Nachts in New York City
Michael St. Pierre schob das Nachtsichtgerät vor sein linkes Auge, ließ das Sicherungsseil los und setzte seinen Abstieg aus dem fünfzehnten Stock fort. Die dunkle Gasse tief unter ihm, die er in gespenstischen Grüntönen sah, war sein Ziel. Er hütete sich davor, auf die Lichter in der Ferne zu blicken: Jetzt, während der gefährlichen Fassadenkletterei, durfte er auf keinen Fall geblendet werden.
Die Gasse unten war frei bis auf ein paar Müllsäcke und die Ratten, die auf ihren nächtlichen Beutezügen umherhuschten. War Michael erst dort unten, brauchte er nur noch die Straße zu überqueren und über die hohe Granitmauer zu klettern, dann war er im Schutz des nächtlichen Central Parks.
Er hatte nur noch fünfzehn Meter zu klettern, als er in einem Fenster im sechsten Stock eines Nachbargebäudes nackte Haut sah. Das dunkle, anonyme Stadthaus lag ganz in der Nähe der Fifth Avenue. Die Frau lag auf dem Rücken. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, ihr nackter Körper aber war sündhaft schön. Michael sah, wie die Frau sich vor Leidenschaft krümmte, als ein Mann im Blickfeld erschien.
Denk an deinen Job, ermahnte sich Michael.
Seufzend ließ er das Sicherungsseil los und setzte seinen Abstieg fort. Er hatte zu viele Stunden damit verbracht, diesen Coup zu planen, um jetzt ein Scheitern zu riskieren. Wenn er sich an seinen Plan hielt, war er bald in Sicherheit und konnte seine Frau in die Arme schließen.
Trotzdem riskierte Michael noch einen Blick.
Als hätte die Frau seine Gedanken erraten, drehte sie den Kopf plötzlich zum Fenster. Michael bekam einen furchtbaren Schreck, klammerte sich ans Sicherungsseil und hielt den Atem an. Hatte die Frau ihn gesehen ? Nein, das war unmöglich. Er war ganz in Schwarz gekleidet, sodass die Dunkelheit ihn verschluckte.
Dann gefror Michael das Blut in den Adern.
Die Frau schaute ihn gar nicht an! Sie konnte es nicht, denn ihre Augen waren mit einem Tuch verbunden, und in ihrem Mund steckte ein Knebel. Und dass sie sich aufbäumte und sich hin und her warf, war keine Leidenschaft, sondern Todesangst.
Michael schaute genauer hin. Die Frau war mit ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen an einen Tisch gefesselt, und sie litt offensichtlich Schmerzen.
Wut und Entsetzen erfassten Michael. Das Gesicht des Mannes, der neben der nackten Frau stand, lag im Dunkeln, doch die Waffe in seiner Hand war deutlich zu sehen.
Das war nicht irgendein Sexspielchen. Was immer in diesem Zimmer vor sich ging – es geschah gegen den Willen der Frau.
Michael schaute in die Tiefe, wobei der Rucksack auf seinem Rücken ein Stück zur Seite rutschte. Nur noch fünfzehn Meter bis zur Freiheit. Sechs Monate Planung für diesen Coup, der seine Zukunft sichern sollte. Nein, er würde nicht zulassen, dass in letzter Sekunde alles scheiterte. Jetzt war nicht die Zeit, den Helden zu spielen.
Die Frau lag noch immer da und wand sich. Das Nachtsichtgerät verlieh ihrer nackten Haut einen geisterhaften grünen Schimmer. Nach wie vor kämpfte sie gegen die Fesseln an, bäumte sich auf. Michael konnte kein Geräusch hören, wusste aber, dass die Frau zu schreien versuchte, doch der Knebel erstickte jeden Laut.
Sommer in der Upper East Side. Die meisten Leute hatten die Stadt verlassen und waren in die Hamptons, nach Green- wich oder in ihre schmucken Sommerhäuser gefahren, wo sie das Landleben genossen. Bis September blieben ihre Stadtwohnungen leer. Der Geldadel der Stadt reiste in seine Schlösser, um frische Luft zu atmen und die Ruhe zu genießen. Ihre Lehensgüter ließen sie in der Silicon Alley zurück, und ihre Imperien blieben in der Wall Street – eine Konzentration von Reichtum und Macht wie nirgendwo sonst auf der Welt, umschlossen von dreißig Blocks Hochhäusern mit Kalksteinfassaden und schwer bewachten Eingängen.
Zu diesen Hochhäusern zählte die Botschaft von Akbikestan, ursprünglich das Bürohaus von Johan Sebastian Vandervelde, einem Ölbaron, dessen Imperium dem von Rockefeller und Getty Konkurrenz machte. Die Regierung von Akbikestan hatte das Gebäude Anfang der Siebziger Jahre gekauft – nicht wegen der prachtvoll verzierten Fassaden, sondern wegen seiner Robustheit: ein Meter dicke Mauern, massive Türen, kugelsichere Fensterscheiben. Die Vanderveldes kannten ihre Feinde besser als ihre eigene Familie und hatten ihr Heim entsprechend stark gebaut. J.S. Vandervelde hatte diese Festung 1915 errichten lassen – acht Etagen Wohnbereich, sieben Etagen Büros – und war mit seiner Familie aus seiner Villa in Greenwich Village hierhergezogen.
Die akbikischen Botschaftsangestellten wussten, dass sie eher einen Bunker als ein Verwaltungsgebäude brauchten, denn ihr Heimatland galt nicht gerade als Hort der Menschenrechte. Sie hatten Vanderveldes einstiges Heim von Grund auf saniert: Wasserrohre, elektrische Leitungen, Heizungen, Alarmanlagen, Überwachungsmonitore – alles war nagelneu. Wollte man durch die Eingangstür ins Haus, musste man an Soldaten, Scannern und Observierungskameras vorbei.
Doch die Menschen neigen dazu, in zwei Dimensionen zu denken, und ein Angriff von oben wird in einem Gebäude selten als mögliche Bedrohung angesehen. Deshalb war das Dach der Botschaft die Schwachstelle. Es war bloß mit einfachen Alarmanlagen an den Oberlichtern gesichert.
Michael St. Pierre kannte sämtliche Winkel des Gebäudes besser als seine jetzigen Bewohner. Als den Mitarbeitern des Denkmalschutzamtes zu Ohren kam, dass der freundliche junge Mann im Ralph-Lauren-Anzug ein Buch über die Geschichte der bekanntesten Prachtstraße der Welt schrieb, taten sie, was sie nur konnten, um ihn zu unterstützen: Sie lieferten ihm detaillierte Baupläne des Vandervelde-Hochhauses und Informationen über die angrenzenden Gebäude. Und Mr. Forbes Carlton Smyth (Michael wählte diesen Decknamen, weil er auf eine altehrwürdige Familie schließen ließ) versprach jedem Mitarbeiter eine persönliche Danksagung.
Michael fand schnell heraus, welches Sicherheitssystem in dem Gebäude installiert war. Der Zugangscode wurde ihm vom amerikanischen Hersteller gegen eine Schutzgebühr verkauft, denn die Amerikaner hatten für Akbikestan nicht allzu viel übrig.
Wie jeder erfolgreiche Unternehmer überließ Michael nichts dem Zufall. Er war Profi durch und durch. Bei der Planung ließ er nichts unberücksichtigt, und bei seinen Recherchen war er peinlich genau. Doch Michaels Unternehmen war ein Ein-Mann-Betrieb. Es gab keine Entwicklungsabteilung, keine Personalabteilung, nicht einmal Sekretärinnen. Michael arbeitete allein. In seiner Branche konnte er nur sich selbst vertrauen, und er stahl immer nur Dinge, von denen die Öffentlichkeit und die Behörden nichts wussten. Seine Opfer waren Regierungen, Kriminelle und Versicherungsbetrüger. Und er ließ keine Spuren zurück. In kürzester Zeit rein und wieder raus, lautete sein Motto. Noch nie hatte er einen Fehler gemacht, noch nie eine Spur oder einen Hinweis hinterlassen. Deshalb war er nie erwischt worden.
Die Botschaft von Akbikestan war zurzeit mit weniger Personal besetzt als üblich. Zwei Wachleute pro Schicht, eine Sekretärin im Tagesdienst – das war alles. Alle anderen waren in der Heimat, dem gebirgigen Wüstenstaat, den sie hier vertraten.
Der Botschafter, Anwar Sri Ruskot, war ein geachteter General und angesehener Diplomat, doch seine größte Fähigkeit lag auf einem anderen Gebiet: Ruskot war auf den Schwarzmärkten der Welt als Händler und Hehler eine große Nummer. Er hatte sich auf den Handel mit Antiquitäten, Juwelen und Gemälden spezialisiert und nutzte dabei geschickt seinen Diplomatenstatus. Soweit es den General betraf, war das Diplomatengepäck eine bessere Erfindung als das Rad. Bei den Polizeibehörden kursierten eine Menge Gerüchte über seine Aktivitäten, doch FBI und Interpol waren machtlos. Wenn sie zu viel Staub aufwirbelten, hatte das Außenministerium eine Krise am Hals, die rasch eskalieren und zu Spannungen zwischen den beiden Staaten führen könnte, die ohnehin nicht die freundschaftlichsten Beziehungen pflegten.
Wenn General Ruskot in der Stadt weilte, leitete er sein Unternehmen vom fünfzehnten Stock der Botschaft aus, fernab von Wachleuten, Beratern, Sekretärinnen und Wichtigtuern. Sein Büro befand sich in der obersten Etage, zu der nur er allein Zugang hatte. Ruskot behauptete, dort die diplomatischen Geschäfte Akbikestans abzuwickeln; wenn etwas davon vorzeitig an die Öffentlichkeit käme, könne es in der Welt der Diplomatie katastrophale Auswirkungen haben. Deshalb durfte die fünfzehnte Etage nur von Ruskot betreten werden.
Was sich hinter den »diplomatischen Geschäften« des Botschafters verbarg, bekam Michael zu sehen, als er an einem Seil aus Kevlar mitten im Raum hing, anderthalb Meter über dem Boden, während er sich im Licht einer kleinen Stablampe umschaute. Es war ein großes Arbeitszimmer, eine Mischung aus Privatbibliothek und Opiumhöhle. An der Rückwand, von roten Ledersesseln mit hohen Lehnen umstanden, war ein wuchtiger Schreibtisch zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite war rings um eine Wasserpfeife, deren schaler Opiumgeruch noch in der Luft hing, eine Art Nomadenlager mit großen Kissen errichtet. Neben fernöstlichen Antiquitäten und kostbaren Gemälden, türkischen Läufern und Wandteppichen standen hier Akten und Computer, in denen jede zwielichtige Transaktion, jede illegale Zahlung, jedes heimliche Geschäft verzeichnet waren. Während die meisten Kriminellen größte Vorsicht bei ihrer »Buchführung« walten ließen, machte Ruskot sich keine Sorgen darüber. Der General hielt sich schließlich nicht auf amerikanischem Boden auf, sondern auf dem Hoheitsgebiet Akbikestans, geschützt durch die Wiener Konvention.
Michael hatte die Gasse kurz nach Mitternacht betreten, um seinen Aufstieg zu beginnen. Die vierstöckige Boutique befand sich unweit der Madison Avenue. Die Fassade aus Granit war der Traum eines jeden Kletterers. Auf Michaels Rücken waren Rollen dünner Kernmantelseile von unterschiedlicher Länge festgeschnallt; an seinem Gürtel hingen Karabiner, Haken und Werkzeuge, alle mit Isolierband umwickelt, damit nichts klirrte. In einer dunklen Gasse neben dem Gebäude begann er seinen Aufstieg und krallte seine Finger in die schmalen Ritzen und Fugen zwischen den Granitblöcken. Binnen Sekunden kletterte er die Fassade der Boutique hinauf, huschte übers Dach und stieg auf das angrenzende achtstöckige Wohnhaus. Mit der Geschicklichkeit eines geübten Bergsteigers bezwang Michael ein Gebäude nach dem anderen, wobei er sich in Richtung Fifth Avenue bewegte und immer höher stieg. Michael kletterte lieber auf Gebäude als auf Berge. Hausfassaden stellten für ihn eine größere Herausforderung dar und gaben ihm mehr als jede Felswand das Gefühl, eine außergewöhnliche Leistung vollbracht zu haben. Bereits zu College-Zeiten hatte er Hausfassaden erklommen. Eines der Hochhäuser, in dem sich das Studentenwohnheim befand, war sein erster Gipfel gewesen. Er war bis in den zweiundzwanzigsten Stock des Towers geklettert, war geräuschlos durch ein Fenster in das Zimmer eines Dozenten eingestiegen und hatte es genauso lautlos wieder verlassen. Und das alles nur, um Prüfungsunterlagen zu stehlen. Doch das Abenteuer zahlte sich nicht aus: Die Studentin, deren Prüfungsunterlagen Michael gestohlen hatte, fiel trotzdem durchs Examen.
Michael stieg nun von einem achtzehnstöckigen Wohnhaus hinunter auf das Dach der Botschaft. Das Oberlicht war mit einer primitiven Alarmanlage versehen, die Michael mühelos entschärfen konnte, indem er ein paar Drähte durchknipste. Er entfernte die Glasscheibe, spähte durchs Nachtsichtgerät in den dunklen Raum und ließ sich dann hinunter. Er gelangte in ein Zimmer, das eine unglaubliche Kunstsammlung enthielt.
Michael hatte sich die Baupläne eingeprägt und kannte deshalb jeden Quadratzentimeter der Räumlichkeiten. Dank seiner Informanten wusste er von den ungeschliffenen Diamanten, die in diesem Raum aufbewahrt wurden. Nachdem er den zwei Meter hohen Wells-Fargo-Safe, Baujahr 1908, mit geschickten Fingern geöffnet hatte, sah er, dass die Information stimmte: Michael rollte die schwarze Samtschmuckrolle aus – und da lagen sie, die Diamanten, und funkelten wie Sterne am Nachthimmel. Dreißig Millionen unauffindbare Schwarzmarktdollar. Und das Schönste war, dass niemand diese Diamanten als vermisst melden würde. Sie waren gestohlen, also wussten mit Sicherheit nur ein paar Auserwählte von ihrer Existenz. Der Botschafter selbst würde niemals Alarm schlagen, sonst würde man zu viele Fragen nach der Herkunft der Edelsteine stellen.
Keine Polizei, keine Ermittlungen, keine Probleme.
In dem Augenblick, als die Safetür aufschwang, wurde Unteroffizier Javier Samaha auf seinem Posten an der Eingangstür unruhig. Die Wachleute hatten unter sich ausgelost, wer nach Hause fahren durfte, und Samaha hatte den Kürzeren gezogen. Die Monotonie der Zwölf-Stunden-Schicht führte dazu, dass er vor sich hin döste. Es war Donnerstagnacht, und wie jedes Mal passierte rein gar nichts. Außer essen, lesen und Karten spielen gab es nichts zu tun.
Samaha hielt die Befürchtungen des Botschafters für unbegründet und die Vorsichtsmaßnahmen für übertrieben. Immerhin lebten sie im einundzwanzigsten Jahrhundert, nicht mehr im finsteren Mittelalter, und die akbikische Botschaft befand sich in einer der liberalsten Städte der Welt, in der zahlreiche Kulturen aufeinandertrafen. Außerdem war es mitten im Sommer, und auch Extremisten brauchten mal Urlaub. Mindestens bis Ende September waren keine Proteste zu erwarten.
Samaha wandte sich an seinen Kollegen am Empfang und sagte ihm, er werde früher mit seinem Rundgang beginnen, um sich die Beine zu vertreten und den Kopf freizubekommen. Normalerweise begann er im ersten Stock und arbeitete sich von dort nach oben vor. Heute jedoch beschloss Samaha, den kleinen Entscheidungsspielraum zu nutzen, den er besaß, und oben zu beginnen.
Michael schloss den Safe, verstaute die Diamanten im Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Im Vertrauen darauf, dass niemand diesen Raum betreten würde, zu dem nur Ruskot Zutritt hatte, ließ er sich einen Augenblick Zeit, um die Kunstwerke zu bewundern. Dabei entdeckte er in einer Zimmerecke ein prachtvolles Kreuz, mit Saphiren, Rubinen und Smaragden besetzt. Michael war wegen der Diamanten gekommen, doch das Kreuz zog seinen Blick magisch an.
Kurz entschlossen schob er es in den Rucksack und war Sekunden später verschwunden.
Die Aufzugtür öffnete sich im fünfzehnten Stock. Unteroffizier Samaha kannte das Verbot, diese Etage zu betreten, doch heute Nacht siegte seine Neugier, die Geheimnisse von Etage fünfzehn zu lüften. Es war niemand hier, der ihn hätte erwischen können. Warum sollte er sich nicht mal umsehen ... ?
Samaha überprüfte die einzige Tür auf der Etage; es war zugleich die einzige Tür, für die er und die anderen Wachleute keinen Schlüssel besaßen. Abgeschlossen. Samaha seufzte enttäuscht. Er fand sich damit ab, niemals die Wahrheit über dieses Stockwerk zu erfahren.
Samaha trat den Rückzug an. Er hatte gerade die Feuertür geöffnet und das Treppenhaus betreten, als er ein lautes Klicken in der Stille vernahm. Er blieb stehen, lauschte angestrengt. Das Geräusch kam aus der Wohnung. Wieder das Klicken. Diesmal nicht so laut, aber nicht zu überhören. Ein seltsames Geräusch.
Samaha kehrte um, drückte ein Ohr auf die Mahagonitür, lauschte. Wieder das Geräusch.
Samaha schlug alle Bedenken in den Wind und trat die Tür ein. In dem Raum war es schummrig. Nur das Licht vom Gang und ein schwacher Schimmer, der durchs Oberlicht fiel, sorgten für ein wenig Helligkeit. Samaha sah, dass das geräumige Zimmer prachtvoll eingerichtet war – viel luxuriöser als jeder andere Raum in der Botschaft. Ein Palast im Himmel. Samaha schaute sich um. Alles schien in Ordnung zu sein. Eingehend betrachtete er den großen Safe. Was wohl darin war ? Zögernd überprüfte Samaha das Schloss. Verschlossen.
Nach einem letzten Blick in die Runde wandte Samaha sich zum Gehen. Das Klicken, das er gehört hatte, war vermutlich aus dem Luftschacht gekommen. Kein Grund zur Besorgnis.
Dann fiel sein Blick auf einen Fleck an der Wand. Er sah aus wie ein Wasserfleck mit dunklem Rand.
Samaha stieg über die Kissen am Boden hinweg und warf einen verächtlichen Blick auf die Wasserpfeife, als er sich der Wand näherte, um sich den Fleck genauer anzuschauen. Obwohl es im Zimmer schummrig war, reichte das Licht, um den Fleck gut erkennen zu können. Der Unteroffizier strich mit dem Finger darüber und zeichnete die Umrisse nach. Die Sonne hatte die Tapete ausgebleicht. Nur an einer Stelle war das ursprüngliche leuchtende Grün noch erhalten.
Die Stelle besaß die Form eines Kreuzes.
Samaha berichtete seinem Kollegen am Empfang, dass er im fünfzehnten Stock ein seltsames Geräusch gehört habe. Trotz der strikten Anweisung, diese Etage nicht zu betreten, habe er es als seine Pflicht betrachtet, der Sache auf den Grund zu gehen. Samaha schlug vor, die New Yorker Polizei anzurufen, damit sie einen Streifenwagen vorbeischickten und die Cops nach Verdächtigen Ausschau hielten. Die Zeitungen hätten gute Schlagzeilen, wenn die Polizei das Viertel durchkämmte. Und wenn der Dieb noch in der Nähe war, würden die Cops ihn vielleicht schnappen – dank Samahas schneller Reaktion. Vielleicht würde er sogar eine Belobigung erhalten.
Aber was, wenn die Polizei niemanden schnappte? In zwei Wochen wurde General Ruskot zurückerwartet, und der Mann war aufbrausend und unberechenbar.
Vielleicht war es keine schlechte Idee, überlegte Samaha, einfach abzuhauen und in New York unterzutauchen.
Die Garantie für eine gesicherte Zukunft im Rucksack, hing Michael fünfzehn Meter über dem Boden am Seil. Noch fünf Etagen bis zur Freiheit.
Wäre da nicht die Frau gewesen.
Das flaue Gefühl im Magen, das Michael normalerweise riet, sich aus dem Staub zu machen, war überwältigend. Dann aber siegten seine Angst um die Frau und seine Wut auf ihren unbekannten Peiniger. Die Körpersprache der Frau war eindeutig gewesen: Sie hatte so schreckliche Angst gehabt, als hätte sie dem Tod ins Auge geschaut.
In Windeseile ließ Michael sich am Seil hinunter, huschte durch die Gasse zu dem sechsstöckigen Stadthaus und begann den Aufstieg an der Steinfassade. Unbehelligt gelangte er aufs Dach und stieg durch ein Oberlicht ins Gebäude ein, ein Messer in der Hand. Michael brauchte normalerweise keine Waffen; diesmal aber war es beruhigend für ihn, das Messer in der Hand zu spüren. Es hatte einen glatten Griff, und auf der Klinge funkelte das Licht. Michael sprach ein stummes Gebet, dass er das Messer nicht benutzen musste.
Er schob sich das Nachtsichtgerät vors Auge, als er die Etage erreichte, in der er die nackte Frau gesehen hatte. Binnen Sekunden hatte er das Schloss der Wohnungstür geknackt und betrat leise den Korridor. Das im hinteren Teil der Wohnung gelegene Gästezimmer wurde vom Nachtsichtgerät in gespenstisches grünes Licht getaucht. Geräusche verschwitzter, klebriger nackter Haut, die sich an irgendeiner Oberfläche rieb, waren zu vernehmen, begleitet von einem leisen Wimmern. Am Ende des Korridors lag ein Hund vor der Tür, regungslos in einer Blutlache.
Michael ging langsam weiter und spähte in das Zimmer, in dem er von draußen die nackte Frau gesehen hatte. Das Zimmer erwies sich als eine Art Töpferwerkstatt: zum Trocknen aufgestellte Tongefäße auf einem Holzregal; Farben, Verdünner und Glasuren auf einem Tisch; ein Brennofen in einer Ecke. Er hörte das leise Surren der Lüftung, die die Hitze aus dem Inneren ableitete. Es war ein feuchter, erdiger Geruch, vermischt mit einem Hauch von Jasmin. Michael sah kleine getrocknete Tonstücke auf dem Fußboden. Überall lagen Holzwerkzeuge. Es sah aus, als wäre ein Wirbelsturm durch das Zimmer gefegt. Michael entdeckte den Arbeitstisch, an dem der Ton geknetet, zerschnitten und geformt wurde.
Doch heute Nacht wurde hier kein Ton bearbeitet.
Die nackte Frau war Ende dreißig und hatte blondes Haar. Ein Schweißfilm bedeckte ihren Körper, und sie atmete schwer vor Angst. Ihr Körper war schlank und durchtrainiert wie der einer Sportlerin, und ein Schönheitschirurg in der Park Avenue hatte ihr Gesicht perfekt modelliert, was darauf hindeutete, dass sie wohlhabend war. Ihre Beine waren am Tisch festgebunden; ein pedikürter Fuß hing über dem Tischrand. Die Arme waren über dem Kopf gefesselt, ihre Augen mit einem schwarzen Schal verbunden. Ihr Jammern, das der Knebel nahezu erstickte, jagte Michael einen Schauer über den Rücken.
Auf der Fensterbank lagen Gegenstände, die aussahen wie ärztliche Instrumente aus dem neunzehnten Jahrhundert – die furchteinflößenden chirurgischen Werkzeuge eines Quacksalbers: Messer, Skalpelle, Knochensägen. Seltsamerweise war vom Angreifer der Frau nichts zu sehen.
Michael nahm das Nachtsichtgerät ab, schaltete das Licht ein und huschte zu der Nackten. Er atmete auf, als er sah, dass sie unverletzt zu sein schien. Der Unbekannte, der sie gefesselt und geknebelt hatte, schien noch nicht mit seiner »Arbeit« angefangen zu haben. In Windeseile schnitt Michael die Fesseln durch. Die Frau trat mit den Füßen und stieß einen erstickten Schrei aus.
In diesem Augenblick wurde Michael von einem wuchtigen Hieb an der Schläfe getroffen. Benommen taumelte er nach hinten und kämpfte gegen die drohende Bewusstlosigkeit. Er sah eine schattenhafte Gestalt, deren Gesicht von einem Schal verhüllt war. In der einen Hand hielt der Unbekannte einen Hammer, in der anderen eine Pistole. Der Mann kam langsam näher. Michaels Kopf pochte vor Schmerz. Noch immer kämpfte er gegen die Ohnmacht an.
Der Mann sagte kein Wort, als er die kalte Mündung der Waffe auf Michaels Stirn drückte. Er lud durch und verharrte, schien es zu genießen, die Todesangst seines Opfers zu verlängern.
Michael drückte die Hand auf den Griff seines Messers, ohne dass der Angreifer es sehen konnte. Blitzschnell riss er die Hand hoch und rammte die Klinge bis zum Griff ins Handgelenk des Mannes, sodass die blutige Spitze aus dem Unterarm ragte. Der Mann stieß einen dumpfen Laut aus, taumelte zurück, prallte gegen den Brennofen und landete mit der Schulter auf dem mehr als tausendzweihundert Grad heißen Metall. Er kreischte vor Schmerz. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand. Der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus.
Michael stemmte sich hoch und versuchte, sich zu orientieren. Sein Kopf dröhnte von dem brutalen Schlag, und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als er sich an den Tisch klammerte, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, konnte er einen erneuten Blick auf seinen Angreifer werfen. Die Augen des Mannes waren kalt und leer. Von seiner verbrannten Schulter stieg Rauch auf; aus seinem Arm strömte Blut und rann über den Griff von Michaels Messer. Ohne auf den Schmerz zu achten, riss der Fremde das Messer aus seinem Handgelenk und stieß es Michael in die Schulter, sodass er halb bewusstlos zu Boden stürzte. Der Mann packte Michael, zerrte ihn durchs Zimmer und ließ ihn neben dem Brennofen liegen. Dann trat er mit einem wütenden Knurren gegen die Messerklinge.
Höllische Schmerzen durchrasten Michael. Wie durch Watte hörte er statisches Rauschen und Knistern. Ein Polizeifunkgerät! Doch es gehörte seinem Angreifer. Michael konnte die Worte kaum verstehen: »Verdacht auf Einbruchdiebstahl in der akbikischen Botschaft. Streife ist unterwegs.«
Verwirrt und von Schmerzen geplagt, lag Michael regungslos auf dem Boden, während die geknebelte Nackte auf dem Tisch erstickte Schreie ausstieß. Jetzt gab es niemanden mehr, der dem Verrückten Einhalt gebieten konnte.
Michael dachte an Mary und stellte sich vor, wie die Polizei ihr mitteilte, dass ihr Mann ermordet worden sei, in ein und demselben Zimmer mit einer splitternackten Frau, und dass man gestohlene Diamanten in seinem Rucksack gefunden habe...
Das durfte nicht geschehen.
Mit einem Ruck riss Michael das Messer aus seiner Schulter. Der Schmerz war so heftig, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Dann wurde er jäh in die Realität zurückgeholt. Der beißende Geruch eines Lösungsmittels stieg ihm in die Nase. Es brannte wie Feuer, als das Mittel in die offene Wunde floss. Dann sah er den Fremden in der Tür stehen, einen Molotowcocktail mit brennender Lunte in der Hand.
Michael mobilisierte die letzten Kräfte, als der Mann die mit Farbverdünner gefüllte Flasche in seine Richtung warf. Sie schien eine Ewigkeit durch die Luft zu fliegen, bis sie auf dem rot glühenden Brennofen aufschlug und explodierte. Das Feuer breitete sich blitzschnell aus. Noch ehe die Tür in Flammen stand, war der Fremde verschwunden.
Michael lief taumelnd durch die Flammen und den dichten Rauch. Er zerrte eine Decke von einem Regal und warf sie über die vor Schock erstarrte Frau. Dann riss er ihr den Schal von den Augen und zog ihr den Knebel aus dem Mund. Voller Panik starrte die Frau auf die Flammen und schrie ihr Entsetzen heraus. Michael band sein Seil um ein Tischbein, warf einen Stuhl durchs Fenster und schleuderte das Seil hinterher. Er hakte es an seinem Klettergurt fest und hob die Frau auf die Arme. Sie klammerte sich verzweifelt an ihn.
Kaum war Michael mit seiner Last aus dem Fenster gesprungen, explodierte das Zimmer hinter ihm. Gemeinsam stürzten er und die Frau durch die Sommerluft, während der Tisch über den Boden schlitterte. Als er gegen das Fenster krachte, wurde ihr Sturz ein paar Stockwerke über der Gasse ruckartig beendet. Wenige Meter über den Köpfen Michaels und der Frau schössen Flammen aus dem Gebäude.
Als die Fenster des Stadthauses zerbarsten, setzte Michael mit seiner Last auf dem Bürgersteig auf. Schwarze Rauchwolken stiegen zum Himmel. Das Innere des Stadthauses leuchtete in orangerotem Licht, als der gesamte sechste Stock in Flammen stand. Michael legte die Frau behutsam auf den Bürgersteig. Sie fröstelte und zog jammernd die Decke um ihren nackten Körper.
Michael riss seinen Gürtel ab, warf sein Werkzeug in die Sträucher und tastete nach dem Rucksack mit den Diamanten. Er hing noch auf seinem Rücken. Blut rann aus seiner Schulterwunde; sein dunkles Hemd hatte sich rot gefärbt. Er blutete so heftig, dass ihm der entsetzliche Gedanke kam, er könne verbluten. Doch er verdrängte seine Furcht und beugte sich über die Frau, die allmählich aus der Benommenheit erwachte.
Sirenen heulten. Sekunden später hielten drei Streifenwagen auf der anderen Straßenseite. Michaels Blick glitt über die Fifth Avenue zu der Mauer, hinter der sich der Central Park befand. Noch einmal tastete er nach dem Rucksack, der seine Zukunft verkörperte.
Die Freiheit war nur zwanzig Meter entfernt.
Noch konnte er es schaffen.