15.
Dean McGregor war der geborene Verlierer, der alles tat, um sauber zu bleiben. Paul Busch traf sich jeden dritten Mittwoch im Monat mit Dean. Er war ein sorgloser Mann, der stets zur falschen Zeit am falschen Ort war, mit den falschen Freunden und den falschen Absichten. Zum ersten Mal war er straffällig geworden, als er in ein kleines Spirituosengeschäft einbrach. Doch in einem Spirituosengeschäft liegt normalerweise nicht viel Geld in der Kasse. Deshalb staunten Dean und seine Kumpanen nicht schlecht, als der Kassierer ihnen zwanzigtausend Dollar gab, nachdem sie ihre Waffen gezogen hatten.
Leider waren die zwanzigtausend Dollar Drogengelder. Und schlimmer noch: Der Laden wurde überwacht, weil hier Marihuana verscherbelt wurde. Kaum hatten Dean und seine Komplizen den Laden verlassen, wurden sie von drei Drogenfahndern festgenommen, die in einem Ford auf der anderen Straßenseite saßen. Die Drogenfahnder sorgten dafür, dass der Staatsanwalt die Täter zur höchstmöglichen Strafe verurteilte.
Das Schicksal hatte für Dean offenbar einfach keine Verbrecherkarriere vorgesehen. Denn zehn Monate nach seiner Freilassung versuchte er, eine Tankstelle zu überfallen, um seiner schwangeren Frau ein paar dringend benötigte Sachen kaufen zu können. Mit seiner Spielzeugpistole, die er bei Überfällen immer benutzte, hielt er den Tankwart in Schach und schaute in die Kasse, in der vielleicht vierhundert Dollar lagen. Leider wusste er nicht, dass die Frau des Tankwarts ebenfalls schwanger und der Mann ein Cop war, der hier nebenbei arbeitete, um für ihr ungeborenes Kind einen Notgroschen anzusparen. Der Dienstrevolver des Cops lag unter der Theke, weil er gerade von der Arbeit gekommen war. Es war seine dritte Doppelschicht in dieser Woche.
Der Polizist – kein anderer als Paul Busch – zog den Revolver. Dean gab auf und machte sich vor Schreck in die Hose.
Während sie auf den Streifenwagen warteten, der Dean aufs Revier bringen sollte, entwickelte sich zwischen den beiden ein Gespräch über ihre ungeborenen Kinder. Zum ersten Mal erkannte Paul, dass auch Verbrecher mitunter edle Motive haben konnten. Das war natürlich keine Entschuldigung, denn Gesetz war Gesetz.
Dean wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt und wanderte wieder in den Knast.
Und nun, sechs Jahre später, saßen Paul und sein Kollege Dennis Thal in einem Café und stellten dem kürzlich aus der Haft entlassenen Dean McGregor die üblichen Fragen. Wegen guter Führung war der Rest von Deans Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden.
Paul hatte Dean freundlich die Hand geschüttelt und ihn mit einem Lächeln begrüßt. Der Mann hatte die vom Gericht für angemessen erachtete Strafe verbüßt, und damit war für Paul die Sache erledigt. Seine Aufgabe war es nicht, Recht zu sprechen, sondern die Gesetze durchzusetzen.
Dean reichte Thal die Hand, doch dieser starrte bloß darauf, ohne zu reagieren. Der kühle Blick des jüngeren Polizisten rief bei Dean ein nervöses Zucken hervor, das während des gesamten Gesprächs anhielt.
In der nächsten halben Stunde stellten sie Dean die üblichen Fragen: Wie geht es Ihnen? Was macht die Familie? Wie klappt es mit dem Job, den wir Ihnen besorgt haben? Gehen Sie pünktlich zur Arbeit? Es waren einfache Fragen, um sicherzustellen, dass Dean mit seinem Leben zurechtkam. Paul übernahm die Führung und lenkte das Gespräch in die Richtung, die er anstrebte. Es gefiel ihm nicht, wenn die ihm anvertrauten Schützlinge nervös oder ängstlich waren. Es war wichtig, dass sie sich beim Gespräch mit ihrem Bewährungshelfer wohl fühlten. Wenn der Ex-Knacki entspannt war, öffnete er sich und berichtete ehrlich über seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft. War er hingegen ängstlich oder verzweifelt und spürte, dass er in der Welt nicht klarkam, konnte er schnell wieder rückfällig werden. Und Pauls Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Ex-Häftlinge nicht wieder auf die schiefe Bahn gerieten. Geschah es dennoch, war es ebenso sein Versagen wie ihres.
Als Pauls Handy klingelte, entschuldigte er sich und stand auf. Er erlaubte Thal, Dean noch ein paar Fragen zu stellen, forderte ihn aber auf, das Gespräch bald zu beenden und Dean nach Hause zu schicken. Thals erste Frage zu Deans Träumen und Albträumen schien harmlos zu sein. Dann aber ging Thal zu einschüchternden, provozierenden Äußerungen über.
»Sie träumen von Geld, nicht wahr, McGregor? Sagen Sie mir die Wahrheit. Wenn Sie nachts im Bett liegen, müssen Sie immer wieder daran denken, wie einfach es sein könnte, Essen auf den Tisch zu bringen.« Thal lächelte. »Wie viele Jahre wird es noch dauern, bis wir Ihre Kinder schnappen, weil sie in Daddys Fußstapfen getreten sind?«
Dean, der schockiert auf seinem Stuhl saß, rann der Schweiß über die Stirn.
»Ich habe früher an die Resozialisierung geglaubt«, fuhr Thal unbarmherzig fort. »Ich habe an Vergebung geglaubt.
Aber wissen Sie was, Dean? Ich glaube nicht, dass Sie resozialisiert sind. Und ich finde, man sollte Ihnen nicht vergeben, was Sie getan haben.«
Nachdem Dean zwei Minuten mit Thal verbracht hatte, lagen seine Nerven blank. Er hatte vor diesem Kerl mehr Angst als vor allen Leuten, denen er jemals im Knast begegnet war. Es waren nicht nur die Worte des jungen Cops, es waren auch sein Tonfall und seine funkelnden Augen.
Thal legte eine Hand auf Deans Schulter, als wäre er ein Kind. »Sie widern mich an, McGregor. Sie nehmen anderen Leuten auf dieser Welt den Platz weg. Beten Sie, dass Sie mir nicht vor die Knarre kommen, wenn Sie ein Verbrechen begehen. Sollte das passieren, dann puste ich Ihnen das Hirn weg, fege es zusammen und lasse es Ihrer Frau schicken.«
Pauls Rückkehr beendete abrupt die Inquisition.
»Okay, Dean, wir sehen uns dann in drei Wochen wieder«, sagte Paul, wobei er das »Wir« betonte. Er brachte den erschütterten Dean zur Tür und legte einen Arm um seine Schultern, um ihn zu beruhigen.
Anschließend kehrte Paul an den Tisch zurück. Setzte sich hin. Trank einen Schluck von seinem lauwarmen Kaffee. Schüttete noch etwas Zucker hinein. Die Minuten vergingen, und Thal wurde allmählich unruhig. Die Ahnung, dass Paul ihm gleich die Hölle heißmachen würde, ängstigte den jüngeren Mann.
Schließlich beugte Paul sich vor, hob einen Finger und sagte mit ruhiger Stimme: »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, denn ich sage es Ihnen nur ein einziges Mal: Wenn Sie einen Bewährungshäftling noch einmal so behandeln, sorge ich persönlich dafür, dass Sie Ihren Job verlieren und obendrein vor Gericht gestellt werden. In meinen Augen können Sie Dean nicht das Wasser reichen.« Paul holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Ich arbeite noch einen Monat mit Ihnen, um meine Pflicht zu tun und Sie einzuarbeiten. Anschließend aber werde ich dafür sorgen, dass unsere Wege sich nie mehr kreuzen.«
»Ich habe den Mann doch nur ein bisschen aufgemischt, um zu sehen, ob er vielleicht wieder etwas plant«, entgegnete Thal kleinlaut.
»Wir mischen niemanden auf, kapiert? Niemals.«
»Woher sollen wir wissen, dass dieser Mann nicht vorhat, gegen seine Bewährungsauflagen zu verstoßen?«
»Glauben Sie mir, ich wüsste es, wenn er es vorhätte.« Paul nahm die Unterlagen von Dean McGregor und schob sie in seine Aktentasche.
»Und wenn Sie wüssten, dass jemand gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hat – würden Sie ihn dann sofort hochnehmen?«
»Ohne Frage.«
»Und wie streng sind wir da? Halten wir uns bei jedem an den Buchstaben des Gesetzes ?«
Paul hob den Blick. »Was reden Sie da? Das ist das Gesetz. Wir müssen die Gesetze durchsetzen.«
»Ohne Ausnahme?«
»Ohne Ausnahme«, bestätigte Paul.
»Dann sollten wir diesen St. Pierre hochnehmen. Er hat das Land verlassen. Nach Ihren eigenen Worten müssten wir ihn hochnehmen.« Thal lachte sich ins Fäustchen.
Paul fluchte in sich hinein. Er war Thal auf den Leim gegangen. Als er begriff, dass der kleine Scheißkerl ihn hereingelegt hatte, fuhr er ihn an: »Woher wissen Sie das ?«
»Aus verlässlicher Quelle.«
»Aus verlässlicher Quelle? So ein Scheiß! Das wird dem Richter nicht reichen. Der will Fakten sehen.« Paul wusste genau, dass Michael das Land verlassen hatte. Am Flughafen hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie Michael hinter dem Schalter für die internationalen Flüge verschwunden war. Paul hoffte, dass es eine Erklärung dafür gab und dass er sich persönlich darum kümmern konnte. Aber jetzt...
Thal beugte sich über den Tisch vor, hob einen Finger und sagte mit ruhiger Stimme: »Ich bringe Ihnen Beweise.«
»Dann reden wir erst wieder darüber, wenn Sie diese Beweise haben.« Paul nahm seine Aktentasche und stand auf.
Thal grinste. Er glaubte, bei diesem Streitgespräch den Sieg davongetragen zu haben, und nun wollte er diesem Sieg noch die Krone aufsetzen. »Warum nennen die anderen Sie eigentlich Peaches ?«, stellte er die Frage, die Paul auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Paul beugte sich so weit über den Tisch, dass seine Nasenspitze beinahe Thals Gesicht berührte, und sagte dann in unmissverständlichem Tonfall: »Sie werden mich niemals Peaches nennen.«
Die Krankenhausbücherei war winzig, hatte jedoch einen Buchbestand, der die Grundbedürfnisse der Patienten befriedigte. In der Lesestube war es wohltuend ruhig, doch auch hier roch es – wie im ganzen Krankenhaus – nach Desinfektionsmitteln, und der Geruch erinnerte jeden daran, wo er sich befand. Hinter der Abteilung der medizinischen Bücher, der Zeitschriften und Dissertationen gab es eine gute Auswahl an Romanen und an Sachbüchern. Die Enzyklopädien und Nachschlagewerke waren von einem Gönner gestiftet worden, dessen Mutter an einem Herzleiden gestorben war.
Michael war dankbar für die Großzügigkeit des Mannes, denn hier fand er auch die neueste Ausgabe von Who's Who in International Business. Die meisten Einträge waren nur ein paar Abschnitte lang, doch die Informationen über August Angelus Finster umfassten eine ganze Seite.
Michael hatte sich über Finster schlaugemacht, ehe er dessen Auftrag angenommen hatte. Damals war er über nichts gestolpert. Jetzt war es Simon, der ihn nachdenklich stimmte. Michael wusste nicht, vor wem er sich mehr fürchten musste, vor Finster oder Simon. Und er wusste auch nicht genau, wonach er jetzt suchte, als er auf dieselbe Seite starrte, die er vor fast drei Wochen gelesen hatte.
August Angelus Finster war nach dem Fall der Mauer aus dem Osten in den Westen gekommen. Seine Kauforgien waren legendär. Er hatte mehr als dreihundert Millionen Mark in den Aufbau seines Imperiums gesteckt und mit Textilfabriken, Bergwerken und Waffenfabriken, die er größtenteils im Zuge der Privatisierung ehemaliger ostdeutscher Staatsbetriebe erworben hatte, ein Imperium aufgebaut. Die Unternehmen waren äußerst erfolgreich, was einzig und allein Finsters Geschäftssinn zu verdanken war. Er zeigte sich nur selten in der Öffentlichkeit, und nur wenige kannten seine Erfolgsstrategie. Und diejenigen, die für ihn arbeiteten, waren verschwiegen und unsichtbar. Die Konkurrenz versuchte, Finsters Erfolgsgeheimnis zu ergründen, doch niemandem gelang es, sein Geschäftsmodell zu kopieren. Finster hatte noch nie Misserfolge erlitten.
Doch es gab eine Regel, von der es kaum eine Ausnahme gab: Irgendwann trifft es jeden. Und eines Tages würde es auch Finster treffen. Die Menschen jubelten, feierten und scharten sich immer um die, die sich im Aufstieg befanden, doch wenn jemand ganz oben stand, kam irgendwann die Wende, der Absturz.
Hinzu kamen die Neider: Ein Sieger war erfolgreich, während sie es nicht waren, und das passte ihnen nicht. Bill Gates, der Computerfreak, der es mit dem Giganten IBM aufnahm, kam aus dem Nichts, um die Computerindustrie zu erobern. Dann musste er erleben, wie Staaten und Regierungen versuchten, sein Imperium zu zerstören. Ähnlich war es bei Michael Jackson, dem »King of Pop«, der die Musikwelt eroberte und die Unterhaltungsbranche revolutionierte. Die wachsende Begeisterung für ihn verwandelte sich in die Gier, an seinem Erfolg mit zu profitieren, die den »King« schließlich vernichtet hatte. Und nicht wenige sagten, dass es Finster bald ähnlich ergehen würde.
Es gab keine Informationen über ihn aus der Zeit vor 1990. Michael fragte sich, wie jemand innerhalb von zehn Jahren aus dem Nichts ein Nettovermögen von mehr als dreizehn Milliarden US-Dollar anhäufen konnte. Der ausführliche Artikel informierte ihn zwar über Finsters geschäftliche Erfolge, doch über seine private Vergangenheit gab es so gut wie nichts: Er schien keine Eltern zu haben, keine Schwestern oder Brüder, keine Frau und keine Kinder.
Vielleicht gab es Informationen über ihn. Doch in diesem Fall war es Finster gelungen, sie ebenso geschickt zu verbergen wie seine Geschäftsstrategien. In den letzten drei Jahren hatte er das Leben eines Promis geführt, über den so ausführlich berichtet wurde wie über einen Filmstar. Er eilte von Geschäftstermin zu Geschäftstermin, von einem Tanzclub zum nächsten, von einer Wohltätigkeitsgala zur anderen. Finster wurde selten ohne eine hübsche Frau an jedem Arm gesehen, und seine Begleiterinnen waren nie älter als Mitte zwanzig. Allein die Fotos von ihm ließen sein Charisma erahnen.
Doch es gab keine Hintergrundinformationen.
Andererseits galt dies auch für andere Milliardäre, was Michael in gewisser Weise beruhigte. Bei den meisten Mega- Reichen gab es kaum Informationen über ihre Lebensläufe. Es war wie ein kleiner, feiner Club: Du sagst nichts über mich, und ich sage nichts über dich. Vielleicht hatte es auch mit Finsters Vergangenheit im ehemaligen Ostblock zu tun: Wer sich in einem Überwachungsstaat zu auffällig verhielt, verschwand schnell in Gefängnissen. Erst als die Mauer fiel, war Finster auf der Bildfläche erschienen.
Alle jemals gesammelten Informationen waren in dem Buch zusammengetragen worden, das Michael nun in der Hand hielt, aber es brachte ihn nicht weiter. Fest stand nur, dass der Industrielle ein sehr erfolgreicher Mann war. Michael nahm an, dass er auch verschwiegen und skrupellos war, denn in der obersten Liga wurden Ziele ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt.
Doch so bedrohlich, wie Simon gesagt hatte, schien der Mann nicht zu sein. Finster war exzentrisch, das hatte Michael selbst gesehen, aber das war sicherlich auf seinen Reichtum und seine Macht zurückzuführen. Die sonderbare Sammlung von Kunstwerken, die Finster in seinem mittelalterlichen Keller aufbewahrte, war seltsam, aber es handelte sich lediglich um Kunst und Antiquitäten. Genau das, was auch die beiden Schlüssel waren, die Michael gestohlen hatte. Für Finster waren sie bloß ein kostbarer Besitz, den er in seinem Privatmuseum verstecken wollte. Vielleicht besaßen die Schlüssel tatsächlich die historische Bedeutung, von der Simon gesprochen hatte, aber was spielte das für eine Rolle? Es steckte keine Magie dahinter. Keine Macht über die Seelen der Menschheit. Das himmlische Paradies war ein Konzept, an das Mary glaubte, doch Michael hatte seine Probleme damit.
Michael wollte das Buch zuschlagen, da fiel sein Blick auf ein Detail des Artikels, das er bisher nicht weiter beachtet hatte. Es war Finsters Vorname: August Angelus Finster – »Engel der Finsternis.«
Michael lief den Gang hinunter zu Marys Zimmer. Er rief sich alles in Erinnerung, was er über Finster wusste: seine eigenen Informationen, die er während seiner Treffen mit Finster gesammelt hatte, und alles, was Simon ihm erzählt hatte.
»Engel der Finsternis.«
Dabei widersprach Finsters Verhalten dem, was Michael sich unter einem teuflischen Wesen vorstellte. Der Mann hatte Anteilnahme gezeigt und versucht, ihm und Mary zu helfen. Das alles war sicher nur ein verrückter Zufall, der zu dem passte, was ihm dieser Simon eingeredet hatte. Finster war nicht der Teufel, und die Schlüssel waren nicht die Schlüssel zum Himmelreich. Diese Schlüssel zum Himmel waren ein Mythos – genauso wie der Heilige Gral. Sie waren eine Erfindung der Kirche, um den Menschen Glauben und Angst einzuflößen.
Michaels Meinung stand fest, doch sein Gefühl sagte ihm etwas anderes. Solche Zufälle gab es nicht. Wenn zu viele Fakten in eine bestimmte Richtung wiesen, geschah das nicht rein zufällig. Sherlock Holmes hatte es so ausgedrückt: »Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, auch wenn es unwahrscheinlich ist.«
Die Erinnerung an das unangenehme Gefühl in Finsters Verlies wurde wieder lebendig. Die Angst, die Michael in dem dunklen Keller kalte Schauer über den Rücken gejagt hatte. Die Schatten, die Gemälde und vor allem der Mann, dem er in die feuchte Dunkelheit gefolgt war, strahlten irgendetwas aus. Und den einzigen Trost hatte er in jenem Augenblick gespürt, als er sich das Kästchen mit den Schlüsseln an seine Brust gedrückt hatte ...
In Finsters Keller war es ihm nicht bewusst gewesen, aber jetzt ergab es möglicherweise einen Sinn. Bei einigen Mithäftlingen im Gefängnis hatte Michael das Böse erkannt – bei Männern, die keine Gefühle kannten und deren einziger Wunsch es war, andere zu quälen und zu vernichten. Er war diesen Mithäftlingen und dem Bösen ausgewichen, doch in Finsters Haus war dieses Böse überall gewesen. Er hatte es riechen können, hatte gespürte wie es über seine Haut gekrochen war. Es lauerte dort in der Stille.
Das Böse.
Michael war so in Gedanken versunken, dass er Dr. Rhineheart gar nicht sah und beinahe mit ihm zusammenstieß.
»Michael?«, sagte der Arzt. »Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
Der Regen hatte um Mitternacht eingesetzt, und es sah nicht so aus, als würde er bald nachlassen. Hinzu kam der kalte Nordwind. Die Temperatur lag zehn Grad unter dem für diese Jahreszeit normalen Wert. Zu allem Übel war heute Morgen ein Gewitter aufgezogen.
Mary schaute aus dem Fenster auf die Blitze, die über den Himmel zuckten, und zählte die Sekunden, bis der Donner ihr Krankenzimmer erbeben ließ. In ihrem Zimmer war es in den letzten Stunden kälter geworden, und die Welt schien trister zu sein, doch das hatte mit dem Unwetter nichts zu tun. Mary wusste nicht, wie sie es Michael sagen sollte. Er hatte so viel geopfert, um ihr die Behandlung zu ermöglichen...
Mary war immer die Optimistin gewesen, die anderen Mut machte, wenn sie schwere Zeiten durchlebten. Bei ihr konnten sich andere ausweinen, und sie redete ihnen gut zu, damit sie wieder Hoffnung schöpften. Sie schaffte es immer, andere aufzumuntern, doch jetzt gelang es ihr beim besten Willen nicht, sich selbst Mut zu machen. Mary hatte keine Hoffnung mehr.
Sie hatte sich innerlich noch nicht darauf vorbereitet, Michael gegenüberzutreten, als er das Zimmer betrat.
»Michael...«, sagte sie zögernd. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Es tut mir schrecklich leid.«
Michael nahm sie in die Arme und zog sie an sich. »Die Arzte wissen nicht, was sie reden.« Seine Stimme war fest und voller Überzeugung. »Wir holen eine zweite Meinung ein. Wir finden schon einen Weg. Wir geben niemals auf.«
Doch Michael gab sich optimistischer, als er war. Als Rhineheart ihm vor einer halben Stunde die Diagnose mitgeteilt hatte – der Arzt gab Mary noch sechs Wochen –, hatte Michael das Gefühl gehabt, sein Herz müsste in tausend Stücke zerspringen. Er hatte seine Tränen zurückgehalten, und das würde er jetzt auch tun. Mary sollte ihn nicht weinen sehen.
»Michael...«
»Hör zu, Mary, wir haben das nicht alles durchgestanden, um jetzt zu verlieren. Wir haben es bisher immer geschafft. Du bist an meiner Seite geblieben und hast mir ermöglicht, in mein Leben zurückzukehren. Das funktioniert in beide Richtungen. Ich weigere mich, aufzugeben, und das erwarte ich auch von dir. Wir schaffen das schon.« Er trat zurück, legte ihr die Hände auf die Schultern und schaute ihr in die Augen. »Gemeinsam.«
Mary schöpfte wie immer Kraft aus seinen Worten. »Ja, es gibt andere Arzte«, sagte sie und hoffte, dass es überzeugend klang.
»Wir suchen uns den Besten, den es gibt.«
»Ich habe von anderen Behandlungsmethoden gehört, die noch nicht zugelassen wurden ...« Mary nahm seine Hand, blickte aus dem Fenster und schaute auf den Regen, der gegen die Scheiben prasselte und die Aussicht in eine Palette verwaschener Grautöne verwandelte. »Was glaubst du, wie es ist?«, flüsterte sie.
»Was meinst du?«
»Im Himmel.« Mary spürte einen tiefen Frieden, als sie aussprach, was beide nicht zu denken wagten. Sie schaute noch immer aus dem Fenster und flüsterte: »Glaubst du, es ist schön?«
Der Schock durchzuckte Michaels Körper wie der Blitz in den Bergen. Simons Worte schössen ihm durch den Kopf: »Sie haben die Schlüssel zum Himmel gestohlen... Die Himmelspforte ist geschlossen.«
In diesem Augenblick wusste Michael, dass Mary ihre Krebserkrankung nicht überleben würde. Er zog sie an sich und hielt sie fest in den Armen.