8.
Die Kellnerin mit dem schwarzen Haar stellte den Cappuccino neben Michaels Unterlagen auf den Tisch.
Das Café Bourgino lag außerhalb der Vatikanstadt in der Via del Campiso, einer alten römischen Straße mit Kopfsteinpflaster. Seit zwei Tagen war dieses Café Michaels bevorzugter Aufenthaltsort. Es war ein kleines, abseits beliebter Touristenpfade gelegenes Lokal, das im Reiseführer gar nicht erwähnt wurde. Und niemand interessierte sich besonders für Michael. Mit seinem braunen Haar und der gebräunten Haut hätte er leicht als Italiener durchgehen können.
Seinen ersten Tag in der Stadt hatte er damit verbracht, die Straßen und Gassen zu erkunden, wobei sein ausgezeichnetes Gedächtnis sein bestes Hilfsmittel war. Da er sich Gebäude und Straßen sehr schnell einprägen konnte, gewann er Zeit, sich mit den kniffligen Problemen seines Auftrags zu beschäftigen.
Michael hatte sich eingelesen, was den Vatikan und seine Kunstschätze anging. Doch nichts von dem, was er gelesen hatte, bereitete ihn auf den großartigen Anblick vor, der ihm zuteil wurde, als er die Via della Conziliazione hinunterging. Die Pracht des Petersdoms übertraf seine Vorstellungen bei Weitem, ebenso der riesige Petersplatz, der dreihundertfünfzigtausend Menschen aufnehmen konnte und den die weltberühmten halbkreisförmigen Kolonnaden umschlossen, als wollten sie die Besucher mit offenen Armen empfangen. Die von Bernini entworfenen dorischen Säulen waren neunzehn Meter hoch und fassten in Viererreihen den fünfunddreißigtausend Quadratmeter großen Platz ein.
Als Michael den Blick hob, konnte er sich des unheimlichen Gefühls nicht erwehren, dass die marmornen Heiligenstatuen, die von den Kolonnaden auf den Platz hinunterschauten, genau wussten, was er vorhatte.
In der Mitte des Platzes erhob sich der Obelisk, den Caligula im Jahre 37 n. Chr. nach Rom hatte bringen lassen. Das fünfundzwanzig Meter hohe Monument wurde von einem Kreuz und einer goldenen Kugel gekrönt, in der sich den Gerüchten zufolge die sterblichen Überreste von Julius Cäsar befanden. In jeder anderen Stadt hätte ein solcher Obelisk im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden; hier aber war er nur eine von unzähligen Sehenswürdigkeiten. Der Vatikan war eine andere Welt, ein Relikt aus versunkenen Zeiten, ein Märchen aus der Vergangenheit, das außerhalb der Vorstellungskraft eines jeden Menschen lag. Hier gab es die grandiosesten Schöpfungen einiger der größten Künstler, die jemals gelebt hatten.
Michael hatte sich zwar mit der Geschichte des Vatikans befasst, erkannte aber erst in diesem Moment dessen Größe. Zuhause in den Vereinigten Staaten hatte er sich fast ausschließlich auf die technische Seite seines Coups konzentriert, den er als neue Herausforderung betrachtete, bei der es galt, ein unbekanntes Gebäude zu bezwingen, ein komplexes Sicherheitssystem zu überwinden und eine Polizeitruppe auszutricksen. Doch auf die Erhabenheit der Welt, die er nun betrat, war er nicht vorbereitet.
Die Kuppel des Petersdoms ragte wie eine riesige, mit Diamanten besetzte Krone in den Himmel. Am Fuß der breiten Eingangstreppe stand die Marmorstatue des Heiligen Paulus. Er hielt ein Schwert in der Hand, um die Kirche gegen jeden zu verteidigen, der ihr schaden wollte. Auf der anderen Seite der Treppe stand die Marmorstatue des Petrus, des ersten Papstes, mit einem Schlüsselbund in der Hand.
Wohin Michael auch blickte, überall sah er architektonische Meisterwerke. Die mittelalterlichen Mauern der Vatikanstadt waren zwischen dreizehn und dreißig Meter hoch und hätten sogar einen modernen Militärschlag abwehren können. In der Vatikanstadt selbst gab es Banken, ein Postamt, Radiosender, eine Zeitung, einen Hubschrauberlandeplatz. Der Vatikan hatte seine eigene Währung und sein eigenes Rechtssystem. Bestimmte Bereiche waren der Öffentlichkeit zugänglich, doch der größte Teil dieser Enklave lag isoliert hinter Mauern, und der Zugang zu diesen Bereichen war nur wenigen Auserwählten gestattet.
Michael verbrachte zwei Tage in den öffentlich zugänglichen Bereichen des Petersplatzes, der Sixtinischen Kapelle und den zahlreichen Museen. Er fotografierte und beobachtete, lernte und plante. Bis zum Beginn seiner Recherchen hatte er nicht gewusst, wie unvorstellbar die Schätze hier waren. Im Vatikan gab es einen aus zwölf Museen bestehenden Komplex, der zu den größten Museumskomplexen der Welt zählte, neben dem Louvre und dem Smithsonian. Die Vatikanischen Museen umfassten eintausendvierhundert Räume, und die Länge der Flure betrug fast sechseinhalb Kilometer. Ein Tourist hätte ein ganzes Jahr hier verbringen können, ohne die gesamte Sammlung gesehen zu haben, die in mehr als zweitausend Jahren zusammengetragen worden war: griechische, etruskische und römische Kunst, fernöstliche Kunstwerke, die kostbarsten Gemälde der Renaissance und anderer Epochen, Meisterwerke der Bildhauerei, einzigartige Bücher, Landkarten, Manuskripte, Münzsammlungen und Möbel. Außerdem gab es das Ägyptische Museum, in dem Mumien und Sarkophage ausgestellt waren. Es gab hier eine solche Fülle an Schätzen, dass niemand es sich auch nur vorstellen konnte – Kostbarkeiten, die Kunstliebhaber aus aller Welt anzogen.
Michelangelos Meisterwerk, das Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle, war legendär, doch auch die Seitenwände und die Stirnwand der Kapelle waren Meisterwerke. Hier hatten die größten Künstler ihrer Zeit – Perugino, Botticelli, Ghirlandaio und Rosselli – wundervolle Fresken geschaffen. In anderen Gebäuden waren ganze Räume vollständig von Künstlern wie Raffael, Pinturicchio und Signorelli ausgemalt – Gemälde, deren Perfektion einzigartig war, wenngleich das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle die anderen Arbeiten an Berühmtheit in den Schatten stellte.
Zu Beginn seiner Besichtigung hatte Michael das Gefühl, von der Fülle der Kunstwerke schier erdrückt zu werden. Nun aber wandte er seine Aufmerksamkeit besonders dem Museo Storico-Artistico e Tesoro zu. Dieses Museum, auch als Sakristei und Schatzkammer bekannt, umfasste einen Komplex aus zehn Räumen und befand sich direkt neben dem Petersdom. Es beherbergte viele der bedeutendsten Heiligtümer des Christentums: die Crux Vaticana, die Fragmente vom Kreuz Christi enthielt; zahlreiche Reliquien; den mit Diamanten verzierten Stuart-Kelch - ein Geschenk des englischen Königs Heinrich IV.; Manuskripte und Dekrete, die über viele Jahrhunderte zurückreichten, sowie sakrale Kostbarkeiten und antike Waffen.
Michael interessierte sich besonders für einen Bereich, der dem heiligen Petrus gewidmet war, dem ersten Papst der Geschichte. Hier waren Artefakte aus den Tagen zu sehen, als Petrus auf den Straßen Roms gewandelt war, darunter die verrosteten Ketten, mit denen er vor seiner Kreuzigung gefesselt war, sowie eine Nachbildung des Bischofsstuhls des Heiligen. Doch von größtem Interesse für Michael war eine Nische mit einer einzigen Vitrine, deren Sockel aus Ebenholz bestand. Das dunkle Holz verschmolz mit den Schatten ringsum. Die Seiten der Glasvitrine waren ungefähr sechzig Zentimeter lang, das Glas vier Zentimeter dick. Ein kleiner, an der Decke angebrachter Punktstrahler, dessen Lichtstrahl die Dunkelheit durchbrach, beleuchtete das purpurrote Samtkissen, auf dem die Zielobjekte von Michaels Mission lagen.
Der goldene und der silberne Schlüssel. Die Schlüssel, die Marys Überleben sichern sollten.
Die schlichte Gestaltung der Schlüssel spiegelte ihr Alter von zweitausend Jahren wieder. Es waren ganz normale Schlüssel, etwas größer und dicker, als er es erwartet hatte. Wahrscheinlich hatten sie einst irgendeine Funktion gehabt; welche, war unbekannt. Jesus hatte diese Schlüssel an Petrus übergeben; sie waren der Ursprung des Papstsymbols. Sie wurden häufig im Vatikan dargestellt, auch im Wappen. Für Millionen Menschen waren sie das wahre Symbol des heiligen Petrus und seiner päpstlichen Erben, der Oberhäupter jener Kirche, die Jesus Christus begründet hatte. Für Michael hatten sie jedoch eine andere Bedeutung: Sie waren die einzige Chance, das Leben seiner Frau zu retten.
Es gab Schätzungen, dass sich hinter den Mauern des Vatikans Kunstwerke, Antiquitäten, Gold und Juwelen im Wert von mehr als vierzig Milliarden Dollar befanden. Hinzu kamen die Besitztitel für die ausgedehnten Beteiligungen der katholischen Kirche auf der ganzen Welt. Kein anderer Staat konzentrierte seine Vermögenswerte auf einem so kleinen Gebiet wie der Vatikan.
Aus diesem Grunde fand man in der ganzen Welt kaum Sicherheitsmaßnahmen, die mit denen des Vatikans konkurrieren konnten. Jede Tür wurde durch Wachpersonal und elektronische Geräte gesichert. Die neuzeitlichen Architekten des Vatikans standen den legendären Meistern in ihrer Kreativität kaum nach. Ihre Sicherheitstechniken waren hochmodern und größtenteils unsichtbar, um die Schönheit und Pracht der Bauwerke, die sie sicherten, nicht zu beeinträchtigen. Metalldetektoren waren ebenso verborgen wie Sensoren für Radioaktivität und elektronische Bomben- »Schnüffler«. Ob versteckt oder nicht – alle elektronischen Geräte waren unaufhörlich auf der Suche nach potentiellen Bedrohungen. Die Vorsichtsmaßnahmen waren sehr effektiv.
An jedem Eingang und jedem Kontrollpunkt waren Schweizergardisten stationiert, doch sie waren es nicht, die Michael beunruhigten. Es war das Aufgebot an Vatikan-Polizisten, die sich unter die Menschenmassen mischten – die Wachleute ohne Uniform. Ihr Haarschnitt, ihre Art, sich zu bewegen, und die Haltung, die sie einnahmen, ließen sie einem geübten Beobachter wie Michael auffallen. Es sah aus, als würden diese Männer scheinbar zufällig in die Menge eintauchen und wieder hervortreten, doch Michael erkannte ziemlich bald ein System. Jedes Museum wurde von mindestens zwei Vatikan-Polizisten bewacht; wenn einer ging, kam der andere. Die Ablösung erfolgte sekundengenau, und die Wachsamkeit der Männer ließ niemals nach. Auf jede mögliche Bedrohung, die die Sicherheit dieses einzigartigen Königreiches gefährdete, würden sie augenblicklich reagieren.
Innerhalb der Sakristei und der Schatzkammer waren neun Kameras installiert, die jeden Winkel rings um den goldenen und silbernen Schlüssel sowie den gesamten Bereich einfingen, in dem Michael operieren wollte. Die Kameras waren perfekt in der Wand verborgen, damit sie die Atmosphäre nicht beeinträchtigten. Michael prägte sich den Raum genau ein und fotografierte ihn auch, wobei er nie mehr Fotos machte als ein normaler Tourist, denn er war sich bewusst, dass die Überwachungskameras jeden seiner Schritte aufzeichneten.
Und er wusste auch, dass der bevorstehende Coup mehr als Erfahrung und Kreativität erforderte. Wie nie zuvor in seinem Leben wurden von ihm Geschicklichkeit und Einfallsreichtum verlangt, wenn er das Unmögliche möglich machen und seine Frau retten wollte.
In der Werkstatt roch es nach Schmierfett und Öl, und der Betonboden war voller Flecken. Zwei in ihre Einzelteile zerlegte Fiats standen in einer Ecke. Ihre Motoren hingen an Ketten von der Decke. Michael stand hinten in der Werkstatt an einem offenen Fenster. Dort zogen die Abgase des Bunsenbrenners, mit dem er arbeitete, besser ab. Michael hatte sich alles, was er brauchte, im Supermarkt, in einem Geschäft für Künstlerbedarf und in einer Drogerie in der Nähe besorgt. Mottenkugeln, Epsomsalz, Farbe, Zucker – Dinge des alltäglichen Lebens. Er vermischte die Zutaten und erhitzte sie auf sechzig Grad. Dann formte er aus der knetbaren Paste Kugeln und malte sie braun an. Die fertigen Kugeln legte er in eine leere Bonbondose.
Die Werkstatt – Michael hatte sie bereits vor seiner Abreise aus den Vereinigten Staaten ausfindig gemacht – war auf Fiat und Alfa Romeo spezialisiert. Attilio Vitelli, der Besitzer, hatte einen guten Ruf, vor allem, wenn es darum ging, die Fahrgestellnummer eines Wagens zu entfernen. Michael war sofort nach der Landung zu ihm gefahren. Er trug eine grüne Windjacke und eine Baseballkappe der New York Yankees. Seine kleine goldgeränderte Brille verlieh ihm ein harmloses Aussehen.
Vitelli stand in seinem blauen Overall da, während Michael ihm erklärte, er brauche unbedingt eine Metalldrehbank und bestimmte Werkzeuge. Er habe eine teure Videoausrüstung, die von den unvorsichtigen Gepäckträgern am Flughafen von Rom beschädigt worden sei. Es würde einen Monat dauern, bis die Ersatzteile, die er brauche, aus Japan kämen. Doch wenn er seinen kurzfristigen Termin nicht einhalte, würde er seinen Job verlieren.
Vitelli musterte ihn, während er seine schmierigen Hände an einem alten Lappen abwischte. »Sie wissen, wie man an einer Drehbank arbeitet?«, fragte er schließlich.
»Ja. Ist es in Ordnung, wenn ich ein paar von Ihren Werkzeugen benutze?«
Vitelli musterte Michael noch einmal und beugte sich dann wieder unter die Motorhaube des Alfa, an dem er arbeitete, ohne zu antworten.
»Ich gebe Ihnen fünfhundert Euro. Länger als fünf Stunden dürfte es nicht dauern«, drängte Michael. Er hütete sich davor, dem Werkstattbesitzer ein zu großzügiges Angebot zu machen, damit der Italiener nicht noch misstrauischer wurde.
Ohne den Blick zu heben, erwiderte Vitelli: »Eine Werkstattstunde kostet hundertzwanzig Euro.«
»Okay.«
Vitelli streckte den Kopf unter der Motorhaube hervor. »Sie können nur hier arbeiten, wenn ich in der Werkstatt bin. Und wenn ich eines der Werkzeuge brauche, müssen Sie Ihre Arbeit unterbrechen.«
Michael schürzte die Lippen und nickte. »Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen nicht in die Quere komme.«
Nun lag Michaels Notebook auf der Werkbank in Vitellis Werkstatt. Auf dem Monitor wurden verschiedene Bilder der Schlüssel gezeigt, über die er ein digitales Gitter gelegt hatte, sowie Bilder der Ausstellungsvitrine und des Raumes, in dem sie stand. Neben dem Notebook lagen Michaels Anfertigungen von diesem Tag. Er hatte das Metall und den Kunststoff an der Drehbank perfekt bearbeitet. Jedes Teil war geschliffen, poliert und absolut fehlerfrei. Sein Talent hatte sich seit seiner Jugend beträchtlich entwickelt. Mit Metall und Kunststoff konnte Michael fast alles anfertigen, angefangen von unechtem Schmuck bis hin zu komplizierten mechanischen Geräten.
Vitelli war nur zweimal in die Werkstatt gekommen und hatte sich wortlos Werkzeug geholt. Er hatte Michael gar nicht beachtet, als wäre der Amerikaner einer seiner Mechaniker, und ließ ihn ungehindert seine Arbeit machen.
Insgesamt fertigte Michael fünf Werkstücke an, die wie normale Gebrauchsgegenstände aussahen. Doch ihre eigentliche Funktion hatte nichts mit ihrem Aussehen zu tun.
»Professor Higgins ?« Michael stand von der Couch auf und streckte die Hand aus. Der Mann, den er begrüßt hatte, verlangsamte seine Schritte und starrte Michael an, ohne auf dessen ausgestreckte Hand und die Begrüßung zu achten. Schließlich ging er wortlos weiter.
»Ich bin Michael McMahon. Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen.« Michael lief dem Mann hinterher.
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagte Higgins, ohne Michael einen Blick zuzuwerfen. Er ging durch die Marmorlobby zum Aufzug und drückte auf den Knopf.
»Das vatikanische Amt für Wissenschaftsförderung hat mir Ihren Namen gegeben ...«
»Tut mir leid, Mr. McMahon, ich habe keine Zeit.« Higgins drehte sich um. Er wurde nervös und tappte mit dem rechten Fuß auf den Boden, als er auf den Aufzug wartete.
»Ich dachte, weil wir Landsleute sind und morgen gemeinsam die Führung durch den Vatikan mitmachen ...«
»Wer hat Sie geschickt?«, fragte Higgins und starrte Michael an. »Wenn Sie versuchen, mich von meinen Theorien abzubringen ...« Higgins tappte nun so laut mit dem Fuß auf den Boden, dass es von den Marmorwänden widerhallte. »Wenn Sie hier sind, um meine Theorien in Zweifel zu ziehen, dann schreiben Sie doch Ihr eigenes Buch.«
»Sir, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Ich widerspreche Ihren Theorien gar nicht. Wenn Sie Zeit für einen Drink hätten, würde ich Ihnen gerne erklären, dass ich einigen Ihrer Ideen beipflichte.« Michael lächelte ihn an und hoffte, dass Higgins den Köder schluckte.
Higgins schaute sich in der Lobby um, ehe er sich wieder Michael zuwandte. »Einverstanden«, sagte er.
Michael arbeitete die Einzelheiten für einen Coup immer erst aus, wenn er am Zielort war. Er musste seinen Plan so gestalten, dass dieser sich an die Umgebung anpasste. Mit Higgins als Teil dieser Umgebung war die letzte Hürde genommen. Nachdem Michael zunächst Fluchtwege ausgekundschaftet hatte, beschäftigte er sich nun seit zwei Tagen mit den Geheimnissen des Vatikans. Vom vatikanischen Amt für Wissenschaftsförderung hatte er die Namen der Teilnehmer an der Führung erfahren. Es war nur ein simpler Anruf erforderlich. Michael legte seinen Wunsch dar, Kontakt zu anderen Gelehrten aufzunehmen, die sich zu Führungen durch den Vatikan angemeldet hatten. Als Michael seine Quellen nutzte, um den Werdegang und die Lebenssituation eines jeden Gelehrten zu überprüfen, wurde sein Interesse auf Professor Albert Higgins gelenkt. Higgins hatte in etwa Michaels Statur und eine ähnliche Haarfarbe, doch das war es nicht, was Michael so begeisterte. Für Michael war Higgins' offene Verachtung für die katholische Kirche geradezu ein Glücksfall.
Der Professor war von Neuengland nach Rom gereist, um abschließende Recherchen für ein Buch zu machen, das die Geschichte des Vatikans und den Einfluss behandelte, den er auf die gesellschaftliche Entwicklung in Europa genommen hatte. Michael hatte Higgins aufgespürt und während seiner Museumsbesuche verfolgt. Der Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht war ihm auf Anhieb unsympathisch, und das hatte vor allem mit seiner herablassenden Art anderen gegenüber und seinem großspurigen Auftreten zu tun. Higgins gehörte zu denen, die auf Menschen anderen Glaubens und anderer Religionen herabsahen – ein Mann, der Scheuklappen trug und an allen Theorien etwas auszusetzen hatte, nur nicht an den eigenen. Seit Jahren verfocht er die aberwitzige Theorie, die katholische Kirche sei für den Untergang des Glaubens, für den Kommunismus, für AIDS und – das Schlimmste von allem – für den Verfall des Britischen Weltreichs verantwortlich.
Je mehr Michael über Higgins erfuhr, desto weniger Gewissensbisse hatte er, wenn er daran dachte, was den ahnungslosen Professor bei der morgigen Führung erwartete.
Paul Busch saß an seinem Schreibtisch und fragte sich, wo Michael steckte. Irgendwo im Ausland jedenfalls. Und das bedeutete, dass Michael gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Paul hatte in den letzten vier Tagen mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit seiner Frau Jeannie, denn sie hätte es prompt Mary erzählt – und Mary hatte es nun wirklich nicht verdient, jetzt noch mit weiteren Problemen konfrontiert zu werden.
Paul hatte Mary heute Morgen wieder besucht. Ihr Aussehen machte ihm große Sorgen. Sie trug zwar eine fröhliche Miene zur Schau, aber er sah, dass sie furchtbare Schmerzen hatte. Er hatte sie nach Michael gefragt und sich erkundigt, wann er zurückkommen würde, doch es war bloß Smalltalk gewesen. Mary hatte ihm erzählt, dass Michael mit seiner Arbeit gut vorankomme und gesagt habe, er wäre wahrscheinlich in ein paar Tagen wieder zu Hause. Dann hatte sie ihre Dankbarkeit für die Großzügigkeit eines gewissen Mr. Rosenfield zum Ausdruck gebracht, eines Mannes, den sie gar nicht kannte, der ihnen aber angeblich das Geld für Marys Behandlung gegeben hatte.
Michael hatte Mary und ihn belogen. Paul erlebte das nicht zum ersten Mal. Die Lügen trieben an der Oberfläche und kaschierten Geschichten, die noch beunruhigender, noch unlauterer waren. Michael war seinen Vorsätzen untreu geworden. Er war wieder auf die andere Seite übergewechselt. Das war die einzige Erklärung. Und Paul war zum ersten Mal zwischen Pflicht und Freundschaft hin- und hergerissen.
Michael war resozialisiert worden, doch er steckte in einem entsetzlichen Dilemma. Was immer er im Schilde führte, er tat es für Mary. Paul ging davon aus, dass Michael ein Opfer war. Das hatte er nicht verdient. Michael war gezwungen worden, aus Liebe zu seiner Frau die Grenze zu überschreiten und rückfällig zu werden. Paul nahm an, dass er in einer solchen Situation genauso handeln würde. Die Liebe hatte schon viele Menschen dazu gebracht, Dummheiten zu machen oder Verzweiflungstaten zu begehen.
Doch Paul war ein Mann des Gesetzes. Sobald Michael zurückkehrte, würde er ihn verhaften.