40.
Es war jetzt zwei Tage her, und sie hatte nichts von Michael gehört. Trotz Jeannies Beteuerungen hatte Mary Angst. Tief im Inneren wusste sie, dass Michael in Schwierigkeiten steckte. Wenn er sie anrufen könnte, würde er es tun, aber das Telefon blieb stumm.
Und ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Der Krebs breitete sich immer schneller aus. Die Schmerzen kamen in Schüben, und die Morphiumdosen wurden immer höher.
Entgegen der Wünsche und Anordnungen der Ärzte hatte Mary heute Morgen das Krankenhaus verlassen. Sie wollte zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung sein. Und sie wollte zu Hause sein, wenn Michael zurückkehrte. Mary hatte Hawk und CJ bei Mrs. McGinty abgeholt. Die alte Dame brachte ihr einen Topf heiße Suppe und einen grünen Salat. Marys Krankheit erwähnte sie mit keiner Silbe. Diese Frau hatte die Schmerzen und den Kummer des Sterbens schon erlebt und beschritt diesen Weg deshalb mit der erforderlichen Sensibilität.
Als Mary das Arbeitszimmer betrat, sah sie die Papiere auf Michaels Schreibtisch: Zeitungsausschnitte über einen deutschen Industriellen, Fotos und Zeitschriften. Auf Michaels Schreibtisch herrschte das reine Chaos, was gar nicht zu ihm passte. Offenbar war er überstürzt abgereist. Mary hatte vermutet, dass er sein Wort nicht gehalten hatte. Als sie vor Jahren erfahren hatte, dass Michael ein zweites Leben hinter ihrem Rücken führte, war sie wütend gewesen und hatte sich betrogen gefühlt. Und als sie es schließlich schaffte, ihm zu vergeben, dauerte es lange, bis sie ihm wieder vertrauen konnte.
Als Mary jetzt die Unterlagen sah, verstärkte sich ihr Verdacht, Michael könnte sein Versprechen gebrochen haben. Zugleich aber wusste sie, dass er sie liebte und ihr Vertrauen niemals missbrauchen würde. Sie war überzeugt, dass er ehrenwerte Motive hatte, was immer er auch tat.
»Hallo?«, rief Jeannie aus dem Flur.
»Ich komme.« Mary schob Michaels Unterlagen rasch zusammen und warf sie in die unterste Schublade. Als sie sich umdrehte, um das Zimmer zu verlassen, sah sie etwas auf dem Schreibtischstuhl liegen. Sie nahm es in die Hand und schaute es sich an. Ihr Herzschlag setzte aus, als sie den Aufdruck auf der elektronischen Fußfessel sah: Byram Hill Police Department.
Michael war in größeren Schwierigkeiten, als sie geahnt hatte.
»Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht«, rief Jeannie aus dem Flur.
Mary wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte Jeannie nicht sagen, dass Michael in Schwierigkeiten steckte – jedenfalls nicht jetzt. Vielleicht wusste sie es auch, und das war der Grund, warum Paul Michael nachgereist war.
Sie verdrängte den Gedanken und stopfte die Fußfessel in ihre Tasche.
Mary hielt sich am liebsten in der Küche auf, die zwar nicht groß war, aber groß genug für sie. Sie liebte die Eichenschränke und die glänzenden Aluminiumgeräte. Und sie kochte gerne; für sie war das Kochen eine Art Kunst, so wie die Malerei und Bildhauerei. Auch für das Kochen brauchte man Talent und Geduld, und es war die Übung, die den Meister machte.
»Meine Güte«, rief Jeannie. »Wo kommt denn das viele Essen her?«
Mary hatte den ganzen Nachmittag gekocht. Seit einem Monat hatte sie sich nicht mehr so entspannt wie heute beim Kochen. Und jetzt platzte der Kühlschrank fast aus allen Nähten.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich wie eine Verrückte gekocht habe«, erwiderte sie auf Jeannies Frage.
»Und wer soll das alles essen?«
Mary wollte gerade »Michael« sagen, doch das Wort erstarb ihr auf den Lippen.
Jeannie bedauerte ihre Frage sofort. Sie umfasste Marys Arm. »Paul hat angerufen.«
»Hat er Michael gefunden?«
»Ja. Ich habe heute Nachmittag mit Paul gesprochen. Sie sind in einem Hotel in Berlin.«
»In Berlin? Was hat er gesagt?«
»Nicht viel. Paul war in Eile. Er hat gesagt, es sei alles in Ordnung und sie kämen in ein paar Tagen zurück.«
»Hast du die Nummer?«
»Die wollte er mir nicht sagen«, erwiderte Jeannie mit einem verstohlenen Lächeln.
»Und ?« Mary kannte Jeannie gut und ahnte, dass sie noch einen Trumpf im Ärmel hatte.
»Man könnte sagen, er ist nicht der einzige Detective bei uns zu Hause.«
»Du bist ganz schön raffiniert.« Mary grinste. »Können wir sie anrufen?«
»Das ist keine gute Idee. Da ist es jetzt mitten in der Nacht.«
Mary blickte ein wenig enttäuscht, aber auch erleichtert drein. »Dann rufen wir sie später an«, sagte sie. »Jedenfalls wissen wir, dass alles gut ist.«
Jeannie war sich da nicht so sicher. Paul hatte beteuert, dass alles in Ordnung sei. Allerdings hatte er auch gesagt, dass er und Michael noch schnell etwas zu erledigen hätten, und das gefiel ihr gar nicht. Ihr Mann hatte in Europa nichts zu tun, außer Michael zurückzuholen. Es gab nichts, was er dort erledigen musste, es sei denn ...
Mary deckte den Tisch im Esszimmer und servierte einen Krustenbraten mit neuen Kartoffeln und dem Salat, den Mrs. McGinty ihr gebracht hatte. Beim Essen wechselten die Frauen nur wenige Worte. Es war erst acht Uhr, doch Mary fühlte sich, als wäre es schon Mitternacht. Sie war schnell erschöpft und hatte nicht mehr die Kraft wie noch vor einer Woche. Die Medikamente hatten sie völlig ausgelaugt.
Das Dessert aßen sie im Wohnzimmer. Mary fiel das Sprechen mittlerweile schwer. Sie hätte schrecklich gerne mit Michael gesprochen. Sicher, es war ein Trost für sie, dass Jeannie mit Paul telefoniert hatte. Zumindest wusste sie jetzt, dass alles in Ordnung war. Doch nur der Klang von Michaels Stimme könnte ihre Zweifel zerstreuen.
Jeannie, die die Angst ihrer Freundin spürte, öffnete ihre Handtasche und zog einen Zettel heraus. Dann griff sie nach dem Telefon.
»Es ist zu spät, um sie anzurufen«, protestierte Mary.
Jeannie neigte den Kopf zur Seite. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mein Mann hat mich auch schon mitten in der Nacht geweckt, und da ging es um weit unwichtigere Dinge. Er wird es schon überleben.« Sie wählte die letzten Zahlen und reichte Mary den Hörer. »Das ist die Direktverbindung mit ihrem Zimmer.«
Marys Magen verkrampfte sich vor Aufregung. Wenn sie wüsste, dass es Michael gut ging, würde sie heute Nacht endlich wieder richtig schlafen können.
Sie hörte den ungewohnten europäischen Klingelton. Es klingelte ein zweites Mal. Mary fühlte sich wie ein Kind, das darauf wartete, dass am Heiligen Abend die Tür zum Wohnzimmer geöffnet wurde. Es klingelte noch einmal. Sie schaute Jeannie an, die verkniffen lächelte. Auch sie schien besorgt zu sein.
Warum meldete Michael sich nicht?
Jeannie überprüfte die Nummer, die auf dem Zettel stand. Sie stimmte. »Sie sind bestimmt etwas trinken gegangen«, log sie.
Das Telefon klingelte und klingelte, doch es meldete sich niemand.
Marys Angst nahm zu.
Im Tanzclub »Lasterhöhle« ging es um Mitternacht erst richtig los. Der Club gehörte zu den ältesten in Berlin und war ein exklusiver Tummelplatz der Reichen und Schönen. Das Gebäude – ein umgebautes Opernhaus aus der Zeit von Kaiser Wilhelm I. – gehörte zu den wenigen, die beide Weltkriege überlebt hatten. Auf den zahlreichen Etagen wechselten Tanzflächen und Bars. Der Mittelpunkt des Clubs war die große Bühne, deren Thema wie bei einem Bühnenbild jede Nacht wechselte. In einer Nacht konnte es eine Hügellandschaft sein, in der nächsten ein mittelalterliches Dorf.
Heute wurde das antike Rom dargestellt: im Hintergrund die Fassade des Kolosseums; Gladiatoren, die gegen ein Rudel wilder Löwen kämpften; in Togen gekleidete Frauen, die den siegreichen Kämpfern bewusstlos in die Arme sanken. Stroboskoplicht, Spotlights und Blitzlichter tanzten über die Wandteppiche und die Menschenmenge und beleuchteten eine beinahe surreale Orgie zweier Jahrtausende, die hier aufeinanderprallten. Es war eine Dekadenz, die manchem römischen Cäsaren zur Ehre gereicht hätte.
Auf den Emporen lauerten Fotografen, die auf einen intimen Schnappschuss hofften, den sie für gutes Geld verkaufen und der Welt präsentieren konnten. Junge, hübsche Paare aller Orientierungen und Neigungen versanken in den großen Plüschsofas und umarmten sich leidenschaftlich. Die Werte hatten hier keinen Wert, und die Sitten waren locker. Die Musik – eine Mischung aus Disco, New Wave und Techno- Punk – dröhnte aus schrankgroßen Lautsprechern, die von der Decke hingen.
Finster interessierte das alles wenig, als er mit zwei ausgesprochen hübschen Frauen tanzte – Audrey und Vaughn. Sie hatten sich am Eingang kennen gelernt und waren seitdem unzertrennlich. Während Vaughn keine Ahnung hatte, wer der ältere Herr in dem maßgeschneiderten Armani–Jackett war, hatte Audrey ihn schon aus hundert Metern Entfernung ins Auge gefasst, als er sich dem Club näherte. August Finster: höflich, unglaublich erfolgreich und – was ihr am besten gefiel – wahnsinnig reich.
Die beiden jungen Frauen, die seit ihrer Kindheit in London die besten Freundinnen waren, ähnelten sich sehr und waren gleich gekleidet: Prada-Kleider, Gino-Pumps, Choker von Cartier mit tropfenförmigen Brillanten. Und beide hatten prächtige lange Mähnen. Man hätte sie verwechseln können, wäre Audrey nicht pechschwarz und Vaughn strohblond gewesen.
Die beiden jungen Frauen dachten nur daran, wie viel bei ihrer üblichen Dreier-Nummer heraussprang. Sie hielten sich selbst nicht für Nutten, sondern für Unterhaltungsdamen, die ihrem Job nachgingen und versuchten, sich reiche Männer zu angeln oder einfach Männer, die leichte Beute für sie waren. Vor allem liebten sie Männer, die Macht und Geld besaßen.
Doch auch Audrey und Vaughn hatten Macht, eine ursprüngliche und unergründliche Macht, die stärker war als die Macht sämtlicher Männer, die sie jemals kennen gelernt hatten. Sie wussten, wie man auch den mächtigsten Mann dazu brachte, zu betteln wie ein Kind.
Aber dieser Mann war anders. Die meisten glaubten zwar, Macht zu besitzen, und protzten damit, um ihre Unsicherheit zu kaschieren, doch dieser Mann strahlte Ruhe und ein Selbstvertrauen aus wie kein anderer. Er wusste, dass er Macht besaß, doch die würde er nur im äußersten Notfall demonstrieren.
Vaughn hatte einen kurzen Moment überlegt, ob sie wieder gehen sollte. Sie hatte ein seltsames Gefühl im Bauch, und die Ursache dafür waren nicht die Pillen, die sie bei Philippe auf der Toilette gekauft hatte. Es lag an diesem Mann. Irgendwie konnte er bis in ihr Innerstes schauen, das spürte Vaughn deutlich. Seine Augen schienen durch ihren Körper hindurch bis in ihre Seele zu blicken.
Doch es war nur ein flüchtiger Gedanke gewesen, und so blieb sie. Außerdem konnte sie sich nie auf ihr Bauchgefühl verlassen.
Finster bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, die man ihm in seinem Alter kaum zugetraut hätte, und immer im Einklang mit seinen Begleiterinnen. Das Adrenalin des Erfolgs strömte durch seine Adern. Er tanzte vollkommen sorglos, denn er hatte sein Ziel vor Augen. Bald hatte er alle Hindernisse beseitigt. Finster hatte den Befehl zum Töten erteilt, obwohl er zuerst gezögert hatte, doch er konnte das Risiko nicht länger eingehen. Er verabscheute Simon, und es hätte ihm große Freude bereitet, selbst auf den Abzug zu drücken, wenn es ihm erlaubt und wenn er dazu fähig gewesen wäre. Die Wege Finsters und des Priesters hatten sich mehr als einmal gekreuzt, und Simon schien es sich zum Ziel gesetzt zu haben, Finster zu vernichten. Diese Chance hatte er jetzt verspielt.
Bei Michael sah die Sache anders aus. Finster mochte den Burschen irgendwie. Die meisten Männer steckten den Kopf in den Sand, wenn sie vor großen Problemen standen. Nicht so Michael. Er hatte eine Energie, die mit der Finsters konkurrieren konnte.
Leider war Michael ein Feind schlimmster Sorte geworden. Ihn trieb etwas an, das viel stärker war als Habgier und Wollust: Michael St. Pierre wurde durch Liebe motiviert. Aus diesem Grund hatte Finster seinen Tod befohlen.
Er hegte keinen Groll gegen den großen, kräftigen Cop namens Busch, doch Thal hatte so vehement darauf bestanden, ihn ebenfalls zu beseitigen, dass Finster zugestimmt hatte. Thal war eine der perfektesten Tötungsmaschinen, die er jemals in Gestalt eines Menschen gefunden hatte. Er nahm auf das Leben anderer nicht die geringste Rücksicht. Thal bezog seine Freude aus menschlichem Leid. Bis zum heutigen Tag hatte er sich stets als idealer Mitarbeiter erwiesen: pünktlich, effizient, gründlich und gnadenlos. Finster fragte sich, wie Thal reagieren würde, wenn er die wahre Identität seines Auftraggebers herausfand.
Der Auftrag, den Finster erteilt hatte, machte ihm nicht die geringsten Sorgen. Letztendlich war der Tod nur ein Schritt im Leben, den jeder eines Tages gehen musste. Diese drei Männer waren für ihn keine menschlichen Wesen – eher lästige Fliegen, die man erschlagen musste. Die einzige Konsequenz ihres Todes wäre die Beseitigung von Finsters letztem Hindernis, um dann nach Hause zurückzukehren.
Die Musik dröhnte unaufhörlich, als Audrey mit einer Runde Drinks von der Bar zurückkehrte. Sie tanzten weiter, während sie alle ihr viertes Glas Zima an diesem Abend herunterkippten.
»Ihr Mädchen seid gefährlich.« Finster beobachtete lächelnd die beiden Frauen, die sich aufreizend bewegten und mit den Hüften aneinanderstießen.
»Übung macht den Meister«, rief Vaughn laut, um sich gegen die Musik durchzusetzen.
»Wie viel Übung habt ihr denn ?«
Die jungen Frauen lächelten.
»Wir werden sehen, wie gut ihr wirklich seid«, rief Finster.
Und sie tanzten weiter.
41.
Die Tür krachte mit voller Wucht gegen die Wand. Mit dem Finger auf dem Abzug stürmte Thal in den dunklen Raum. Seine Blicke huschten auf der Suche nach seinen Opfern blitzschnell von links nach rechts.
Doch hier war niemand. Keine Menschenseele. Thal überprüfte systematisch den Raum, die Schränke und das Badezimmer. Er schaute unters Bett und in jeden Winkel, während er seine Deckung niemals aufgab. Nein, hier war kein Mensch. Das Zimmer sah aus, als wären sie gar nicht hier gewesen. Wie konnte es sein, dass sie verschwunden waren? Woher wussten sie es? Er dachte über die letzten zehn Minuten nach. Der Portier war tot gewesen, ehe er jemanden verständigen konnte. In der Lobby hatte sich niemand aufgehalten.
Das konnte Thal nicht akzeptieren. Für seinen Auftraggeber wäre es ein Problem, und für ihn selbst war es der schlimmste Albtraum. Er kannte den Preis für ein Scheitern nur zu gut, und er war nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Er hatte die drei Kerle hier aufgespürt, und es würde ihm gelingen, sie erneut aufzuspüren.
Die Stille in dem dunklen Raum wurde durch das Klingeln eines Telefons unterbrochen.
Als die Tür aufgebrochen wurde und er ins Zimmer stürzte, rollte Simon über den Boden und hob die Waffe. Er würde das ganze Magazin auf den Eindringling abfeuern und sich gar nicht erst davon überzeugen, ob es Freund oder Feind war. Außerdem brach ein Freund nicht um Viertel nach zwei in der Nacht die Tür ein.
Doch Simon brauchte nicht zu schießen. Dort war niemand, und die Tür war nicht aufgebrochen worden.
Der Lärm kam aus der Etage über ihnen.
Simon hatte in dem Hotel drei Zimmer auf drei verschiedene Namen gebucht. Eine kluge Entscheidung, wie sich herausstellte. Dadurch stand die Chance eins zu drei. Derjenige, der sie verfolgte, hatte sich für den religiösen Decknamen entschieden. Judas Ischariot. Das war ein alter Trick. Man buchte mindestens zwei Zimmer, eins auf einen offensichtlich falschen Namen und das andere auf einen Allerweltsnamen.
Simon ließ die Waffe sinken. Ihnen blieb nicht viel Zeit. Dieser Trick verschaffte ihnen höchstens eine Galgenfrist von wenigen Minuten.
Simon blieb fast das Herz stehen, als das Telefon klingelte. Michael und Paul, die beide ihren Rausch ausschliefen, schreckten aus dem Schlaf. Michael griff nach dem Hörer, doch Simon hinderte ihn rechtzeitig daran, abzunehmen. Er legte eine Hand auf den Hörer und schüttelte den Kopf. Das Telefon klingelte weiter.
Schließlich sahen Paul und Michael die Waffe in Simons Hand.
»Was ist los?«, flüsterte Paul und zeigte auf die Waffe.
Simon drückte den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Das Telefon klingelte ein drittes Mal. Paul warf die Hände in die Luft und wartete auf Antwort. Simon zeigte auf die Decke und flüsterte: »Wir müssen verschwinden.«
Obwohl Paul und Michael verwirrt und erschöpft waren, begriffen sie sofort. Sie nahmen ihre Sachen auf und halfen Simon, schnell die Waffen in die Taschen zu packen.
Simon jagte über die Autobahn und ließ mit dem Audi Turbo alles hinter sich.
»Wohin?«, fragte Paul, der auf dem Rücksitz saß. Seine Nerven waren ein wenig angegriffen, denn das Tempo war mörderisch.
»Wir nehmen uns ein Zimmer in einem Motel außerhalb der Stadt«, erwiderte Simon, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
»Und woher wissen wir, dass sie uns da nicht aufspüren?«
»Das wissen wir nicht.«
Paul hatte das Gesetz noch nie aus dieser Perspektive betrachtet, und es gefiel ihm gar nicht. Dennoch verschafften ihm diese Täuschungsmanöver einen Adrenalinschub. Lieber wäre er allerdings der Jäger als der Gejagte gewesen. Der Jäger hatte immer nur mit geringfügigen negativen Konsequenzen zu rechnen.
Michael blickte Paul an und grinste. »Das hättest du auch nicht gedacht, dass wir mal gemeinsam auf der Flucht sind, was?«
Die Ironie dieser absurden Situation entging ihnen beiden nicht.
»Und wissen Sie ganz genau, wo Finster sich morgen Abend aufhalten wird?«, fragte Simon.
»Hundertprozentig«, erwiderte Paul zuversichtlich und wandte sich Michael zu. »Hast du einen Job für mich, wenn sie mich bei der Polizei rausschmeißen?«
»Niemand wird irgendwo rausgeschmissen. Du musst mir vertrauen.«
»Das habe ich immer getan, und jetzt sieh dir an, in welcher Lage ich bin.« Paul schaute kopfschüttelnd aufs Tacho: Sie fuhren 250 Sachen.
»Du hast bei mir was gut.« »Okay, ich melde mich.« Paul beugte sich zu Simon vor. »Irgendeine Ahnung, wer den Jungen in der Lobby erschossen hat?«
»Nein.«
»Die werden dumm gucken, wenn sie die vielen Kreuze im Hotelzimmer sehen. Die werden glauben, da hätte eine Bibeltagung stattgefunden.«
»Schon möglich.«
»Und jetzt sind die Cops wahrscheinlich hinter uns her...«
»Aber sie haben keine Ahnung, wer wir sind.«
»Keine Ahnung...«, wiederholte Paul, der nicht davon überzeugt war.
»Ich habe ein bisschen Erfahrung mit diesen Dingen, und ich bin sicher, Ihr Freund ebenfalls.«
Paul warf Michael einen Blick zu, worauf dieser zögernd nickte.
»Finster will, dass du stirbst.« Paul fasste in Worte, was sie alle wussten.
»Wenn ich an die viele Aufmerksamkeit denke, die man mir schenkt, wird mir ganz warm ums Herz«, meinte Michael.
»Nicht so großspurig. Ich nehme an, er will uns alle umbringen«, sagte Simon, der das Lenkrad umklammerte.
»Wie beruhigend.« Paul schaute auf die Landschaft, die an ihnen vorbeischoss.
»Suchen Sie Trost in den kleinen Dingen. Wir kommen da schon wieder lebend raus«, scherzte Simon.
Paul verzog nur das Gesicht. Er verlor immer mehr seinen Sinn für Humor. Er stand bei jemandem auf der Abschussliste, was er vor drei Tagen niemals für möglich gehalten hätte. Und noch nie war er auf der Flucht gewesen.
Um siebzehn Minuten nach zwei stand Thal mitten in einem Hotelzimmer, in jeder Hand eine Pistole, starrte auf die zahllosen Kreuze und versuchte zu verstehen, was er sah. Das klingelnde Telefon, auf das niemand reagierte, war für ihn wie ein Wegweiser gewesen. Es hatte ihn vom Hotelzimmer eine Etage höher zu diesem religiösen Zufluchtsort geführt, der in diesem Hotel völlig fehl am Platze war. Schließlich verstummte das Telefon.
»Was hat das zu bedeuten, verdammt?«, murmelte Thal.
Wenigstens wusste er jetzt, dass es diesmal das richtige Zimmer war. Diese vielen Kreuze waren beinahe lächerlich. Als könnte ein Kreuz ihn davon abhalten, das Zimmer zu betreten.
Einen kurzen Augenblick fragte sich Thal, ob sie vielleicht jemand anderen oder etwas anderes abhielten. Dracula und Werwölfe waren Fantasiewesen, aber diese Kreuze hingen wirklich und wahrhaftig dort und waren nicht zum Beten gedacht – da hätte ein einziges Kreuz gereicht. Diese Kreuze hier sollten vermutlich Schutz bieten.
Wovor?
Thal hatte seinen Glauben vor langer Zeit verloren. Gott war nur etwas für die Schwachen – der große starke Bruder, den man zu Hilfe rief, wenn Dunkelheit drohte.
Jedenfalls sollten diese Kreuze irgendetwas abwehren, gegen das die Menschen sich mit konventionellen Waffen nicht verteidigen konnten.
Aber was ?
Ehe Thal Gelegenheit hatte, über die verschiedenen Möglichkeiten nachzudenken, rief eine Stimme hinter ihm: »Stehen bleiben!«
Thal dachte gar nicht daran. Der deutsche Polizist war tot, ehe sein von Kugeln zerschmetterter Kopf auf den Teppich prallte. Als der Rauch aus beiden Waffen zerfaserte, machte Thal sich Vorwürfe, weil er sich von seinen Gedanken hatte ablenken lassen.
Ihm blieb keine Zeit für eine Durchsuchung des Zimmers. Rasch schnappte er sich ein paar Kreuze in der Hoffnung, sie später identifizieren zu können, und rannte davon. Er lief den Gang hinunter, steckte sich die Waffen unter den Hosenbund und drückte auf die Taste neben dem Aufzug. Wenn die Polizisten unten waren, war es besser, wenn er vorsichtig war und versuchte, durch die Eingangstür zu verschwinden. Vielleicht lenkte die Aufregung wegen des Toten die Bullen ab.
Doch als die Aufzugtür sich öffnete, nahmen Thals Pläne eine dramatische Wende, die tagelang für Schlagzeilen sorgen und der Öffentlichkeit über Jahre hinweg in Erinnerung bleiben würde.
Drei Polizisten richteten ihre Waffen auf Thal, der in vorgetäuschter Angst seine zitternden Hände hob.
»Er ist tot...«, stammelte Thal auf Englisch und zeigte auf ein Zimmer am Ende des Gangs.
Die Waffen im Anschlag, rannten zwei Polizisten über den Flur und gingen zu beiden Seiten der Tür in Deckung.
»Sie sind die Treppe runtergelaufen.« Thal liefen Tränen über die Wangen. »Die Treppe runter...« Er war stolz darauf, dass er sich von einer Sekunde zur anderen jeder Situation und Stimmung anpassen konnte.
Im nächsten Augenblick lenkte ihn ein brennender Schmerz im Lendenwirbelbereich ab, wo die beiden heißen Pistolenläufe seine Haut versengten.
Der Polizist, der vor ihm stand – ein junger Mann namens Schmidt –, forderte über Funk Verstärkung an. »Sichert die Treppe. Ein Polizist ist tot.« Er trat näher an Thal heran. »Können Sie die Leute beschreiben?«
Thal überlegte, ob er dem Mann die Beschreibung von Simon, Michael und Paul geben sollte, und entschied sich dagegen. Wenn sie von der Polizei gejagt wurden, tauchten die drei sicher unter, und Thal wollte, dass sie entspannt waren. Niemand sonst durfte seine Beute jagen.
Er begann zu stottern, während sein Körper zitterte.
»Schon gut. Und Sie können die Arme herunternehmen«, sagte der junge Polizist nervös.
Als er das Keuchen seiner Kollegen hörte, die das Zimmer betreten hatten, in dem ihr ermordeter Kollege lag, horchte er auf. Seine Neugier war geweckt. Langsam ging er den Flur hinunter, wobei er seine Waffe noch immer auf Thal richtete. Als er ins Zimmer blickte, sah er seinen ehemaligen Ausbilder Jan Reiberg in einer Blutlache liegen. Reibergs linker Fuß war seltsam verdreht.
Schmidt starrte wie gebannt auf die Leiche. Es dauerte zehn, fünfzehn Sekunden, ehe er die Augen von dem entsetzlichen Anblick abwandte. In diesem Moment sah er, dass der schlanke Amerikaner ein kleines Kreuz in der rechten Hand hielt. Gedankenverloren zeichnete er mit dem Daumen die Umrisse des Kreuzes nach, während er gegenüber der Suite an der Wand lehnte und wie ein Kind weinte. Als Schmidt erneut ins Zimmer schaute, erbrach sich einer seiner Kollegen in einer Ecke. Die ganze Szene wirkte surreal. Verwirrt beobachtete Schmidt, wie der dritte Polizist sich plötzlich drehte und zu Boden stürzte.
Schmidt spürte nicht einmal, wie die Kugel sein Herz durchbohrte. Es hörte sich an, als wäre der Schuss aus großer Entfernung abgefeuert worden. Die Zeit verging wie in Zeitlupe, als Schmidt beobachtete, wie seine beiden Kollegen im Kugelhagel aus den beiden Waffen, die der Mann auf dem Gang in der Hand hielt, zusammenbrachen.
Seltsam, schoss es dem Sterbenden durch den Kopf, dass der Mann immer wieder auf den Abzug zwei großer Waffen drückt. Was ist mit dem Kreuz, das er in der Hand gehalten hat?
Schmidt sank auf die Knie, während das Blut aus seinen Wunden spritzte. Doch er spürte keine Schmerzen.
Und dann sah er sie. Sie waren überall im Hotelzimmer verteilt. Warum hatte er sie nicht gesehen, als er vorhin einen Blick in dieses Zimmer geworfen hatte?
Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Nichts spielte mehr eine Rolle.
Schmidt kippte vornüber und starb inmitten der dreitausend Kreuze.
Thal zog den Dienstausweis aus Reibergs Tasche und stieg im Eiltempo die Treppe drei Stockwerke höher. Er lief bis zum Ende des Gangs, blieb vor einem der wenigen Zimmer stehen, an denen kein Schild »Bitte nicht stören« hing, und schlug mit den Fäusten gegen die Tür von Zimmer 1474.
»Meine Güte, was ist denn los?«, rief jemand in verärgertem Ton auf Englisch.
Thal erwiderte nichts. Er wartete, bis er den Mann durchs Zimmer schlurfen hörte. Nach dreißig Sekunden wurde die Tür einen winzigen Spalt geöffnet. Thal hielt dem Mann Reibergs Dienstausweis vor die Nase. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Thal mit starkem deutschem Akzent.
»Was ist denn passiert ? Brennt's hier, oder was ist los?«
»Ich muss kurz mit Ihnen sprechen.«