bisschen zu spät dafür«, meinte Michael. »Ich wüsste nicht mal, wo ich mit der Suche anfangen sollte.«
Paul versenkte zwei Kugeln und suchte die richtige Position, um die Kugel mit der Sieben in die Ecktasche zu schießen. Plötzlich zog er den Queue zurück und drehte sich zu Michael um. »Sag mal, du hast doch nicht etwa vor, in deinen alten Job zurückzukehren?«
»Wenn ich das Geld nicht auftreiben kann, bleibt mir vielleicht keine andere Wahl.«
»Red keinen Blödsinn. Es gibt immer einen Ausweg.«
»Das ist nicht gerecht, verdammt noch mal!«, stieß Michael in hilfloser Wut hervor. »Weißt du, dass Mary jeden Sonntag in die Kirche geht? Ich kann nicht glauben, dass es einen Gott gibt, der zulässt, dass ausgerechnet ihr jetzt so etwas zustößt.«
»Du suchst nur jemanden, dem du die Schuld geben kannst.«
»Ich meine es ernst, Paul. Ich sehe keine Beweise für Gottes Existenz. Erklär mir den Grund für Marys Krankheit. Und komm mir nicht mit diesem Blödsinn von wegen Glaubensprüfung. Mein Glaube wurde oft genug geprüft, und es ist nie etwas dabei herausgekommen.«
Paul setzte sich auf den Billardtisch. »Wir alle brauchen etwas, woran wir glauben können. Das gibt uns die Hoffnung, dass es etwas Besseres gibt, wonach es sich zu streben lohnt. Es ist die Hoffnung, die uns antreibt. Sie bringt dich dazu, morgens aus dem Bett zu steigen, weil du hoffst, ein gutes Geschäft zu machen, oder weil du hoffst, abends mit deiner Frau zu schlafen.«
»Mit Hoffnung allein kommt man nicht weiter. Damit kann man seine Rechnungen nicht bezahlen und keine Menschenleben retten.«
»Du brauchst Hoffnung und ein einfaches Lebensmotto. Ein Credo, das dich führt und dich zwingt, weiterzumachen. Bei mir ist es das Gesetz.« Paul trank den Rest seiner Cola.
Michael lächelte und hob sein Glas. »Wahrheit, Gerechtigkeit und der American way of life. Weiter so, Superman.«
»Danke, Lois.« Paul lächelte verkniffen. »Und was treibt dich an?«
Michael überlegte kurz. »Mary«, sagte er dann.
Vor Tagesanbruch war das Byram Hills Memorial Hospital eine andere Welt. Es gab keine Außenseiter, um die man sich kümmern musste, kein geheucheltes Lächeln und kein vorgetäuschtes Mitgefühl. Die Besuchszeit begann erst um neun. Im Krankenhaus rüsteten sich alle für den neuen Tag. Arzte und Schwestern füllten Formulare aus und bereiteten alles für die Operationen vor.
Heute Morgen sollten bei Mary weitere Untersuchungen vorgenommen werden, und Michael wollte sie noch einmal sehen, ehe sie abgeholt wurde. Allein die Rechnungen für die Untersuchungen hatten ihre bescheidenen Ersparnisse verschlungen. Wenn er das Geld für Marys Operation und die Behandlung nicht schnellstens auftrieb, würde das Krankenhaus sie entlassen, um Platz für eine andere Patientin zu schaffen. Dann hätte Mary keine Chance mehr.
Michael schlich leise durch die Tür in Marys Zimmer und bemühte sich, keine Geräusche zu machen. Mary saß an dem kleinen Tisch neben dem Bett und sah schrecklich müde aus. Sie war seit jeher Frühaufsteherin und war gerne auf den Beinen gewesen, ehe die Sonne aufging, wenn die Welt noch frisch und unverbraucht war. Ihr kastanienbraunes Haar war tadellos frisiert.
Michael beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich auf die Wange. »Guten Morgen.«
»Hi«, sagte sie und erwiderte seinen Kuss.
»Was gab's zum Frühstück?«
»Ich glaube, aufgewärmten Hackbraten in Herzchenform.«
Michael musste lachen.
»Gut geschlafen?«, fragte Mary.
»Das Bett ist zu groß ohne dich.« Michael packte die Tasche aus: Makeup, frische Kleidung und weiche Badehandtücher, damit Mary nicht die harten Krankenhaushandtücher benutzen musste. Dann zog er ihr Lieblingsbuch aus der Tasche: Wie schön! So viel wirst du sehen von Dr. Seuss.
»Danke, Mike. Ich habe meinen Schülern daraus vorgelesen, bevor ich hierhergekommen bin.«
»Ich weiß.« Michael nahm einen Kassettenrekorder aus der Tasche und stellte ihn auf den Tisch. »Sie würden sich freuen, wenn du ihnen das Buch zu Ende vorliest. Sprich es auf Band. Liz holt es ab und spielt es den Kindern vor.«
»Das war bestimmt deine Idee, nicht wahr?«, sagte Mary mit Tränen in den Augen.
Michael erwiderte nichts; er lächelte nur, als er die offenbar bodenlose Tasche auspackte. Zuletzt brachte er mehrere Pakete Kekse und ein paar Flaschen Limo zum Vorschein.
»Willst du mich mästen? Ich kann unmöglich das ganze Zeug essen!«
»Ehrlich gesagt ist es für mich.« Michael schaute sie verlegen an, während er eine Akte mit der Aufschrift »Schulunterlagen« aus der Tasche zog und sie ihr reichte.
Mary nahm die Akte. Sie starrte darauf und wünschte sich mit einem Mal, bei ihren Schülern im Klassenzimmer zu sein. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie auf die zahlreichen Bilder schaute, die ihre Schüler ihr geschickt hatten. Plötzlich hatte sie schreckliche Angst, die Kinder nie mehr wiederzusehen. Sie blickte Michael an. »Hör zu, Mike«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich Vorkehrungen treffen und alles regeln ...«
Michael zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Davon will ich nichts hören. Wir stehen das hier durch.«
Mary nahm seine Hand. »Tut mir leid. Es ist nur so viel Geld ...«
»Die St. Pierres geben niemals auf.« Es kostete Michael Kraft, nicht die Fassung zu verlieren. »Wir lassen uns nicht unterkriegen.«
Es klopfte leise an die Tür, und Pater Shaunessy steckte den Kopf ins Zimmer. »Hallo, Mary. Guten Morgen, Mike. Komme ich ungelegen ?«
Michael blickte den Priester an. Shaunessy hatte sich definitiv den falschen Augenblick ausgesucht.
»Könnten Sie in einer halben Stunde wiederkommen, Pater?«, fragte Mary.
»Sicher.« Der Priester nickte und schloss die Tür hinter sich.
»Was will der denn hier?« Michael konnte seine Wut nicht verbergen.
»Ich dachte ...«, begann Mary.
Weiter kam sie nicht, denn Michael sprang auf. »Jetzt sag bloß nicht, du willst dir die letzte Ölung geben lassen.«
»Rede keinen Unsinn, Michael. Ich habe ihn gebeten, mich zu besuchen, damit wir uns unterhalten und gemeinsam beten können«, sagte Mary mit angespannter Stimme.
Michael ging unruhig im Zimmer auf und ab. »Beten ? Wozu ? Glaubst du, Gott würde das hier zulassen, wenn er barmherzig wäre?«
»Michael, es gibt nur zwei Dinge, auf die ich mich stets verlassen habe, um schwere Zeiten durchzustehen – auf dich und meinen Glauben. Und im Augenblick brauche ich beides.«
Als Michael kurz darauf Marys Krankenzimmer verließ, saß Pater Shaunessy draußen mit ein paar älteren Frauen auf einer Bank und unterhielt sich mit ihnen. Michael ging den Flur hinunter, ohne dem Priester einen Blick zu gönnen.
»Mike?«, rief Shaunessy ihm hinterher.
Michael blieb stehen und drehte sich um.
»Wie geht es Ihnen ?«, fragte Shaunessy.
»Großartig. Meine Frau liegt im Sterben.«
»Seien Sie nicht so zynisch. Sie müssen mehr Vertrauen haben. Es steht doch überhaupt noch nicht fest, was mit Mary wird. Kommen Sie mit herein, und beten Sie mit uns.« Der Priester zeigte mit der Hand auf Marys Zimmer.
Grob fuhr Michael ihn an: »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Seit ich ein Kind war, habe ich gebetet, aber meine Gebete wurden nie erhört! Ich habe mehr Sonntage damit verbracht, als ich zählen kann, um nach Antworten zu suchen, aber ich wurde immer wieder enttäuscht. Mary hat ihr Leben lang auf Gott vertraut, und sehen Sie sich an, wo sie jetzt ist.«
»Als Sie im Gefängnis saßen, hat Mary auf Sie gewartet«, erwiderte der Pater. »Sie haben ihr das Leben schwer gemacht. Trotzdem hat sie immer zu Ihnen gehalten. Ich weiß wirklich nicht, was sie an Ihnen findet!« Shaunessy hielt kurz inne, um Atem zu holen, ehe er fortfuhr: »Sie sollten nicht so egoistisch sein und Mary endlich zur Seite stehen. Sie müssen ihr helfen, anstatt in Selbstmitleid zu versinken.«
»Selbstmitleid?« Michael lachte bitter auf. »Der Einzige, der mir leidtut, sind Sie und Ihr irregeleiteter Glaube!« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon.
Michael konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, und seine Hoffnung schwand. Was sollte er tun ? Er war immer ein Mann der Tat gewesen, und das nicht nur, wenn handwerkliches Geschick gefragt war. Außerdem besaß er die Fähigkeit, Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, um auf diese Weise die beste Lösung zu finden. Das war ihm in seinem früheren Job äußerst hilfreich gewesen.
Doch es war nicht so, als hätte er diesen Job angestrebt. Auch nicht Verzweiflung oder Not hatte ihn dazu getrieben, ein Dieb zu werden. Es hatte auch nichts mit einem Mangel an anderen Fähigkeiten zu tun. Vielmehr hatte Michael sein Talent als Meisterdieb entdeckt, als er einem Freund aus der Patsche geholfen hatte.
Michael war siebzehn gewesen, als sein bester Freund Joe McQuarry in arge Schwierigkeiten gekommen war. Joe war ein sportliches Naturtalent. Als erstklassiger Baseballspieler hatte er ein Stipendium erhalten und war vorzeitig zum College zugelassen worden. Joe hatte seine Begabungen frühzeitig erkannt und wusste, wie er sie nutzen konnte. Durch den Sport gewann er an Beliebtheit, besonders bei den Mädchen, während seine andere große Begabung, sein Humor, ihm manchmal Ärger einbrachte. Joe war in Ordnung, nur schoss er manchmal übers Ziel hinaus, denn sein Sinn für Humor äußerte sich manchmal in derben Streichen auf Kosten von Lehrern und Mitschülern. Aus diesem Grund fand Joe sich an der Holy Father High-School öfter im Büro des Schuldirektors wieder, als ihm lieb sein konnte.
An einem Freitag war Joe wieder einmal ins Büro zitiert worden, wo Pater Daniels, der Direktor, ihm einen Vortrag über den sittlichen Verfall der Jugend aufgrund des Mangels an Respekt hielt. Pater Daniels hatte Joe mehr als einmal deutlich gemacht, dass er dank des Sportstipendiums beste Zukunftsaussichten habe, dass sich das Blatt aber sehr schnell wenden könne. Joe war bereits zwei Mal vom Unterricht ausgeschlossen worden; nun sagte Daniels ihm klipp und klar, er habe keine andere Wahl, als Joe der Schule zu verweisen, falls es zu einem weiteren Verstoß kommen sollte. Beim nächsten Vorfall, erklärte Daniels, könne Joe seine Sachen packen. Daniels verdonnerte Joe zu einer Woche Nachsitzen. Dann verließ er sein Büro, nachdem er Joe befohlen hatte, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis er zurück sei.
Joe kochte vor Wut. Er fragte sich, für wen Pater Daniels sich hielt. In drei Wochen würde er, Joe, ans College wechseln und höhere Ziele anstreben, während Daniels vermutlich noch jahrelang hinter seinem dämlichen Schreibtisch sitzen würde. Joe starrte auf eine Auszeichnung, die auf Daniels' Schreibtisch stand. Der vor fünfzehn Jahren verliehene Preis ehrte den Priester für seinen »positiven Einfluss auf junge Schüler«.
Und dann wartete Joe. Und wartete. Er starrte fast eine Stunde lang auf Daniels' Auszeichnung, während er auf ihn wartete. Schließlich kam Daniels' Sekretärin ins Büro und erklärte, der Direktor habe in einer dringenden Angelegenheit fortgemusst und käme erst am Montag zurück. Joe könne nach Hause gehen.
Joe fluchte lautlos, als die Sekretärin ohne ein weiteres Wort das Büro verließ. Und dann stellte er in seiner Wut eine Dummheit an, die Konsequenzen nach sich ziehen sollte, die er zu diesem Zeitpunkt nicht voraussehen konnte: Joe nahm die aus Messing und Plexiglas gefertigte Auszeichnung mit, die auf Daniels' Schreibtisch stand.
Am Abend trafen sich Joe, Michael und ihre Freunde an einem See und tranken Bier aus der Dose. Joe zeigte allen Daniels' Auszeichnung, die er hatte mitgehen lassen. Die Jungen freuten sich diebisch über diesen Streich, während auf ihren geröteten Gesichtern der Widerschein des Feuers tanzte, das sie entfacht hatten, als es kühl geworden war. Sie versammelten sich um Joe, und Michael machte mit seiner Polaroid ein Foto vom Dieb und seiner Beute. Dann rissen die Freunde die nächsten Bierdosen auf und brachten einen Trinkspruch aus, als Joe die Auszeichnung des Direktors feierlich ins Feuer warf.
Doch als es Mitternacht wurde, fiel Joes Wagemut plötzlich von ihm ab. Erst jetzt wurde ihm klar, dass es nur einen Verdächtigen geben würde, wenn Pater Daniels am Montagmorgen feststellte, dass seine Auszeichnung verschwunden war.
Schlagartig wurde Joe die Ausweglosigkeit seiner Situation bewusst. Er würde von der Schule fliegen.
Michael bemerkte Joes Panik und konnte sich den Grund dafür denken. Zwar trug Joe noch immer Gelassenheit zur Schau, doch Michael konnte er nicht täuschen: Er wusste, dass sein Freund sich diesmal nicht würde herausreden können. Weder der Direktor noch Joes Eltern würden ihm verzeihen. Und wenn er der Schule verwiesen wurde, konnte er seine Zukunftspläne vergessen.
Doch es gab noch ein Chance ...
Als Michael nach Hause kam, verschwand er in der Garage, die sein Vater zur Werkstatt umgebaut hatte, denn Heimwerken war sein Hobby, und er hatte auch Michael schon auf den Geschmack gebracht. Nun ließ Michael den Blick über die Werkzeuge und das Material schweifen. Dann nickte er zufrieden, zog das Polaroidfoto aus der Tasche, stellte es auf die Werkbank und machte sich an die Arbeit.
Während der nächsten sechsunddreißig Stunden schuftete er ohne Pause. Es kostete ihn sechzehn Versuche, um den aus Plexiglas bestehenden Teil der Auszeichnung nachzubilden. Weitere acht Versuche benötigte er, um den Holzsockel mit der Gravur anzufertigen. Am späten Sonntagabend schließlich, zehn Minuten vor Mitternacht, eilte er durch den Wald zur High-School, kletterte auf einen Baum, stieg von dort auf das Dach des Schulgebäudes und lief zu der Lichtkuppel, die seit dreißig Jahren nicht verschlossen war. Michaels Herz klopfte laut. Adrenalin strömte durch seine Adern. Sein Selbstvertrauen war so groß wie nie zuvor. Er war sich bewusst, dass es falsch war, was er tat; dennoch war es ein großartiges Gefühl der Macht und des eigenen besonderen Könnens.
Am Montagmorgen wurde Joe erneut ins Büro des Direktors gerufen. Er wusste, dass er vor den Scherben seines Lebens stand.
Pater Daniels saß hinter seinem Schreibtisch und blickte Joe längere Zeit schweigend an. Joe wartete auf den Verweis von der Schule. Dann aber geschah etwas, womit er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte: Der Direktor entschuldigte sich bei ihm.
Das hatte Joe bei Pater Daniels noch nie erlebt. Daniels bat ihn tatsächlich um Verzeihung, dass er am Freitag gegangen war, ohne sich weiter um Joe gekümmert zu haben. Er erklärte Joe, die Angelegenheit sei erledigt, und wünschte ihm viel Glück auf dem College.
Ehe Joe das Büro verließ, blickte er fassungslos auf die Auszeichnung auf Pater Daniels' Schreibtisch.
Er hatte das Ding doch ins Feuer geworfen!