24.
Captain Delia ging rastlos auf und ab. Er wusste nicht, wie er seiner nervösen Energie sonst Herr werden sollte.
»Sie haben ihn laufen lassen!«, rief er wutentbrannt.
Paul war an so etwas gewöhnt. Der Captain fuhr oft aus der Haut, und das störte Paul nicht besonders. Außerdem hatte der Mann diesmal sogar recht: Michael hatte ihn ausgetrickst.
»Thal hat gesagt, der Kerl habe das Land verlassen. Stimmt das? Würden Sie mir bitte mal erklären, wie einer unserer Bewährungshäftlinge das Land verlassen kann?«
»Er hat das Land nicht verlassen«, erwiderte Paul. »Seine Frau liegt im Sterben.« Paul war kein guter Lügner, aber er versuchte es dennoch.
»Thal schwört aber, dass der Bursche die Stadt verlassen hat.«
»Thal ist für den Fall nicht verantwortlich, Sir, sondern ich.«
»Sie stehen Ihren Bewährungshäftlingen zu nahe, Paul. Sie können sich nicht mit denen anfreunden. In diesem Fall sind Sie nicht objektiv. Ich spiele mit dem Gedanken, Thal den Fall zu übergeben ...«
»Thal? Diesem Psychopathen? Ich warne Sie. Wenn der seine Nase nicht aus diesem Fall raushält, breche ich ihm das Genick.«
Delia schlug die Bürotür zu und drehte sich mit funkelnden Augen und hochrotem Gesicht zu Paul um. »Das wäre für Ihre Karriere nicht besonders förderlich.« Der Captain setzte sich, versuchte sich zu beruhigen und überlegte, ob er es Paul sagen sollte oder nicht. Er beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben: »Thal arbeitet für die Interne Ermittlung. Und er hat es auf Sie abgesehen, mein Freund.«
Paul hatte das Gefühl, jemand hätte ihm einen Schlag in den Magen verpasst. Er war ein zweites Mal betrogen worden, diesmal von einem Kollegen. Und auch von seinem Chef. »Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«, fragte Paul fassungslos.
»Gesetz ist Gesetz, Paul. Wir sind die Polizei. Wir sind das Gesetz. Wenn die mir sagen, ich soll den Mund halten, dann halte ich den Mund.«
»Und warum sagen Sie es mir jetzt?«
»Ich habe diese Überprüfung der Internen Ermittlung für Blödsinn gehalten. Sie hatten immer eine lupenreine Weste, Paul. Deshalb ging ich davon aus, dass die Interne Ermittlung nichts findet. Ich Idiot! Sehen Sie an, was Sie mir angetan haben! In welche Lage haben Sie mich gebracht!«
Paul hätte es niemals für möglich gehalten, sich eines Tages in einer solchen Situation wiederzufinden. »Vielleicht ist Michael St. Pierre tatsächlich abgehauen, aber wenn es so ist, steckt viel mehr dahinter, als wir ahnen.«
»Das können wir nicht beurteilen, und Sie schon mal gar nicht. Das ist Sache der Gerichte.«
Paul hasste es, wenn ihm seine eigenen Worte vorgehalten wurden. »Seine Frau liegt im Sterben. Der Mann ist doch nicht so dumm, jetzt wieder Mist zu bauen und noch einmal in den Knast zu wandern, während seine Frau stirbt.«
»Kommen Sie zur Vernunft, Paul. Sie haben die Aufgabe, Männer wie St. Pierre zu beobachten und ihnen die Rückkehr in die Gesellschaft zu erleichtern. Und ihnen den Kopf zurechtzurücken, wenn sie nicht spuren. Wenn diese Leute Mist bauen, ist es Ihre Pflicht, es zu melden und den Betreffenden aufs Revier zu bringen. Stattdessen freunden Sie sich mit diesen Typen an. Jesus, Maria und Joseph, können Sie sich keinen Freund suchen, der nichts auf dem Kerbholz hat?«
»Sie wissen, dass das so nicht stimmt...«
»Sie brauchen sich gar nicht herauszureden«, unterbrach Delia ihn frustriert. »Thal hat gesagt, Sie haben ihn entwischen lassen.«
»Das ist Blödsinn, Sir. Michael St. Pierre ist ohne meine Hilfe abgehauen.«
»Sie haben ihm eine elektronische Fußfessel verpasst, und er legt das Ding einfach ab, als wäre es ...«
»Sir, ich kenne diesen Mann. Er ist resozialisiert.«
»Resozialisierte Täter verstoßen nicht gegen ihre Bewährungsauflagen, schneiden ihre elektronischen Fußfesseln nicht durch und hauen nicht ab. Warum tut er das? Wovor läuft der Mann davon? Und wohin will er diesmal ? Dieser Kerl verstößt gegen das Gesetz. Ich wette, er dreht ein richtig großes Ding. Und wenn er das tut, sitzen wir alle in der Scheiße!«
»Nein, Sir. Er wird nicht gegen das Gesetz verstoßen. Ich suche ihn. Dieser Fall fällt in meine Verantwortung.«
»Sie haben Ihre Verantwortung verspielt. Nennen Sie mir einen Grund, warum ich Ihnen nicht jetzt sofort Ihre Dienstmarke abnehmen soll.«
»Weil ich der Einzige bin, der ihn finden kann.«
Captain Delia kannte Paul schon eine halbe Ewigkeit. Auch wenn der Fall schlecht aussah, war er überzeugt, dass Paul nicht log und seine Karriere nicht auf diese Weise aufs Spiel setzte. Delia hatte Thal gefragt, wer sich über Paul beschwert hatte, aber das durfte er ihm nicht sagen. Der Captain musste kooperieren, und das würde er auch – aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, wenn ein Cop Ermittlungen über einen Kollegen anstellte. Und es gefiel ihm nicht, dass Thal damit anfing.
»In Ordnung, versuchen Sie es. Aber wenn St. Pierre Mist baut, kann ich nichts mehr für Sie tun«, stieß Delia aufgebracht hervor.
Paul nickte. Das war das größte Maß an Vertrauen, das er in Anbetracht der Lage von seinem Captain erwarten konnte.
Er stürmte aus dem Büro. »Wo ist Thal?«, rief er.
Sämtliche Kollegen hoben den Blick und schüttelten den Kopf. Paul eilte zu Thals Schreibtisch. Der Schreibtisch war leer. Keine persönlichen Dinge, nicht mal ein Fetzen Papier. Paul drehte sich zu Judy Langer um, die am Schreibtisch gegenüber saß und damit beschäftigt war, die Papierberge auf ihrem Schreibtisch abzuarbeiten.
»Hast du Thal gesehen?«, fragte Paul.
»Er ist gegangen«, erwiderte Judy, ohne Paul anzusehen.
»Wohin?«
»Ich bin nicht Thals Betreuerin, Paul«, murmelte sie.
Paul schaute auf den Schreibtisch. Das war nicht der Schreibtisch eines Mannes, der bloß aufgeräumt hatte. Es war der Schreibtisch von jemandem, der fortgegangen war und nicht wiederkommen wollte. Paul dachte angestrengt nach. Was hatte das zu bedeuten? Er hatte immer in Einklang mit den Gesetzen gelebt. Und jetzt wurde in seinem Fall ermittelt wie bei den Kriminellen, die er sein Leben lang gejagt hatte. Und um alles noch schlimmer zu machen, nahm dieser Thal ihn jetzt unter die Lupe.
Hier ging etwas sehr Sonderbares vor sich. Es musste noch mehr dahinterstecken. Wer hatte ihn bei den Internen Ermittlungen verpfiffen? Wenn Paul überhaupt die Chance haben wollte, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen und seine Karriere zu retten, musste er Thal finden.
Doch zuerst musste er Michael suchen. Er hatte Delia sein Wort gegeben.
»Ich habe etwas über eine dringende Familienangelegenheit aufgeschnappt«, fügte Judy hinzu und hoffte, Paul würde das Büro verlassen, wenn er die Informationen besaß, die er brauchte.
»Weißt du, wo er sein könnte?«
»Ich habe ihn irgendetwas über Deutschland sagen hören. Ich glaube, er hat von Berlin gesprochen.«