45.
Paul rannte durch die tanzende Menge, während die Musik ihm in den Ohren dröhnte. Er kam so langsam voran, als würde er durch Schlamm waten. Die Jungen und Hübschen wichen keinen Zentimeter zur Seite. Einige rempelten ihn sogar mit den Hüften oder dem Ellbogen an.
Währenddessen drängte Finster sich zum Ausgang, um diesen düsteren Club zu verlassen und nach Hause zu fahren. Der Milliardär hatte die letzte Nacht in vollen Zügen genossen. All die Wollust und Begierde – er war genauso geworden wie diejenigen, die er manipulierte. Obwohl sein Haus von einer bewaffneten Truppe von einundzwanzig Mann bewacht wurde, wollte er sichergehen. Er war nicht bereit, alles zu verlieren, wofür er gekämpft hatte. Die Schlüssel waren sein Schicksal.
Finster war Paul gegenüber im Vorteil. Er hatte die Tanzfläche verlassen und war nur noch zwanzig Meter von der Tür entfernt. Er hatte Paul zwar aus den Augen verloren, aber der konnte ihm ohnehin nichts anhaben. Noch nie hatte ein Mensch Finster wirklich beunruhigt. Er war von sich und seinen Fähigkeiten grenzenlos überzeugt. Jetzt dachte er ausschließlich an die Schlüssel und daran, wie er verhindern konnte, dass sie dem Dieb und dem Priester in die Hände fielen.
Doch zehn Meter von der Tür entfernt fand er sich plötzlich einer menschlichen Wand gegenüber. Paul stand dort in voller Lebensgröße mit seinen einhundertdreißig Kilogramm. »Aus dem Weg!«, rief Finster mit lauter, greller Stimme, die die Musik durchdrang.
Paul erwiderte nichts. Er starrte den Mann an, vor dem so viele Menschen Ehrfurcht hatten. Den Mann, der Michael so entsetzliche Angst eingejagt hatte.
»Wissen Sie eigentlich, wer ich bin? Ich kann Sie erblinden lassen, ehe Sie auch nur einmal mit den Augen blinzeln.« Finster konnte seine Wut kaum zügeln.
Jetzt sah Paul den Mann endlich richtig – nicht sein Bild, nicht vom Fernsehen gesendete Filme, sondern in Fleisch und Blut. Ihm haftete etwas beängstigend Unnatürliches an. Er hatte eine Ausstrahlung, die ihn wie ein Schutzschirm umgab, an dem alles abprallte. Und als Paul dem Mann in die Augen sah, hatte er das Gefühl, dass sie falsch waren. So etwas hatte er noch nie gesehen. Das waren nicht die Augen eines Menschen. Es waren die Augen des Bösen. Aller Logik zum Trotz glaubte Paul nun, wovon Michael und Simon ihn so eindringlich hatten überzeugen wollen: Dies war die Verkörperung der Dunkelheit.
Doch in diesem Augenblick interessierte ihn das nicht. »Sie können mich nicht erblinden lassen. Nicht hier«, erklärte Paul.
Finster wusste nicht, was er meinte. Er versuchte, an Paul vorbeizukommen, doch der Riese wich keinen Zentimeter zur Seite.
»Sie wissen offenbar nicht, wo Sie sind«, sagte Paul voller Selbstvertrauen.
Finster trat dicht an ihn heran. »Aus dem Weg, bevor ich...«
»Sie stehen auf geweihtem Boden«, unterbrach Paul ihn. Dieser Ort«, er schwenkte den Arm, »war einmal eine Kirche. Geweiht im Namen Gottes. Eine heilige Stätte.«
Finster schaute sich verwundert um und begann vor Wut zu kochen. Der Mann hatte recht – es war eine Kirche. Die fünf Meter hohen bunten Glasfenster stellten die Stationen des Kreuzweges dar. Am hinteren Ende stand auf einem erhöhten Podium ein Marmoraltar, auf dem der DJ jetzt seine Musik auflegte. Die Sitze waren alte Kirchenbänke aus Holz. Der Balkon war die Chorempore. Auch die Form des Raumes trat jetzt deutlich hervor: Es war die eines Kreuzes.
»Ich persönlich finde das zwar ziemlich krank, aber heute dient es meinen Absichten«, sagte Paul und grinste höhnisch.
»Und die wären?« Jetzt trat Finsters Wut offen zutage. Sein Gesicht lief rot an, sein Körper zitterte.
Paul umklammerte den Arm des Mannes und drückte ihn mit aller Kraft, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Damit Sie blind und machtlos hier verweilen.« Finster versuchte, sich aus Pauls Griff zu befreien, doch es gelang ihm nicht. »Sie sind an einem Ort gefangen, den Sie nicht betreten dürfen, und es gibt für Sie keinen Weg hinaus.«
Paul grinste übers ganze Gesicht. Er hatte den Mann besiegt, der als unbesiegbar galt.
Michael kletterte in fünfzehn Metern Höhe durch die Bäume. Er bewegte sich mühelos, doch es erwies sich als schwierig, seinen Standort geheim zu halten. Die Anstrengung, keine Geräusche zu verursachen, erschöpfte ihn. Er nutzte die Dunkelheit und den Lärm der fernen Schüsse, um unbemerkt durch die Baumwipfel zu klettern. Die Wunde an seinem Arm blutete kaum noch. Doch seine Finger waren wund, und seine Füße rutschten immer wieder ab. Er fragte sich, ob es ihm gelingen würde, die Schlüssel in seinen Besitz zu bringen, ehe Finster nach Hause zurückkehrte.
Als Michael Laub knistern hörte, erstarrte er. Unten in der Dunkelheit sah er den Schemen eines Mannes, der in gebückter Haltung von Baum zu Baum huschte. Es war einer von Finsters Söldnern. Michael verkeilte sich geräuschlos in einer Astgabel, zog das Gewehr von der Schulter und richtete es in die Tiefe. Der erste Schuss musste sitzen. Keiner der anderen Söldner durfte seinen Standort erfahren. Wenn er seine Position preisgab, bedeutete das seinen sicheren Tod. Hier oben konnte er nicht ausweichen. Versteckt in den Bäumen in fünfzehn Metern Höhe bot er die perfekte Zielscheibe.
Der Mann blieb unmittelbar unter ihm stehen. Michael atmete tief durch, zielte und drückte ab.
Getroffen stürzte der Söldner zu Boden und lag regungslos da. Michael schaute sich um. »Zwei«, flüsterte er.
Er wartete einen Augenblick und stieg dann vom Baum. Die letzten zwei Meter sprang er und landete neben der Leiche. Er beugte sich hinunter, um den Wachmann zu durchsuchen.
»Keine Bewegung«, sagte jemand.
Michael erstarrte. Er konnte nicht genau erkennen, woher die Stimme kam, aber es musste einer von Finsters Söldnern sein.
»Hände hoch!«
Jemand näherte sich ihm von hinten, riss ihm das Gewehr von der Schulter und schlug ihm mit einem Gewehrkolben auf den Kopf. Michael taumelte einen Schritt vor. »Wie viele?«, knurrte der Söldner.
Michael schwieg, worauf der Söldner ihm einen zweiten Schlag auf den Kopf verpasste.
»Antworte, du Scheißkerl.«
Als der Söldner Michael die Waffe in die Lendenwirbel rammte, sank er auf die Knie. Greller Schmerz durchzuckte seine Nieren, und er rang nach Atem. Er hörte das metallene Schleifgeräusch, als die Waffe durchgeladen wurde. Der Söldner drückte die Gewehrmündung auf Michaels Ohr und stieß ihn auf den Boden. Michael stieg der Duft der Kiefernnadeln in die Nase.
»Ich gebe dir zehn Sekunden«, zischte der Mann.
»Okay.« Michael dachte angestrengt nach. »Ich zeig dir, wo sie sind.«
»Das will ich dir auch geraten haben. Hoch mit dir.«
Michael schaffte es nur mit Mühe aufzustehen. Mit schwankenden Schritten ging er weiter. Er hoffte, dass es die richtige Richtung war. »Da habt ihr hier aber 'ne riesige Operation aufgezogen«, sagte er.
Der Söldner erwiderte nichts.
»Scheint ja eine ganze Armee zu sein«, fuhr Michael fort, während er die Arme in die Luft streckte. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass der Mann ihm in den Rücken schießen würde, wenn er ihm den geringsten Grund lieferte. Sie betraten die Lichtung, auf der Simon Stellung bezogen hatte, aber jetzt war er natürlich verschwunden. Es roch nach Schießpulver. Der Boden war mit Patronenhülsen übersät.
Michael schaute sich um. Er hatte keine Ahnung, wo sein Partner in diesem Chaos geblieben war. Er warf einen Blick auf das dunkle Anwesen und auf das Haus, dessen riesiger Schatten die Sicht auf den Nachthimmel versperrte.
»Weiter.« Der Söldner stieß ihn mit dem Lauf der Waffe in die Richtung des Hauses. Als sie die Auffahrt erreichten, kamen weitere Männer aus der Dunkelheit – fünf Söldner, bis an die Zähne bewaffnet.
»Habt ihr auch einen erwischt?«, rief der Söldner seinen Kameraden zu.
»Nein, Jax«, erwiderte ein Soldat mit kurz geschorenen Haaren. »Meinst du, es war nur einer?«
»Mindestens zwei«, sagte Jax grimmig.
Michael wusste nicht, mit wem Jax sich unterhielt. Es hörte sich aber nicht so an, als hätten sie Simon erwischt. Andererseits war es gut möglich, dass der Priester irgendwo in einer Lache seines eigenen Blutes lag.
»Wo ist der Colonel ?«, fragte Jax.
»Seit dem Feuergefecht hab ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Was hast du mit dem Kerl vor?«, fragte einer der Söldner und zeigte auf Michael.
»Ausquetschen. Wir müssen herausfinden, was er vorhatte, und ihn dann als menschlichen Schild benutzen.« Jax drehte sich zu Michael um. »Was ist so interessant an diesem Haus, dass du es mit einundzwanzig Mann aufnimmst?«
»Es sind doch nicht mehr einundzwanzig, oder?«, erwiderte Michael. Als er mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, bereute er seine spöttische Bemerkung. Er wusste nicht, wer ihm den Schlag verpasst hatte, aber es tat höllisch weh. Michael rollte sich zusammen, als nun von allen Seiten Schläge auf ihn niederprasselten. Die Tritte in die Seite waren noch schlimmer. Er spürte, wie mehrere seiner Rippen brachen. Jeder Atemzug verursachte ihm wahnsinnige Schmerzen. Er hatte den kupfernen Geschmack von Blut auf der Zunge, als er darum kämpfte, bei Bewusstsein zu bleiben. Die lachenden Söldner umringten ihn wie ein Rudel ausgehungerter Hyänen und amüsierten sich auf Kosten ihres hilflosen Opfers. Michael, der kurz davor stand, die Besinnung zu verlieren, begriff dennoch, dass ihre dummen Fragen mehr über sie verrieten, als sie jemals von ihm erfahren würden.
»Wie viele?«
»Für wen arbeitest du ?«
»Was suchst du hier?«
»Warum überfällst du einen friedlichen Geschäftsmann?«
Diese Männer waren offenbar völlig ahnungslos. Sie wussten nichts über Finster; sie hielten ihn für einen superreichen, aber harmlosen Industriellen. Sie hatten keine Ahnung, was sich im Keller des Hauses verbarg.
Michael reckte den Hals und starrte Jax, der die Fragen gestellt hatte, herausfordernd an. Der Söldner hatte ein ausdrucksloses Gesicht, und sein spärliches graues Haar war strähnig und ungepflegt. Seine Augen blickten kalt und erbarmungslos.
Michael hörte Jax noch etwas über ein Seil sagen, an dem man ihn aufknüpfen solle; dann verlor er die Besinnung.