47.
Jeannie Busch hielt Wache. Das monotone Surren des Beatmungsgeräts und der sterile Krankenhausgeruch hatten vor zwei Stunden einen ihrer schlimmsten Migräneanfälle ausgelöst. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten das kleine Zimmer in orangerotes Licht. Jeannie war dankbar für jeden Farbtupfer, nachdem sie so lange auf das antiseptische Weiß der Intensivstation geblickt hatte.
Mary schlief. Sie hatte starke Medikamente bekommen, die ihre Schmerzen linderten und sie ruhigstellten. Ihr Gesicht war kalkweiß und aufgedunsen. Das glanzlose Haar erinnerte nur noch schwach an ihre ehemals prächtige Mähne. Mary ging es zusehends schlechter. Die Ärzte wussten nicht, wie lange sie noch zu leben hatte, aber viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Jeannie kannte Marys größte Sorge. Sie hatte wahnsinnige Angst, allein zu sterben. Doch Jeannie hatte die Kinder zu ihrer Schwester gebracht, und sie würde bei Mary bleiben, bis Michael zurückkehrte.
Sie hatte in dem Hotel angerufen, das Paul ihr genannt hatte. Ihre Angst nahm zu, als sie mit einem neugierigen Polizisten verbunden wurde, der sie mit Fragen bombardierte und etwas von einer Schießerei und von Toten erzählte. Ob sie wisse, wohin ihr Mann gefahren sei? Ob sie ihm sagen könne, mit wem er unterwegs sei?
Die Fragen hatten Jeannie eine solche Angst eingejagt, dass sie einfach aufgelegt hatte. Die Männer hätten längst zurück sein müssen. Das hatte Paul jedenfalls gesagt. Es würde ganz schnell gehen–versprochen. Als Frau eines Polizisten kannte sie dieses Leben nur zu gut. Sie versuchte, die Gedanken zu verdrängen. Mary brauchte sie jetzt.
Marys Herz schlug schneller, und das Piepen des Herzmonitors beschleunigte sich. Sie wurde unruhig. Ihre Beine zuckten, und sie presste den Kopf in die Kissen. Jeannie sah, dass Marys Augen sich bewegten. Mary träumte. Sie begann zu stöhnen und stammelte wirres Zeug. Auf ihrer Stirn schimmerten Schweißperlen.
Mary hatte einen Albtraum. Und Jeannie kannte diese Albträume nur zu gut. Mary hatte ihr oft davon erzählt. Sie drehten sich immer um Michael und ihre Angst, dass er rückfällig wurde und mit seinem Leben dafür bezahlte, während Mary hilflos zuschauen musste. Diese Albträume konnte sie nur abschütteln, wenn sie aus dem Bett sprang und in die Realität zurückkehrte.
Jeannie beugte sich mit einem feuchten Waschlappen über das Bett und tupfte Marys Stirn ab. »Pssst«, flüsterte sie. »Ich bin bei dir.« Sie verfluchte die Medikamente, die ihre Freundin in die Welt ihrer Albträume einsperrten.
Marys Körper erstarrte. Jeannie nahm behutsam ihre Hand. Sie fühlte sich schrecklich hilflos. Sie konnte nichts tun, um das Leiden ihrer Freundin zu lindern. Mary warf den Kopf hin und her, als wollte sie die quälenden Gedanken abschütteln. Sie war in einem Reich des Schreckens gefangen, aus dem sie nicht entfliehen konnte. Und Jeannie musste hilflos zusehen. Mary hatte ihr erzählt, dass sie den Traum niemals bis zu Ende träumte. Jedes Mal erwachte sie im letzten Augenblick und war dankbar, von dem Irrsinn erlöst zu sein. Doch heute Nacht hatte Mary keine andere Möglichkeit, als den Albtraum bis zum bitteren Ende zu träumen.
Jeannies Leben war seit Jahren eng mit dem von Michael und Mary verknüpft. Jetzt spürte sie, dass auch ihr eigenes Leben – wie das ihrer Freunde – aus den Fugen geriet. Mary lag im Sterben, Michael steckte in Schwierigkeiten, und Paul wurde vermisst. Jeannie hoffte inständig, dass die beiden in Sicherheit waren. Doch irgendwie spürte sie, dass das Schlimmste noch vor ihnen lag – was immer es sein mochte.
Mary wurde immer unruhiger. Ihr Körper verkrampfte sich, und die Betttücher waren schweißgetränkt. Ihr Albtraum erreichte seinen Höhepunkt.
Halt durch, Mary! Jeannie betete, dass alles ein gutes Ende nahm.
Sie rissen die Eingangstür des großen Herrenhauses auf. Irgendwo im Inneren ertönte ein durchdringendes Piepen, das von Sekunde zu Sekunde lauter wurde.
»Wir müssen uns aber beeilen!«, flüsterte Simon drängend.
»Entspannen Sie sich. Ich habe sechzig Sekunden.«
»Achtundfünfzig.«
Michael betrat die Eingangshalle. Alle Lichter waren gelöscht. Es war stockdunkel im Haus. Michael schaltete die Taschenlampe ein, öffnete den Mahagonischrank neben der Tür und zog sein Messer. Nachdem er sämtliche Mäntel aus dem Schrank geworfen hatte, entdeckte er ein weißes Kästchen. Er starrte auf die Anzeige der Alarmanlage. Leuchtend rote Zahlen zählten von fünfundvierzig herunter. Eine Tastatur gab es nicht, nur einen Schlitz für eine Magnetkarte, und die hatte Michael nicht.
»Okay«, sagte er.
»Okay was ?«, rief Simon ihm über die Schulter zu.
Michael seufzte. Er hatte noch achtunddreißig Sekunden. »Floren Sie, das ist...«
»Keine Erklärungen«, unterbrach Simon ihn. Es hätte ihnen gerade noch gefehlt, dass die Polizei auftauchte. Einundzwanzig Leichen konnte man schlecht verstecken und noch schlechter erklären. In Kürze würde es hier von Polizisten wimmeln, und dann gäbe es für sie kein Entkommen mehr.
Michael konzentrierte sich. Er klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne, drehte das Messer nach unten, steckte es in den Spalt hinter der Abdeckung und hebelte sie ab. Dann starrte er auf den Kabelsalat des Sicherheitssystems.
Neunundzwanzig Sekunden.
Das Alarmsignal ertönte jetzt in schnellerer Folge.
Michael zog zwei Kabel mit Krokodilklemmen aus der Tasche. Sein Blick huschte über das Gewirr, ohne dass er ein blaues oder rotes Kabel entdeckte. Das System war verschlüsselt; jede Farbe stand für eine bestimmte Zahl, die dem Code entsprach. Die Chancen, die richtigen Kabel zu finden, standen dreihundertachtzig zu eins. Unglücklicherweise hatten sie nicht viel Zeit. Neunzehn Sekunden. Das Piepen klang jetzt wie ein Trommelwirbel. Verzweifelt starrte Michael auf den Kabelsalat.
»Nicht, dass wir es eilig hätten ...«, meinte Simon nervös.
Neun Sekunden.
Hätte Michael eine Stunde Zeit gehabt, hätte er den Code vielleicht knacken können ...
Dann aber fiel ihm eine Lösung ein. Er suchte die Kabel heraus, die zu der Zeitanzeige führten, und folgte ihnen durch das Gewirr bis zu einem kleinen schwarzen Chip. Er klemmte eine der Krokodilklemmen daran fest.
Fünf Sekunden.
»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Für Simon war die Situation schlimmer, als unter Beschuss zu stehen.
»Doch, jetzt schon.« Michael klemmte die andere Krokodilklemme fest.
Die Anzeige, die gerade noch zwei Sekunden angezeigt hatte, leuchtete auf und zählte nun von zehn Stunden herunter. »Wenn man den Alarm nicht ausschalten kann, muss man die Uhr zurücksetzen«, erklärte Michael dem erleichterten Simon.
Er führte Simon ins Haus. Sie durchquerten die Eingangshalle und gingen an der Bibliothek vorbei. Aus den anderen Zimmern und dem Treppenhaus fiel schwaches Licht. Es reichte aus, um die Umgebung schemenhaft erkennen zu können. Die Taschenlampen brauchten sie also nicht einzuschalten. Michael verschwendete keine Zeit damit, in die einzelnen Zimmer zu schauen. Heute hatte alles eine andere Bedeutung. Bei seinem ersten Besuch hatte er über den unglaublichen Reichtum des Mannes gestaunt, dem das alles gehörte; jetzt empfand er nur noch Abscheu.
Schließlich gelangten sie an die massive alte Holztür. Sie war einen Spalt geöffnet. Michael legte eine Hand auf die große, schwarze Eisenklinke. Das Quietschen der Angeln, als er die Tür öffnete, kam ihm lauter vor als das Heulen eines Alarms. Die Waffe im Anschlag, wirbelte Simon herum, um gewappnet zu sein, falls das Geräusch jemanden anlockte.
Ein unangenehmer, moderiger Geruch stieg aus dem Kellergewölbe auf und schürte Michaels Angst. Simon, der vorausging, hielt seine Pistole in Hüfthöhe, als die Dunkelheit die beiden Männer verschluckte. Sie schalteten ihre Taschenlampen nicht ein, um sich nicht zur Zielscheibe zu machen. Jetzt blieb ihnen allerdings nichts anderes übrig, als siebzig Meter blind über rutschige, von Moos bedeckte Steine in die Tiefe zu steigen. Nur das zersplitterte Geländer wies ihnen den Weg, als sie immer tiefer in die Höhle vordrangen. Eine unheimliche, nicht greifbare Bedrohung hing in der Luft.
Sie erreichten die letzte Stufe und gelangten auf den festen Lehmboden. Das Treppengeländer endete. Einen Augenblick lang verharrten sie orientierungslos an Ort und Stelle und starrten in die pechschwarze Dunkelheit, die sich wie eine Maske über ihre Augen legte. Es stank nach Fäulnis.
»Wie wäre es mit ein bisschen Licht?«, sagte Michael. »Ich...«
Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu führen, denn im nächsten Augenblick riss Simon ihn zu Boden.
Der laute Knall eines Schusses, der in ihren Ohren klingelte, hallte von den feuchten Steinwänden wider. Sie kauerten sich auf den Boden. Ihnen fehlte jegliche Orientierung, und sie hatten nicht die leiseste Ahnung, wo der Söldner war, der auf sie geschossen hatte.
»Ich roll mich nach rechts rüber. Versuchen Sie, den Beschuss auf sich zu lenken«, flüsterte Simon.
»Mit Vergnügen«, raunte Michael.
Simon huschte leise durch die Dunkelheit und ließ Michael allein an diesem Ort zurück, der ihm so schreckliche Albträume bereitet hatte.
Lenken Sie den Beschuss auf sich. Na, großartig.
Michael stieg die Treppe ein paar Stufen hinauf und tastete auf der Suche nach einer Vertiefung über die Wand. Schließlich entdeckte er in zwei Metern Höhe eine Stelle, wo der Mörtel weich geworden war. So leise er konnte, kratzte er an dieser Stelle mit dem Messer ein Loch und steckte die Taschenlampe hinein. Es war derselbe Trick, den er angewandt hatte, als er auf dem Friedhof von Simon verfolgt worden war. Es war alles eine Sache der Perspektive, ein Taschenspielertrick, Magie. Man bekommt nur das zu sehen, was man sehen soll.
Michael duckte sich, streckte den Arm aus und knipste die Taschenlampe ein. Der gebündelte Strahl fiel auf die unzähligen makabren Kunstwerke. Michael duckte sich und wich dem Licht aus, doch ehe er einen Schritt gehen konnte, hallten Schüsse durch die Dunkelheit, fünf in schneller Folge, die aus allen Richtungen zu kommen schienen.
Die Taschenlampe wurde zertrümmert. Dunkelheit breitete sich aus. Die Stille zerrte an Michaels Nerven. Von Simon war nichts zu sehen. Ein Stück entfernt hörte Michael ein leises Kratzen. Er versuchte angestrengt, sich den Grundriss des Kellers in Erinnerung zu rufen, und ging vorsichtig weiter in das Gewölbe hinein. Die Pistole im Anschlag, schlich er in die Richtung der leisen Geräusche. Es klang, als kratzten Nägel über Steine. Bei jedem Schritt hörte Michael ein neues Geräusch in der Dunkelheit. Ein leises Gurgeln erklang dicht vor ihm; es hörte sich an, als versuchte jemand, in einer flachen Pfütze zu atmen. Michael ging hastig in die Hocke. Die Waffe vorgestreckt, tastete er sich durch die Dunkelheit. Dann stieß er mit dem Lauf der Glock gegen etwas Weiches, Zerbrechliches. Flache, schwache Atemzüge waren zu vernehmen. Michael ertastete einen Kopf und legte die Waffe auf den Boden. Seine Finger strichen über dünnes, brüchiges Haar und papierdünne Haut...
Als Michael eine Hand auf der Schulter spürte, zuckte er zusammen. Simon knipste seine Taschenlampe ein und sah Michael neben einem Mann kauern, der weit über neunzig war.
Michael hob den Blick. »Er ist nur ein alter Mann.«
Simon ließ die Pistole sinken. »Wer ist das?«
»Charles, Finsters Butler«, erwiderte Michael, als der alte Mann seinen letzten Atemzug getan hatte.
Simon beugte sich über den Leichnam, segnete ihn und sprach schnell ein Gebet für den Toten. Michael entging die Ironie nicht, dass Simon den Mann, den er soeben erschossen hatte, mit den Sterbesakramenten versah.
Sie entfernten sich von dem Leichnam und drangen tiefer in die Galerie ein. Überall waren lange Schatten, und starker Verwesungsgeruch hing in der Luft. Als Simon den Lichtstrahl durch das Kellergewölbe gleiten ließ und auf die Bilder starrte, bekam er einen Schreck. Er sah Bilder, die Schmerz und Tod verherrlichten: eine Mutter, die ihr blutüberströmtes Kind in den Armen hielt und vor Leid schrie... ein Kriegsherr, der Männern, die sich ergeben hatten und vor ihm kauerten, die Bäuche aufschlitzte... verwesende Leichen... Seelen, die nach Erlösung schrien ... die Menschheit, grausam dem Bösen unterworfen.
Es waren Tausende von Kunstwerken, und eines war entsetzlicher als das andere. Man hätte meinen können, die Hölle betreten zu haben.
Simon kam der Gedanke, diese Scheußlichkeiten zu zerstören, ehe sie die Höhle verließen. Das hier war keine Kunst. Es war schlimmer als alles, was er je gesehen hatte. Niemand durfte jemals wieder auf diese Sammlung blicken. Diese grässlichen Werke waren von Menschen erschaffen worden, nicht von Göttern oder dem Teufel. Es waren Werke von Künstlern, die von Gedanken besessen waren, die Simon niemals begreifen würde.
»Beeilung!«, rief Michael, der sich den Weg durch die Galerie bahnte. Er warf einen raschen Blick auf das Licht, das über die Wände huschte. Die von einer Rostschicht überzogenen dunklen Steine erweckten den Eindruck, als würde Blut über die Wände fließen. Die Stalaktiten, die an der Decke kaum zu erkennen waren, schienen jeden Augenblick auf sie herabzustürzen und sie zu erschlagen. »Ich bleibe keine Sekunde länger hier als nötig.«
Simon riss sich von den makabren Kunstwerken los und folgte Michael. Doch das letzte Gemälde der Sammlung, das neben der Tür vor einem Stapel anderer Bilder stand, zog seinen Blick magisch an. Das über einen Meter hohe und ebenso breite Gemälde stach aus den anderen hervor. Es passte nicht hierher. Es war der einzige Lichtblick in dieser Dunkelheit – eine wunderschöne Darstellung der Himmelspforte.
Simon blickte ehrfurchtsvoll auf das Gemälde. Es erinnerte ihn daran, dass es immer Hoffnung gab, und wenn die Situation noch so aussichtslos schien. Und es erinnerte ihn ...
Finster ging es nicht darum, hier und da eine Seele zu erobern. Er wollte sie alle! Er wollte das Land, aus dem er vor Anbeginn der Zeit verstoßen worden war ...
Simon, von grenzenloser Wut erfüllt, konzentrierte sich auf seine Mission und lief den Gang hinunter.
Michael stand vor der Tür jenes Raumes, in dem die Schlüssel aufbewahrt wurden. Das schwarze Ebenholz war auf Hochglanz poliert. Die Tür war knapp eins achtzig hoch, und der niedrige Sturz zwang die Männer, sich zu ducken. Michael machte kurzen Prozess mit dem alten Schloss und zog an dem verrosteten Eisenring. Als er die knarrende Tür öffnete, richtete Simon den Lichtstrahl in den Raum.
Auf dem Steinsockel in der Mitte der kleinen Krypta lagen die beiden Schlüssel auf einem blutroten Kissen. Sie sahen so schlicht und harmlos aus wie an dem Tag, als Michael sie gestohlen hatte. Das schlichte, geschnitzte Holzkästchen, in dem die Schlüssel gelegen hatten, stand auf einem Steinregal neben Hunderten von Kerzen. Sie waren fast alle abgebrannt.
In Michael keimte neue Hoffnung auf. Jetzt hatte er die Chance, das Unrecht, das seine Frau in so große Gefahr gebracht hatte, wiedergutzumachen.
Die beiden Männer stellten sich neben den Sockel. Der Raum war so klein, dass sie mit ihrem Rücken fast die Wände berührten. Michael betrachtete den Sockel, strich auf der Suche nach einer Alarmanlage oder einer Falle mit den Fingerspitzen über den steinernen Fuß und die Holzsäule und griff dann unter das rote Kissen. Alles schien in Ordnung zu sein. Als er sich aufrichtete, sah er irgendetwas blinken. Er schaute zu Simon hinüber und dann auf das Handy an seinem Gürtel. Die kleine grüne Anzeige blinkte. Er klappte das Handy auf und schaute auf das Display:
1 neue Nachricht, 19 verpasste Anrufe. Keine Verbindung.
Paul war der Einzige, der diese Nummer hatte.
Selbst siebzig Meter unter der Erde hörten die Männer das laute Donnern und Grollen in diesem düsteren Gewölbe. Eine gewaltige Erschütterung war zu spüren. Schmutz und Steine, die buchstäblich aus der Decke gerissen wurden, krachten auf den Boden und wirbelten eine riesige Staubwolke auf, sodass die Männer kaum noch Luft bekamen.
Die Welt schien unterzugehen.
Die Haustür wurde aus den Angeln gerissen und landete auf der Eingangstreppe. Unter der ungeheuren Wucht des Aufschlags brachen die Stufen zusammen; nur ein Berg zersplittertes Holz blieb zurück. Geifernd vor Wut stürmte Finster durchs Haus. Es sah aus, als ginge ihm eine unsichtbare Welle aus reiner Kraft voraus. Die Holzwände bebten und dehnten sich rings um ihn, als wären sie aus Gummi. Gemälde fielen polternd auf den Boden; Statuen stürzten um. Alles, was Finster im Weg stand, wurde zerstört.
Nachdem er fünf Minuten im Rettungswagen gelegen hatte, war er wieder zur Besinnung gekommen. Noch nie war er auf so schändliche Weise hereingelegt worden. Seine Feinde hatten leichtes Spiel mit ihm gehabt, weil er seiner Wollust, Eitelkeit und Habgier erlegen war. Er schwor, dass so etwas nie wieder passieren würde. Schockiert hatte der Sanitäter beobachtet, wie Finster die Gurte der Trage abriss, die Hecktür aufstieß und aus dem Rettungswagen sprang, während der noch über die Autobahn raste. Sein Chauffeur, der auf alles vorbereitet war, hatte den Rettungswagen verfolgt; nun beobachtete er lächelnd, wie Finster auf die Straße flog und sich mehrmals überschlug. In letzter Sekunde gelang es dem Fahrer auszuweichen. Dann raste er neben dem Rettungswagen her, drängte ihn an den Straßenrand und rammte ihn von der Seite. Die beiden Männer im Rettungswagen waren vor Entsetzen wie erstarrt. Währenddessen rappelte Finster sich auf, klopfte sich den Staub von der Kleidung und beobachtete, wie sein Chauffeur die beiden Männer im Rettungswagen erschoss. Die Sanitäter starben mit unbeantworteten Fragen über ihren letzten Transport.
Als die Limousine durch das Tor des Anwesens raste und es aus seiner Verankerung in der Steinmauer riss, sah Finster die ersten beiden Opfer aus seiner kleinen Söldnerarmee. Er hatte Michael und den Priester offensichtlich unterschätzt. Die vielen Jahre als erfolgreicher Geschäftsmann hatten ihn vergessen lassen, dass ein Mensch, der dem Tod ins Auge blickt, über sich hinauswächst – und den noch stärkeren Willen eines Menschen, der versucht, diejenigen zu retten, die er liebt.
Als die Limousine das Ende der Auffahrt erreichte, sah Finster überall tote Söldner liegen. Alles war voller Blut und Zerstörung. Mit jedem Schritt, den Finster sich dem Haus näherte, geriet er stärker in Rage. Als er schließlich durch die Eingangstür stürmte und sie dabei zerschmetterte, explodierte er förmlich vor Wut.
Sekunden später stand er vor der Kellertür und riss sie aus den Angeln. Er rannte die Stufen hinunter. Licht brauchte er nicht. Er kannte den Weg im Schlaf. Er war hier zu Hause.
In der Galerie angelangt, schaute er sich aufmerksam um und schnüffelte in der Luft. Er roch etwas zu seiner Rechten hinter dem Stapel russischer Kriegsbilder, achtete aber nicht darauf, sondern ging weiter. Er liebte die Jagd, liebte es, die Beute zu suchen, aufzuscheuchen und mit ihr zu spielen, ihr den Eindruck zu vermitteln, sie wäre cleverer und könnte den Jäger täuschen, obwohl sie in Wahrheit hilflos in der Falle saß.
Er setzte den Weg durch die Dunkelheit fort. Ehe er die Tür zur Schlüsselkammer erreichte, kam er am Gemälde der Himmelspforte vorbei. Seine Motivation. Dieses Bild hatte ihn angetrieben und ihm geholfen, sein Ziel niemals aus den Augen zu verlieren. Wie ein Häftling, der sich ein schönes Landschaftsbild an die Zellenwand klebt, um immer an die Freiheit erinnert zu werden. Das Bild war für Finster ein Ansporn, und es verlieh ihm Hoffnung. Niemand würde ihm dieses Bild wegnehmen. Jeder, der es wagte, würde einen schrecklichen Preis bezahlen.
Er nahm den verrosteten Eisenring in seine kalte Hand und zog fest daran, worauf die schwarze Tür sich knarrend öffnete. Der Raum begann zu beben, und die Luft war plötzlich elektrisch aufgeladen. Blaue Funken sprühten aus der Dunkelheit. Statuen wackelten, und Bilder fielen krachend auf den Boden. Der scheinbar leblose Raum wurde lebendig, bis schließlich das Chaos ausbrach. Aus der Dunkelheit stiegen zwei Menschen auf: Simon und Michael. Von einem unsichtbaren Wind wurden sie nach oben getrieben, höher und höher, bis sie gegen die Decke prallten, wo sie den messerscharfen Stalaktiten gefährlich nahe kamen. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen wurden die beiden Männer gegen die Decke gepresst, als gehorchte die Schwerkraft plötzlich anderen Gesetzen. Dann wurden ihnen die Waffen und Messer entrissen und fielen in die Tiefe.
»Warum?«, brüllte Finster. »Haben Sie wirklich geglaubt, Sie könnten mich besiegen?« Er schaute nach oben, streckte die Arme aus und bewegte die beiden Männer wie hilflose Marionetten an unsichtbaren Fäden.
Michael, der bis jetzt noch immer Zweifel an der wahren Identität seines Auftraggebers gehabt hatte, verspürte nur noch wahnsinnige Angst. Fackeln und Kerzen wurden wie von Geisterhand entzündet und erhellten das gesamte Kellergewölbe. Er hatte nicht gewusst, wie abgrundtief krank, wie verderbt, wie pervers die Kunstwerke waren, die Finster hier angesammelt hatte. Es waren mindestens zehn Mal so viele Gemälde und Statuen, wie er bisher gesehen hatte. Alles wurde vom orangeroten Feuerschein der Fackeln beleuchtet. Die Fläche unter ihm schien grenzenlos zu sein. So weit das Auge reichte, sah man nichts als Kunstwerke. Es musste das größte Kellergewölbe sein, das je existiert hatte. Die Decke wogte wie ein aufgewühltes Meer, und die Schatten der Stalaktiten ragten wie die Zähne eines Raubtiers ins Halbdunkel.
Finster lief tief unter ihnen auf und ab. Seine maßgeschneiderte Kleidung war zerfetzt, sein Gesicht grässlich verzerrt. Sogar aus der Entfernung sah Michael, dass seine Augen sich rot gefärbt hatten und bedrohlich im Kerzenschein schimmerten.
»Geben Sie mir, was mir gehört!«, brüllte Finster. »Geben Sie mir meine Schlüssel!«
Simon musste schreckliche Schmerzen haben, nachdem ein Stalaktit eine Seite seines Gesichts aufgeschlitzt hatte. Das Blut fiel wie Regentropfen auf den Boden. Doch in seinen Augen zeigte sich keine Angst, als er gegen die unsichtbare Hand Finsters kämpfte.
»Es sind nicht Ihre Schlüssel«, stieß er hervor.
»Jetzt sind sie es, Priester! Und alles, was dazugehört. Geben Sie mir jetzt die Schlüssel, sonst schneide ich Ihnen das Herz aus der Brust.«
Michaels Gesicht war schmerzverzerrt, als er hervorstieß: »Sie haben ein Versprechen gegeben. Sie haben gesagt, dass Sie niemals Ihr Wort brechen ...«
»Na und?«, zischte Finster.
»Sie haben versprochen, dass niemandem etwas zustößt.«
Finster lächelte hämisch. »Jetzt halten Sie sich wohl für besonders schlau. Was für ein Weitblick!« Er wandte sich Simon zu. »Tut mir leid, aber Sie und ich haben eine solche Abmachung nicht getroffen.« Simon wurde stärker gegen die Decke gedrückt. Ein unsichtbarer Schraubstock presste seinen Brustkorb zusammen und nahm ihm die Luft zum Atmen.
»Geben Sie mir die Schlüssel! Sofort!«, stieß Finster hervor. Den einst so angenehmen Klang seiner Stimme konnte man nur noch erahnen. Er ging weiter, blieb vor der Tür zur Schlüsselkammer stehen und drehte sich um. »Sie haben recht, Michael«, sagte er dann. »Ich habe versprochen, Ihnen keinen Schaden zuzufügen, darum arbeitet er für mich.« Spöttisch fügte er hinzu: »Ich erinnere mich nicht, dass er ein solches Versprechen gegeben hat.«
Finsters Fahrer kam die Treppe hinunter. In der linken Hand hielt er die Pistole, mit der er die Sanitäter im Rettungswagen getötet hatte.
Endlich hatte Dennis Thal die Chance, sich in den Augen seines Herrn und Meisters zu rehabilitieren.
Thal war heute am frühen Abend hierhergekommen. Finster hatte in der Bibliothek gestanden und den Augenblick genossen. Der Milliardär sagte kein Wort, als Thal eintrat, starrte ihn nur düster an, weil Thal offenbar versagt hatte. Thal wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass der Milliardär der Drahtzieher seiner Operationen und die mysteriöse Stimme war, die ihm die Befehle am Telefon erteilt hatte. Finsters Blick schüchterte den Killer so sehr ein, dass dieser sein Versagen nicht zugeben konnte aus Angst, auf der Stelle getötet zu werden. Deshalb sagte Thal das Einzige, was sein Leben verlängern konnte: »Sie sind tot.«
Finsters Miene wurde milder. Das letzte große Hindernis zu seinem Erfolg – Michael St. Pierre und dieser verrückte Priester – waren aus dem Weg geräumt.
Doch Finster war nach wie vor auf Nummer sicher gegangen und hatte versucht, jeden Fehler auszuschließen. Deshalb hatte er sein Haus mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln geschützt. Seine gesamte Privatarmee einschließlich seines Fahrers hatte er für die fortwährende Bewachung der Schlüssel eingesetzt. Aus diesem Grunde hatte er Thal befohlen, ihm an diesem Tag als Chauffeur zur Verfügung zu stehen.
Als Thal die Limousine mit Finster und den kichernden Schönheiten, die es auf das Geld des Milliardärs abgesehen hatten, durch die Nacht fuhr, rechnete er jeden Augenblick mit dem Schuss, der ihm den Schädel zerschmetterte. Aber dieser Schuss kam nicht. Doch Thal glaubte nach wie vor, dass ihm die Lüge, er habe St. Pierre und den Priester getötet, ins Gesicht geschrieben stand. Er war sicher, dass Finster ihn früher oder später entlarven würde. Zwei Stunden lang hatte er vor dem Club gewartet und sich gefragt, wie Finster ihn töten würde, wenn er die Wahrheit erfuhr ...
Als sein Boss auf einer Trage aus dem Club getragen wurde, wurde Thal aus seinen Gedanken gerissen. Er war sofort zur Limousine gerannt und dem Rettungswagen gefolgt. Als Finster dann durch die Hecktür des Rettungswagens auf die Straße stürzte, glaubte Thal, sein Herr und Meister wäre tot. Er rammte den Rettungswagen und übte Rache an den Sanitätern, indem er ihnen eine Kugel in den Kopf schoss. Nach der Tat drehte er sich um und sah, dass Finster von der Straße aufstand und über seine Kleidung strich. Er hatte keinen Kratzer.
In diesem Moment hatte Thal begriffen, dass Finster sehr viel bedeutender und mächtiger war, als er sich jemals hätte vorstellen können.
Thal schaute zu den beiden Männern hinauf, die gegen die Kellerdecke gedrückt wurden. Jetzt wusste er wenigstens, in wessen Auftrag er in den letzten fünf Jahren gearbeitet hatte, doch er hatte nicht die geringste Angst.
»Man wird Ihnen Einhalt gebieten«, rief Simon. Sein Gesicht war purpurrot, seine Nackenmuskeln angespannt. Ein sonderbares Knirschen hallte durch das Kellergewölbe, als würden Simons Knochen brechen. »Sie können nicht...«
»Oh doch, ich kann«, gab Finster zurück, ehe er die Tür zur Schlüsselkammer aufstieß.
»Sie können den Himmel nicht stehlen«, keuchte Simon.
»Das habe ich bereits getan. Und jetzt geben Sie mir endlich meine Schlüssel...«
Finster verstummte mitten im Satz, nachdem die knarrende Tür sich vollständig geöffnet hatte. In dem dunklen Gewölbe flackerten Kerzen. Finster schaute hinein. Das Funkeln auf dem roten Kissen sprang ihm sofort ins Auge. Er legte den Kopf zur Seite und spähte mit einem siegessicheren Lächeln auf das Kissen.
In diesem Augenblick fielen Simon und Michael von der Kellerdecke und stürzten zwei Stockwerke tiefer auf den harten Lehmboden.
Finster starrte wie gebannt auf die Schlüssel. Die Diebe hatten sie ihm noch nicht gestohlen. Er war rechtzeitig eingeschritten, um die Tat zu verhindern. Der Milliardär richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er legte die Hände auf die Schläfen, strich sein langes weißes Haar auf den Rücken und gewann seine frühere Gelassenheit zurück.
»Bringen Sie die Jammerlappen hier raus«, befahl er Thal, ohne sich zu den beiden Männern umzudrehen, die sich ihm widersetzt hatten. »Und machen Sie mit ihnen das, was Sie am besten können«, fügte er triumphierend hinzu.