17.
Morgen, Mike«, sagte Paul und beugte sich übers Bett.
Michael rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Wie bist du in meine Wohnung gekommen?«
»Du hast mir im letzten Jahr die Schlüssel gegeben. Schon vergessen?«
»Offenbar habe ich genau den falschen Leuten Schlüssel gegeben.« Michael stöhnte erschöpft.
Als Paul zur Seite trat, schien ihm die Morgensonne mit voller Kraft in die Augen. Jetzt bereute Michael die letzten beiden Gläser Whiskey, denn sein Schädel dröhnte wie verrückt. »Soll ich uns Frühstück machen?«, fragte er mit müder Stimme und presste sich ein Kissen auf den Kopf, um sich vor dem grellen Licht zu schützen.
Klick. Irgendetwas schloss sich um seinen Knöchel. Michael hob das Kissen hoch und schaute auf seine Füße. Jetzt erst sah er Dennis Thal. Pauls neuer Partner programmierte die elektronische Fußfessel, die um Michaels Knöchel lag. Sie war mit einem GPS versehen und wurde von einer zentralen Kontrollstelle überwacht. Das GPS meldete jederzeit seinen Aufenthaltsort. Es gab kein Entrinnen.
Ruckartig riss Michael die Beine hoch und wich ein Stück zurück. Der junge Cop lächelte wie ein Jäger, der wusste, dass seine Beute nicht mehr entkommen konnte.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Tut mir leid.« Paul wich Michaels Blick aus.
»Es tut dir leid ? Was soll das ?« »Es besteht Fluchtgefahr. Ich kann nicht das Risiko eingehen, dass du abhaust.«
»Abhauen?«, fragte Michael ungläubig. »Vor wem?«
»Ich musste mit dem Richter sprechen.«
»Was ich dir gesagt habe, habe ich dir als Freund gesagt.«
»Das macht es noch schwerer.«
»Meine Frau liegt im Sterben, Paul. Glaubst du wirklich, ich würde abhauen ? Glaubst du, ich würde sie verlassen ?«
»Du darfst sie so oft besuchen, wie du willst, Michael. Wir wollen nur wissen, wo du bist. Und wir wollen nicht, dass du die Stadt verlässt...« Paul verstummte kurz. »Noch einmal.«
»Du Mistkerl! Du steckst mich wieder in den Knast!«
Michael sprang auf und stürzte sich auf Paul, doch ehe er zum Schlag ausholen konnte, fiel Thal über ihn her. Der Cop schlug mit den Fäusten auf Michael ein, bevor dieser reagieren konnte. Als Michael zu Boden ging, hob Thal sein rechtes Bein, um ihn gegen den Kopf zu treten, doch dazu kam es nicht. Blitzschnell packte Paul den jungen Cop bei den Schultern und schleuderte ihn quer durchs Zimmer. Dann bückte er sich nach Michael, der sich vor Schmerzen am Boden krümmte.
Thal stand auf, klopfte sich den Staub von seiner Kleidung und drehte sich zu Michael um. »Abschaum wie Sie gehört ins Loch. Da sollten Sie verrotten. Ihre Frau wird alleine sterben ...«
Paul unterbrach ihn mit schneidender Stimme: »Warten Sie unten auf mich. Gehen Sie!«
Als Thal die Wohnung verließ, streckte Paul die Hand aus, um Michael aufzuhelfen, doch der wandte sich trotzig von ihm ab.
»Mike, ich kann nichts tun«, sagte Paul. »Gesetz ist Gesetz.
Ich kann nicht meinen Kopf für dich hinhalten. Auch ich trage Verantwortung.«
Paul sorgte sich um seinen Freund, aber er hatte eine Frau und Kinder. Er durfte nicht zulassen, dass deren Leben zerstört wurde. Selbst wenn er seine moralischen Bedenken dieses eine Mal für seinen Freund hätte über Bord werfen wollen – es wäre nicht möglich gewesen. Denn auch Thal wusste, dass Michael gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Und es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Thal sie beide anzeigen würde, um dann seinen billigen Triumph zu genießen.
»Marys Krankheit hat dir den Verstand geraubt, Mike. Ich werde es dem Richter erklären. Er wird es berücksichtigen. Tut mir leid.«
»Du hast keine Ahnung, was du getan hast«, sagte Michael mit eisiger Stimme, die Paul durch Mark und Bein ging. Dann wischte er sich das Blut von der Nase und wandte sich ab.
Paul stand regungslos da und starrte Michael stumm an. Schließlich ging er hinaus, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Mary schlief tief und fest in Michaels Armen. Er war in ihr Krankenhausbett gekrochen, um sie zu trösten. Doch auch er selbst suchte Trost und sehnte sich nach ihrer Berührung. Er wusste noch nicht, wie er es ihr beibringen sollte, dass er schon wieder fortmusste. Wie sollte man der Frau, die man liebte, erklären, dass man sie im Stich ließ ?
Er hatte die elektronische Fußfessel unter der Socke versteckt und eine weite Hose angezogen, damit es nicht auffiel. Das graue Kästchen war kaum größer als eine Zigarettenschachtel. Die Fußfessel scheuerte bei jedem Schritt gegen seine Haut, sodass er ständig daran erinnert wurde. Wenigstens durfte er Mary jederzeit besuchen, solange er sich abmeldete. Und genau das hatte er getan, ehe er das Haus verließ.
»Elektronische Überwachung«, hatte die Polizeibeamtin sich am Telefon gemeldet.
»St. Pierre.« Michael hatte von ihrer Wohnung aus angerufen. »Ich möchte meine Frau im Krankenhaus besuchen.«
»In Ordnung, Mr. St. Pierre. Ich muss Sie aber darauf aufmerksam machen, dass Sie uns in Kenntnis setzen müssen, sobald Sie im Krankenhaus sind.«
Die Abteilung für Bewährungshäftlinge würde jeden seiner Schritte in der Stadt überwachen. Sobald er das Haus verließ, musste er sich stündlich melden. Wenn der Chip entfernt oder beschädigt wurde oder er sich außerhalb der Stadtgrenzen bewegte, würde er sofort hinter Gitter wandern, weil eiserne Auflagen nicht erfüllt hatte. Was würde passieren, wenn seine Bewacher feststellten, dass er in ein Flugzeug stieg und das Land verließ?
Als Michael im Krankenhaus eintraf, kam Mary gerade von der Bestrahlung. Sie hatten gemeinsam entschieden, die Behandlung fortzusetzen. Vielleicht konnten sie noch ein wenig Zeit herausschlagen. Außerdem konnte man nie wissen, ob nicht doch noch ein Wunder geschah.
Mary konnte Michael ansehen, dass ihn irgendetwas bedrückte.
»Du hast doch was, Michael. Ich sehe es in deinen Augen. Was immer es ist, so schlimm kann es nicht sein.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »In Anbetracht der Lage.«
»Ich muss noch einmal wegfahren«, sagte Michael leise und senkte beschämt den Kopf. Es fiel ihm wahnsinnig schwer, es Mary zu sagen. »Es ist nur für ein paar Tage...«
»Und das macht dir Sorgen?« Mary hätte beinahe gelacht. »Ich komme schon klar. Mach dir wegen mir keine Sorgen.
Die Leute hier kümmern sich hervorragend um mich.« Sie ergriff seine Hand. »Hauptsache, du kommst zu mir zurück.«
»Das werde ich.« Michael war erleichtert. Er würde zurückkommen.
»Ich weiß.«
Als Mary ihn küsste, spürte Michael, dass sie zitterte. Er zog seine Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern. Mary zog die Jacke straff um ihren Körper, genoss die Wärme und atmete seinen Geruch ein. Sie trug gerne seine Hemden und Jacken, denn sie verliehen ihr ein Gefühl der Sicherheit.
Es sah so aus, als hätte Marys Zustand sich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden verschlechtert. Offenbar hatte das Wissen um ihre Prognose das Fortschreiten der Krankheit beschleunigt.
»Es ist nur für ein paar Tage«, sagte Michael und merkte erst jetzt, dass Mary eingeschlafen war. Leise fuhr er fort. »Ich brauche dich so sehr. Ich dachte, ich könnte dich retten ... Und ich habe so viel falsch gemacht. Ich muss das geradebiegen ...« Er strich ihr über die Stirn. »Ich bitte dich, mir zu vertrauen.«
Jetzt regte sie sich und drückte seine Hand, ohne die Augen zu öffnen. Sie stupste die Nase in seinen Nacken, schlang die Arme um ihn und flüsterte: »Das habe ich immer getan.«