36.
Das Hotel Friedenberg lag im Ortsteil Tiergarten. Als die Berliner Mauer gebaut wurde, war es mit diesem Hotel bergab gegangen. Die Omega-Gruppe hatte es in den Neunzigerjahren gekauft und fast zehn Millionen in die Instandsetzung gesteckt. Es war nicht unbedingt nobel, aber ganz hübsch: geräumige Zimmer, großer Swimmingpool, Fitnessclub und Zimmerservice. Die Minibars waren mit alkoholischen Getränken, Nüssen und kleinen Cola-Flaschen für fünf Dollar gefüllt.
Die Suite für Geschäftsleute war in einen Schlaf- und Arbeitsbereich unterteilt. Zwei große Betten standen hinten an der Wand. Im vorderen Teil befand sich der Arbeitsbereich mit einem kleinen Konferenztisch, einem Schreibtisch und einer Sitzecke. Der Raum war für ein Hotelzimmer geschmackvoll dekoriert, aber sobald man sich ausgecheckt hatte, vergaß man dieses fade Laubmuster aus Braun- und Gelbtönen schnell wieder.
»Michael?«, rief Simon, als er fünf große Reisetaschen aufs Bett stellte. Das großzügige Trinkgeld würde den Hotelpagen nicht für seinen kaputten Rücken entschädigen.
Simon zog die Jalousien hoch und genoss einen kurzen Augenblick die Sonne, die ihm ins Gesicht schien. Er überprüfte das Telefon. Die Anzeige blinkte nicht, also hatte er keine Nachrichten erhalten. Er nahm seine Aktentasche vom Bett, setzte sich an den Tisch und zog die Skizzen heraus, die Michael während des Fluges von Finsters Haus angefertigt hatte. Simon konnte sich kaum konzentrieren. Er war völlig erschöpft und hatte seit mindestens vierundzwanzig Stunden kein Auge zugetan, und er hatte noch eine Menge Arbeit. Wenn er sich nicht konzentrieren konnte, würde er scheitern. Und in seinem Job konnte man nur ein einziges Mal scheitern, dann war für immer Schluss. Und in diesem Fall würde ein Scheitern nicht nur für ihn selbst Konsequenzen haben.
Nachdem Simon sämtliche Kreuze in dem Laden für religiöse Kunst gekauft und die Besitzerin ihm den Weg erklärt hatte, hatte er Stingline problemlos gefunden. Simon war schon vor ein paar Jahren in dem Geschäft gewesen, als er »gewisse« Dinge gebraucht hatte – so wie heute.
Stinglines Laden war ein Waffen- und Jagdgeschäft. Es gehörte zu den Geschäften, die man aufsuchen konnte, wenn man in anderen Waffengeschäften nichts kaufen wollte oder konnte. In den Vitrinen wurden Jagdgewehre, Pfeil und Bogen und Tarnanzüge für Leute ausgestellt, die gerne Krieg spielten. Die echten, kampftauglichen Waffen wurden jedoch anderswo aufbewahrt.
Der glatzköpfige Stingline hatte früher der Roten Armee angehört. Oder der Baader-Meinhof-Gruppe. Oder der IRA. Es kam ganz darauf an, mit wem man darüber sprach. Gerüchten zufolge war er zweiundfünfzig, doch Simon wusste, dass er achtundsechzig war. Er stellte jedes Mal ein umfangreiches Dossier zusammen, ehe er mit Unbekannten Geschäfte machte. Und ob Stingline zweiundfünfzig oder fünfundachtzig war – dieser Mann konnte seine Gegner noch immer mit wenigen harten Schlägen außer Gefecht setzen.
Simon war überrascht, dass Stingline keine fünfzehn Minuten brauchte, um seine gesamte Einkaufsliste zusammenzustellen: vier Funkgeräte mit Headsets, vier 9mm-Pistolen mit serienmäßigen Schalldämpfern, fünfzig Schachteln Munition, zwei Heckler & Koch-Maschinenpistolen, zwei israelische Galil-Scharfschützengewehre, vier Nachtsichtbrillen, vier Bowiemesser, sechs Handgranaten und eine große Schachtel Energieriegel. Simon hatte alles bekommen, was er brauchte, ohne dass Stingline ihm eine Frage gestellt hatte.
Als jemand an die Tür seines Hotelzimmers klopfte, kehrte Simon in die Realität zurück und eilte zu den Taschen auf dem Bett.
»Ja?«, rief er dann.
»Zimmerservice«, kam die Antwort.
Simon nahm eine der Pistolen und eine Schachtel Munition aus einer der Taschen. Zeit, die Waffe zu überprüfen, hatte er nicht. Er lud zwei Patronen ins Magazin. Vorsichtig schlich er an der Wand entlang zur Tür. Er verlor keine Zeit damit, durch den Spion zu schauen. Warum sollte er sein Auge zur Zielscheibe machen? Er riss die Tür auf...
Vor ihm stand ein Zimmerkellner mit einem Teewagen. Der pickelgesichtige Junge war mit Sicherheit nicht älter als neunzehn.
»Es ist bei uns üblich, alle neuen Gäste mit einem kleinen Imbiss zu begrüßen«, sagte er mit starkem Akzent und trommelte nervös mit den Fingern auf den Teewagen, sodass seine verschwitzten Hände Abdrücke auf dem silbernen Metall hinterließen.
Simon starrte den Jungen an und schob die Waffe hinten unter den Hosenbund. Dann bat er den Jungen herein, ließ aber die Tür auf.
»Ein bisschen Wein und Käse zur Begrüßung, Sir.« Der Kellner schob den Wagen mit einer Auswahl an Weich- und Hartkäse, geräucherten Würsten, Obst und zwei Flaschen Rotwein ins Zimmer, die von guter Qualität waren, wie Simon mit Blick auf die Etiketten feststellte. Vielleicht wäre ein Glas Wein nach dem Auspacken keine schlechte Idee, dann könnte er besser schlafen.
»Darf ich eine Flasche Wein öffnen?« Der Junge lächelte und freute sich, dass der Gast sein Englisch verstand.
»Danke, aber ich muss noch ein bisschen arbeiten.« Simon drückte dem Jungen ein paar Euro in die Hand und führte ihn zur geöffneten Tür.
Und dann geschah es. Die Tür fiel ins Schloss. Die Fensterläden schlugen vor die Fenster. Die Jalousien rollten blitzschnell herunter. Das Zimmer wurde in Dunkelheit gehüllt. Simon blickte sich fluchend um und versuchte angestrengt, in dem dämmerigen Licht etwas zu erkennen. Da er nicht wusste, ob noch jemand den Raum betreten hatte, hielt er den Atem an und versuchte, sich ein Bild von der Situation zu machen. Wie viele waren es? Er lauschte angestrengt, hörte aber nichts. Allmählich gewöhnten seine Augen sich an die Dunkelheit, und er erkannte die undeutlichen Umrisse des Konferenztisches und der Couch. Durch eine Ritze in den Fensterläden auf der anderen Seite des Zimmers drang ein wenig Licht.
Der Kellner stand im Schatten und starrte Simon an, als würden Zweihundert-Watt-Birnen in dem Zimmer brennen. Der Junge wusste genau, wo Simon war, doch er bewegte sich nicht.
Sekunden wurden zur Ewigkeit. Niemand sagte ein Wort. Die Schatten traten jetzt noch deutlicher zutage, und Simon sah genug, um sich frei bewegen zu können. Er erkannte auch das Gesicht des Jungen. Und als würden Licht und Schatten ihm einen Streich spielen, sah er plötzlich Finsters Gesicht.
Reflexartig drückte Simon auf den Abzug, schoss beide Kugeln ab und traf Finster genau im linken Auge.
Simon erhob sich aus der Hocke. Finster blutete. Daran bestand kein Zweifel. Blut rann ihm über die Wangen, als würde das Auge eine Flut roter Tränen vergießen. Doch er stürzte nicht zu Boden. Stattdessen hob er lässig eine Hand und griff in sein Auge. Mit dem Zeigefinger und dem Daumen zog er zuerst die erste, dann die zweite Kugel aus der zertrümmerten Augenhöhle. Wo einst das Auge gesessen hatte, war jetzt nur noch ein blutiges Loch. Die Kugel musste direkt ins Gehirn eingedrungen sein, aber der Mann stand noch immer aufrecht.
Simon beobachtete fassungslos, wie Finster die beiden 9mm-Kugeln auf den Tisch legte und in seine Richtung schob.
»Bitte«, sagte er höflich. »Behalte sie.«
Ein leises Grollen war zu hören. Es war ein widerliches, feuchtes Geräusch, als ob Fleisch zerriss und sich an Fleisch rieb. Es drang aus Finsters tiefstem Inneren. Es war sein Auge. Es regenerierte sich, und Finster verhielt sich, als wäre das völlig normal – so wie Haar, das auf einem rasierten Schädel nachwächst.
Kurz darauf war das Auge wieder unversehrt. Finster starrte Simon an, ohne zu blinzeln.
Die leere Waffe flog Simon aus der Hand, als wäre sie ihm von einer unsichtbaren Kraft entrissen worden. Diese Kraft war überall, sie erfüllte das Zimmer wie eine elektrische Ladung. Simon spürte, dass die Kraft immer stärker wurde. Verzweifelt schaute er sich nach der großen blauen Reisetasche um, in der die Kreuze lagen. Er hätte sie zuerst auspacken sollen!
»Das stimmt, du hättest die Kreuze zuerst auspacken sollen«, sagte Finster, als könnte er Simons Gedanken lesen. »Anstatt dich ablenken zu lassen und einzuschlafen.«
»Du wirst sie nicht bekommen!«, stieß Simon hervor.
»Deine Seele?«, fragte Finster lachend. »Aber die habe ich doch schon. Du hast deine Seele vor langer Zeit verloren. Diese gebeugten Männer mit den weißen Kragen, für die nur die Worte der Bibel zählen, können jemandem wie dir auf keinen Fall die Absolution erteilen.« Er hob einen Finger, als wollte er Simon etwas Wichtiges mitteilen. »Ein kleiner Tipp, mein Freund, eine Art Betriebsgeheimnis. Nur wenn du deine Sünden bereust, wird dir vergeben.
Aber ich schweife ab. Das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich bin nicht auf der Jagd nach deiner Seele. In meinem Reich sind schon so viele bedauernswerte Seelen, dass ich kaum noch Platz habe. Ich kehre dorthin zurück, woher ich komme. Ich gehe nach Hause.«
Kaum war Finster verstummt, stürzte Simon sich auf ihn und schlug blindwütig mit den Fäusten auf den Körper und das Gesicht des Mannes ein. Finster wandte den Kopf ab. Als er sich einen Augenblick später wieder umdrehte, war er ein uralter Mann. Seine Kleidung war zerfetzt, und seine Handgelenke bluteten, als wären sie gefesselt gewesen. Wunden und groteske weiße Narben bedeckten sein Gesicht.
Simon wich ängstlich vor dieser Schreckgestalt zurück. Er keuchte, als hätte ihn eine riesige Faust getroffen.
»Ich habe um Vergebung gefleht, Simon. Ich wusste nicht, was aus mir geworden war. Mein Verstand setzte aus, als ich deine Mutter angegriffen habe. Sie hat mir verziehen. Warum kannst du es nicht? Warum kann ein Sohn seinem Vater nicht vergeben?«
Simon ballte erneut die Fäuste und schlug wieder auf den alten Mann ein. »Du hast meine Mutter vergewaltigt. Du hast ihr Leben zerstört. Du hast mich allein gelassen.« Selbst als der alte Mann allmählich zusammenbrach, setzte Simon seinen Angriff fort. »Du bist nichts weiter als ein böser Traum, ein furchtbarer Albtraum.«
Und plötzlich verschwand der alte Mann unter Simons Fäusten. Wo er einen Wimpernschlag zuvor noch gewesen war, stand jetzt eine dunkelhaarige Frau in einem dünnen, schwarzen Kleid. Ihre schneeweiße Haut und die Narben schienen hindurch. Sie wich vor Simon zurück, stolperte rückwärts und fiel zu Boden, als er auf sie einschlug.
»Mein Sohn, bitte ...«, bettelte sie.
Simon lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er begriff, dass er seine Mutter geschlagen und ihren entstellten Körper zu Boden geworfen hatte.
»Du hast ein kaltes Herz, Simon. Komm zu uns, dann ist unsere Familie wieder vereint.« Sie nahm Simons Waffe in die Hand und reichte sie ihm. »Ich bin nur einen Augenblick von dir entfernt, mein Sohn. Komm zu mir.« In ihrer linken Hand lag eine schimmernde Patrone.
Simon sank auf die Knie und starrte auf seine Mutter, die die Pistole in der Hand hielt. Er war erschüttert und zutiefst verwirrt. Seine Mutter, die ihm beigebracht hatte, stark zu sein, sagte ihm, es sei an der Zeit, ihr zu folgen und sich das Leben zu nehmen?
Dann aber hob er den Blick, schaute ihr in die Augen und schlug ihr die Waffe aus der bleichen Hand. Seine tränennassen Augen waren hasserfüllt. »Alles, was du sagst, sind Lügen. Man wird dir Einhalt gebieten.«
Die Gestalt vor Simons Augen begann zu flimmern. Wie ein Bild, das noch scharf gestellt werden musste, wechselte es zwischen seiner gefolterten Mutter und seinem grausamen Vater hin und her. Nur die Augen veränderten sich nicht. Sie blieben leblos, kalt und böse.
»Du konntest mich noch nie aufhalten. Wie kommst du darauf, dass du es jetzt kannst ?«, sagte sein Vater mit zischender Stimme.
Simon prallte gegen die Wand. Der alte Mann war verschwunden. An seiner Stelle war wieder Finster erschienen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schwebte Simon fast einen halben Meter über dem Boden. Tief unter seiner Haut begann es zu brodeln. Es bildeten sich winzige Bläschen wie in einem Topf mit heißem Wasser, kurz bevor es kochte. Sein Fleisch wölbte sich. Die kleinen Bläschen wurden größer, stiegen bis unter die oberste Hautschicht und verzerrten sein Gesicht. Simon schrie.
Finster nahm die Waffe, überprüfte sie und ging dann auf Simon zu. »Glaubst du, es ist schwierig, die Seele deiner Mutter zu finden?« Dann starrte er auf die Waffe, wog sie in der Hand und spürte ihre tödliche Macht. »Ich liebe solches Spielzeug.« Er hob die Glock und richtete sie auf Simon. Dann aber änderte er seine Meinung. Er beugte sich an Simons Ohr und flüsterte in leisem, väterlichem Tonfall: »Ich kehre in den Himmel zurück, aus dem ich verbannt wurde. Warum nur die Welt erobern, wenn ich die Ewigkeit beherrschen kann?«
Simon fuhr aus dem Schlaf hoch. Sein Herz klopfte heftig, und auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen. Die Jalousien waren geöffnet. Die Nacht war hereingebrochen. Er schaute sich um. Seine Taschen lagen noch ungeöffnet auf dem Bett, und sein Gesicht war unversehrt.
»Michael?«, rief er und schaute auf die Uhr: halb neun. Er erinnerte sich nicht, eingeschlafen zu sein. Sein Kopf musste auf den Schreibtisch gesunken sein, als er sich die Skizzen angesehen hatte. Jetzt war sein Nacken von der unbequemen Haltung verspannt, und seine Glieder schmerzten von dem langen Flug.
Er schaute in die Minibar. Nur sechs der winzigen Whiskyflaschen – nicht genug, um sich zu betrinken. Er griff nach dem Telefon.
»Zimmerservice?«, meldete sich eine Stimme. »Was können wir für Sie tun?«
»Ich brauche eine Flasche Whiskey und Eis.«
»Sofort, Sir«, erwiderte der Zimmerkellner. »War die Käseplatte nach Ihrem Geschmack?«
Simon warf einen Blick auf den Teewagen. Er hatte das Essen nicht angerührt, und die Weinflaschen waren nicht geöffnet. »Ja, sehr gut.«
Simon legte auf. Er starrte noch immer auf den Teewagen. Dann strich er sich mit den Händen durchs Gesicht und fühlte keine einzige Beule oder Wunde. Er riss die Reisetasche auf und nahm die Schachteln mit der Munition heraus. Sie waren alle versiegelt.
Erleichtert atmete Simon auf.
Es war nur ein böser Traum gewesen, ein schrecklicher Albtraum.
Aber wie ließen sich die Dinge auf dem Tisch erklären? Am Rand des Tisches lagen zwei verbeulte 9mm-Kugeln ...