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Michael saß in einer Imbissstube in der Nähe seiner Wohnung. Die Sonne war längst untergegangen, und er bereitete sich innerlich auf die nächste schlaflose Nacht vor. Auf dem Tisch vor ihm standen zwei Tassen Kaffee, aber er hatte noch keinen Schluck getrunken. Seine Augen waren vom Schlafmangel gerötet. Er war dermaßen erschöpft, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Nervös fingerte er an einer Visitenkarte herum und ließ den Blick durch die Imbissstube schweifen.
Er hatte keine andere Wahl. Das Krankenhaus wollte wissen, wie er die Kosten für die Operation und die nachfolgende Behandlung aufbringen würde. Innerhalb von drei Tagen waren bereits Rechnungen in Höhe von zwanzigtausend Dollar angefallen – Untersuchungen, Untersuchungen und noch mehr Untersuchungen. Und jedes Mal war die nächste Untersuchung schmerzhafter und teurer als die vorherige. Dr. Rhineheart hatte getan, was er konnte, und sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft, doch die Krankenhausverwaltung hatte sich unmissverständlich ausgedrückt: Wenn Michael die Behandlung nicht bezahlen konnte, musste Mary die Station verlassen.
Michael war in einer verzweifelten Situation: Ihr gemeinsames Einkommen reichte bei weitem nicht, um Marys Behandlung zu bezahlen; andererseits lagen ihre Einkünfte zu hoch, um das Armenrecht in Anspruch nehmen zu können. Michael musste jeden anpumpen, den er kannte. Paul würde ihm die fünfunddreißigtausend Dollar leihen, sobald er seine Zusatzrentenversicherung aufgelöst hatte. So peinlich es Michael war – er würde das Geld nehmen. Er hatte keine andere Wahl. Zum Teufel mit seinem Stolz. Nur stand das Geld leider erst in drei Wochen zur Verfügung, und auch dann würde es nicht annähernd reichen, um die Kosten zu decken.
Und gestern hatte Michael noch einen demütigenden Schlag eingesteckt. Die Kirchengemeinde war die letzte Adresse gewesen, an die er sich hatte wenden können, nachdem alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Er hatte Pater Shaunessy und dem Gemeinderat seine Probleme dargelegt: Wenn sie ihm nicht halfen, würde Mary sterben.
Shaunessy und der Gemeinderat hatten ihm voller Mitgefühl gelauscht. Und dann hatte die Kirche, an die Mary so fest glaubte, ganz einfach Nein gesagt. »Uns fehlen die Mittel, um unsere Gemeindemitglieder zu unterstützen«, hatte es geheißen. Sie würden Mary aber gerne in der Sonntagsmesse erwähnen, damit jeder für sie beten könne.
Und nun saß Michael in der Imbissstube, rührte seinen kalt gewordenen Kaffee um und starrte auf die anderen drei Gäste. Sie saßen auf der gegenüberliegenden Seite der Imbissstube und lachten über irgendeinen Witz. Michael schaute zu ihnen hinüber und wünschte sich, er hätte solchen Augenblicken der Fröhlichkeit in seinem Leben mehr Beachtung geschenkt – diese kostbare Zeit, als das Leben noch unbeschwert gewesen war und er noch nicht geahnt hatte, dass die Diagnose eines Arztes sein Glück von einem Augenblick auf den anderen zerstören würde. Hätte er diese Zeit doch intensiver ausgekostet!
Michael wünschte sich, das Rad der Zeit zurückdrehen zu können. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er unbeschwert gewesen war; dabei lag es noch keine Woche zurück. Vor fünf Tagen erst war er mit Mary auf Pauls Party gewesen, hatte sorglos gefeiert und nicht geahnt, was ihn erwartete.
Michael wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als wie aus dem Nichts plötzlich ein Mann vor ihm stand. Es war Finster. Er trug einen tadellos sitzenden Sportmantel und hatte sein weißes Haar wie damals zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als er sich setzte, sah Michael, dass Finster älter war, als er es bei ihrer ersten Begegnung in seinem Laden geschätzt hatte. Man konnte es in seinen Augen sehen: Sie waren kalt und hart, als hätte er sehr viel durchgemacht.
»Das mit Ihrer Frau tut mir leid«, murmelte der Deutsche mit aufrichtigem Mitgefühl.
»Danke...« Michael zögerte einen Moment. Es kostete ihn Überwindung, die Frage zu stellen. »Sie wollten mit mir sprechen?«
»Ja. Ich weiß, dass Sie nicht mehr im Geschäft sind, und ich weiß auch von Ihren Problemen.« Finster lehnte sich zurück. »Wir müssen nicht jetzt darüber reden. Vielleicht später, wenn es Ihnen besser geht.«
»Nein, ist schon in Ordnung.«
»Also gut. Aber wenn Sie nicht interessiert sind, verstehe ich das, und wir trennen uns als Freunde.«
Michael musterte Finster neugierig. Wer war dieser rätselhafte Mann? Und was wollte er?
»Ich bin bereit«, fuhr der Deutsche fort, »sämtliche anfallenden Kosten für die Behandlung Ihrer Frau zu tragen, egal wie hoch sie sind.«
»Und was muss ich dafür tun?«, fragte Michael misstrauisch. Er ahnte, dass es um eine große Sache ging. Die zweihundertfünfzigtausend Dollar für Marys Behandlung waren die Gefahrenzulage.
»Es geht um zwei Gegenstände, die ich unbedingt haben muss. Beide werden in einem Gebäude mit geringen Sicherheitsstandards aufbewahrt. Keine bewaffneten Wachen, einfacher Zugang...«
»Ich bin auf Bewährung frei«, unterbrach Michael ihn.
»Keine Bange. Die Sache steigt in Europa. Sie würden Ihre Bewährungsauflagen hier nicht verletzen.«
»Mag sein. Aber ich habe meiner Frau versprochen, ein ehrliches Leben zu führen.«
Finster beugte sich vor und stützte die Arme auf den Tisch. »Ihre Situation hat sich dramatisch geändert. Das Leben Ihrer Frau hängt an einem seidenen Faden. Hätten Sie ihr ein solches Versprechen gegeben, wenn Sie gewusst hätten, dass es um Leben und Tod geht?«
Finster hatte recht. Michael hätte Mary dieses Versprechen niemals gegeben, hätte er gewusst, dass es irgendwann einmal ihr Überleben gefährden würde.
»Ich brauche Details«, sagte er und trank einen Schluck kalten Kaffee.
»Noch nicht. Denken Sie über die Sache nach. Ich muss mich auf sie verlassen können und brauche Ihre feste Zusage. Wenn Sie sich entscheiden, den Job anzunehmen, erfahren Sie alle Einzelheiten. Doch wenn Sie erst einmal mit im Boot sind ...« Finster ließ den Satz unbeendet.
Michael wusste auch so, dass es kein Zurück mehr für ihn gab, sollte er in die Sache einsteigen. »Keine Bange«, sagte er. »Wenn ich etwas anfange, führe ich es auch zu Ende.«
»Gut. Da ist noch eine Sache. Vielleicht ist sie wichtig, vielleicht auch nicht. Dieser Job könnte Sie in einen Glaubenskonflikt stürzen.« Es war eine eher beiläufige Warnung, aber dennoch eine Warnung.
»Wie meinen Sie das?« »Die Sache steigt in einer Kirche.«
»Na und?« Michael lehnte sich zurück. »Ich glaube nicht an Gott. Sie ?«
Finster schien über Michaels Bemerkung und seinen mangelnden Glauben bestürzt zu sein. »Oh ja, aus tiefster Überzeugung«, sagte er. »Nach allem, was ich gesehen habe ...« Er hielt kurz inne. »Für mich gibt es keinen Zweifel an der Existenz Gottes.«
Die Kellnerin kam an den Tisch und füllte den Männern die Tassen nach. Dabei lächelte sie den Deutschen an.
Finster nickte ihr zu. »Danke.«
Die Frau strich ihr Haar schüchtern aus dem Gesicht und ging davon.
»Denken Sie über mein Angebot nach.« Finster stand auf und warf ein paar Münzen für den Kaffee auf den Tisch. »Ich muss mich noch um andere Geschäfte kümmern.«
»Um diese Uhrzeit ?«
»Sie kennen doch die Redensart, dass die Erschöpften nicht zur Ruhe kommen.«
»Sie meinen die Gottlosen?«
Finster schenkte Michael ein freundliches Lächeln und schüttelte ihm die Hand. »Ich hoffe, Sie treffen die richtige Entscheidung, Michael.«
Hawk flitzte zur Tür, als die Klinke sich bewegte. Kaum hatte Michael die Wohnung betreten, sprang der Hund ihn an, winselte und leckte ihm übers Gesicht. Meistens hockte Michael sich auf den Boden und genoss die bedingungslose Liebe des Hundes, doch heute klopfte er Hawk nur kurz aufs Fell, ging in sein Arbeitszimmer und nahm einen großen Briefumschlag aus der mittleren Schublade seines Schreibtisches. Er öffnete ihn, zog mehrere Papiere heraus, verteilte sie auf der Schreibtischunterlage und las zum wohl tausendsten Mal:
Nachdem Michael Edward St. Pierre drei Jahre, fünf Monate und zweiundzwanzig Tage seiner zehnjährigen Haftstrafe wegen schweren Diebstahls, Besitz von Diebesgut und Einbruchs verbüßt hat, wird die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. Der Bewährungsausschuss des Staates New York hat diese Entscheidung aufgrund der Tatsache getroffen, dass Mr. St. Pierre erfolgreich rehabilitiert wurde und seine vom Staat New York verhängten Haftauflagen erfüllt hat.
BEWÄHRUNG STATTGEGEBEN war mit dicker roter Tinte auf das Dokument gestempelt.
Der Anruf vor fünfeinhalb Jahren war mitten in der Nacht gekommen.
Beim dritten Klingeln streckte Mary sich bis zum Bettrand und meldete sich mit verschlafener Stimme. Und dann erlebte sie den Schock ihres Lebens: Michael war in Polizeigewahrsam genommen worden und wurde verdächtigt, Verbrechen begangen zu haben, deren Mary ihn niemals für fähig gehalten hätte. Doch wie es aussah, hatte Michael sie getäuscht und sein wahres Leben vor ihr verheimlicht.
Zwei New Yorker Polizisten hatten Michael im Central Park erwischt, als er die Mauer zu überklettern versuchte. Er hätte es wahrscheinlich geschafft, hatte durch eine Schulterwunde aber zu viel Blut verloren. Die beiden Cops gingen nicht gerade sanft mit ihm um, stießen ihn gegen die Granitmauer, legten ihm Handschellen an und verhafteten ihn, ehe er auch nur ein Wort zu seiner Verteidigung sagen konnte. Michael konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Die Frau lag nackt und blutverschmiert auf der Straße, verwirrt und nicht ansprechbar. Die Cops wussten nicht, dass das Blut auf ihrem Körper von Michaels Schusswunde stammte. Sie glaubten, dass es sich um eine brutale Vergewaltigung handelte, und dementsprechend behandelten sie ihn.
Erst als die Frau nach zwei Tagen vernehmungsfähig war, wurde Michael vom Vorwurf der Vergewaltigung entlastet. Die Frau sagte aus, Michael sei unschuldig und habe ihr das Leben gerettet.
Doch schon drohte Michael neues Ungemach.
Botschafter Ruskot kehrte in die USA zurück und behauptete, er habe die Diamanten im Wert von dreißig Millionen Dollar, die man in Michaels Rucksack gefunden hatte, nie zuvor gesehen. In Wahrheit konnte Ruskot sich die Fragen nach der Herkunft der Diamanten und den Skandal nicht leisten. Getrieben von dem Wunsch nach Rache, drängte er den Staatsanwalt, den Dieb zur Höchststrafe zu verurteilen; schließlich habe er die Souveränität des Staates Akbikestan verletzt, indem er das mit Juwelen besetzte Kreuz gestohlen hatte, das einen unvorstellbaren kulturellen Wert für das Land habe. Aus diesem Grunde betrachte er, Ruskot, das Verbrechen als persönlichen Affront gegen seinen tiefen religiösen Glauben.
In Wahrheit hatte Ruskot das Kreuz vor Jahren zu einem lächerlich geringen Preis hinter dem Eisernen Vorhang gekauft. Er war nur noch nicht dazu gekommen, es mit Gewinn zu verscherbeln.
Das amerikanische Außenministerium war sehr wohl über die »Nebentätigkeit« von Botschafter Ruskot im Bilde, war aber machtlos. Stattdessen drängte es den Staatsanwalt, für eine Verurteilung Michaels zu sorgen, denn die Beziehungen zu Akbikestan waren gespannt, und die Vereinigten Staaten mussten ein Zeichen für ihren guten Willen setzen, indem sie die Interessen ihres ausländischen »Freundes« schützten.
Teilnahmslos verfolgte Mary die Gerichtsverhandlung in dem Glauben, Michael habe sich tatsächlich der Verbrechen schuldig gemacht, die man ihm vorwarf. Seinem Anwalt hatte sie gesagt, sie werde während der Verhandlung die pflichtgetreue Ehefrau spielen, sich anschließend aber von Michael trennen.
Drei Tage lang wurde Michael mit Handschellen in den Gerichtssaal gebracht und wieder hinausgeführt. Jedes Mal warf er Mary verzweifelte Blicke zu, doch sie schenkte ihm nicht die geringste Beachtung.
Michael konnte sich nicht rechtfertigen. Sein Anwalt war ein Grünschnabel, der erst seinen dritten Fall verhandelte. Er versuchte, zu Michaels Gunsten anzuführen, dass er Helen Staten das Leben gerettet habe, nur gab es leider keine Zeugen. Und Helen selbst – die blonde Vorzeigefrau von James Staten, einem fünfundsiebzig Jahre alten Industriellen – hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und stammelte nur wirres Zeug. Wahrscheinlich hatte sie die Vergewaltigung völlig verdrängt. Zu allem Überfluss war James Staten zwei Tage nach dem Einbruch verstorben.
Es gab niemanden, der zu Michaels Gunsten aussagen konnte.
Eine Stunde nachdem die Geschworenen sich zurückgezogen hatten, wurde Michael schuldig gesprochen.
Der Staat konfiszierte das Sommerhaus der St. Pierres in Bedford, Michaels und Marys Konten sowie sämtliche Vermögenswerte, die sie besaßen, um die Gerichtskosten und die Geldstrafe von dreihunderttausend Dollar zu begleichen. Da es keine Beweise für eine legale Beschäftigung Michaels gab – eine Steuererklärung oder Ähnliches –, versuchte der Ankläger, Michaels Vermögen mit anderen Diebstählen in Verbindung zu bringen, doch es gelang ihm nicht. Zum Glück hatte Michael bis zu dieser schicksalhaften Nacht niemals eine Spur hinterlassen.
Das berüchtigte Staatsgefängnis Sing-Sing sollte für die nächsten dreieinhalb Jahre Michaels Zuhause werden.
Mary erhielt die Scheidungsklage eine Woche nach Ende der Gerichtsverhandlung. Sie rief ihren Anwalt an, der ihr riet, zu unterschreiben. Er würde Michael die Urkunde dann im Gefängnis vorlegen.
Als Mary in ihrer Handtasche nach einem Kuli suchte, entdeckte sie einen Zettel, den Michael ihr zu Beginn der Gerichtsverhandlung hatte zukommen lassen.
Mary,
komme nicht zur Gerichtsverhandlung. Quäl dich nicht damit herum. Die Schande, die ich über dich gebracht habe, ist schlimm genug. Nach allem, was ich dir angetan habe, kann ich nicht erwarten, dass du mir noch vertraust. Lebe dein eigenes Leben. Du wirst einen anderen finden.
M.
Am nächsten Morgen um neun Uhr kam Mary mit den Scheidungsunterlagen ins Gefängnis. Michael erzählte ihr alles und schenkte ihr reinen Wein ein. Mary erfuhr, dass er niemals wirklich ein Beratungsunternehmen gehabt hatte und dass sein Einkommen von früheren Diebstählen stammte. Er gestand ihr, dass er beschlossen habe, seinen Job aufzugeben, nachdem sie sich kennen gelernt hatten. Diesen einen letzten Coup habe er noch durchziehen wollen, denn mit dem Geld hätten sie den Rest ihres Lebens sorgenfrei verbringen können.
Seine offenen Worte berührten Mary. Sie besuchte Michael jeden Samstag, und Michael rief sie jeden Montag und Mittwoch an. Im Laufe der Zeit festigte ihre Beziehung sich wieder. Und Michael schwor, sie nie wieder zu hintergehen, wenn sie bei ihm bliebe.
Als er dreieinhalb Jahre später entlassen wurde, war er ein anderer Mensch geworden. Er eröffnete sein eigenes Geschäft, zahlte brav seine Steuern und bemühte sich, das Vertrauen in ihrer Ehe wiederherzustellen. Am erstaunlichsten war vielleicht, dass er und ein Polizist, Paul Busch, die besten Freunde wurden. Jeannie, Pauls Frau, und Mary waren schon lange befreundet, und von dem Tag an, als Michael entlassen wurde, wuchs auch zwischen ihm und Paul eine Freundschaft, die immer stärker geworden war.
Nun aber musste Michael die Entscheidung treffen, ob er Mary, Paul und alle anderen erneut betrügen sollte oder nicht. Tat er es nicht, war Marys Tod besiegelt. Tat er es, hatte sie noch eine kleine Chance.
Doch wenn er Finsters Angebot annahm, würde Michael nicht nur seine Freundschaft mit Paul zerstören – er würde eine lebenslange Feindschaft besiegeln. Pauls Gesetzestreue würde ihn blind machen gegenüber dem Dilemma, in dem Michael und Mary steckten.
Michael schob die Papiere des Bewährungsausschusses in den Umschlag zurück, legte ihn in die Schublade, ohne sie zu schließen, ging zum Bücherregal und ließ den Blick über die Buchrücken schweifen: Romane und Nachschlagewerke, Bücher über Kunstgeschichte und Archäologie, Esoterik und Magie, Malerei und Fotografie, Elektronik und Sicherheitstechnik.
In der Mitte des Regals standen die Andenken: Muscheln, Plüschtiere, Ansichtskarten. Dinge, die Erinnerungen wachhielten, die Michael und Mary auf ihren Reisen gesammelt hatten. Einige dieser Andenken stammten aus der Zeit, als sie frisch verliebt gewesen waren: alberne Fotos aus Fotoautomaten, selbst gebastelte Katzen aus Gips, eine Karikatur von ihnen beiden, wie sie in der Brandung tanzten. Es waren Erinnerungen an Augenblicke, die sie während ihres gemeinsamen Lebens in Ehren gehalten hatten. Sie wegzuwerfen wäre so, als würden sie ihre Vergangenheit wegwerfen.
Zu den Gegenständen, die ihnen besonders viel bedeuteten, gehörte ein Kruzifix, das sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Es war ein schlichtes Kreuz; Michael konnte sich nicht einmal daran erinnern, wer es ihnen geschenkt hatte. Es war aus unbearbeitetem Holz, auf dem eine Jesusfigur aus billigem Plastik befestigt war.
Ein Kreuz. Das bedeutendste Symbol des christlichen Glaubens.
Als Michael nun an die Ereignisse der letzten Tage dachte, wurde der Anblick des Kreuzes mit einem Mal unerträglich für ihn.
Wohin hatte Gott ihn geführt?
Hierher, in diese schreckliche Situation, in Einsamkeit und Ausweglosigkeit...
Mit diesem Gedanken nahm Michael das Kreuz von der Wand, legte das Symbol seines einstigen Glaubens auf die Papiere des Bewährungsausschusses in der Schublade und schob sie mit einem wütenden Ruck zu.