48.
Thal presste Simon und Michael die Mündungen seiner Waffen in den Rücken und führte sie durch die Eingangstür ins Freie. Sie kamen an den toten Söldnern auf der Auffahrt vorbei, als sie sich zu der schwarzen Stretchlimousine bewegten. Sowohl Michael als auch Simon waren verletzt, blutüberströmt und benommen. Ihr Verstand weigerte sich noch immer, die Existenz der ungeheuren Macht zu akzeptieren, deren Opfer sie soeben geworden waren.
Thal zog zwei Paar Handschellen aus der Tasche, fesselte Michael und Simon die Hände hinter dem Rücken und öffnete die Beifahrertür. Dann stieß er beide ins Fahrzeug, dessen Motor noch lief, setzte sich hinters Steuer und richtete seine Waffe auf Simons Kopf. Langsam fuhr er in die Dunkelheit, an den riesigen Gärten und den turmhohen Mauern vorbei und von der Einfahrt herunter, bis sie schließlich bei dem alten Brunnen hielten.
Thal stieg aus, riss die Beifahrertür auf, zerrte Michael brutal an den Haaren heraus und schleuderte ihn gegen den Steinbrunnen, wo Michael zusammenbrach, während das Licht der Autoscheinwerfer die Szenerie wie eine Bühne erhellte. Thal lief wieder zum Wagen und kehrte mit Simon zurück, dem er ein Messer an die Kehle presste.
»Ich habe noch nie einen Priester getötet.« Thal stieß Simon zu Boden, der von Finsters Angriff so geschwächt war, dass er keinen Widerstand leistete.
Im Licht der grellen Halogenscheinwerfer war es taghell, und überall fielen lange, scharfe Schatten. Es erweckte beinahe den Eindruck, als wären sie in einem hell erleuchteten Operationssaal, umringt von Zuschauern, die im Dunkeln standen. Thal steckte die Waffe unter den Hosenbund und legte ein Sortiment furchteinflößender Messer auf den von Tau bedeckten Rasen: Sägemesser und Butterfly, Filiermesser, Fleischmesser und eine Knochensäge. Ein Sortiment, das in eine Metzgerei gepasst hätte.
Jetzt aber sollte es einem viel bösartigeren Zweck dienen.
Thal blickte Michael an. »Haben Sie schon mal gesehen, wie einem frisch erlegten Wild das Fleisch von den Knochen gelöst wird?«, fragte er mit nüchterner Stimme.
Michael bekam keinen Ton heraus, starrte Thal nur hilflos an.
»Jetzt werden Sie gleich erfahren, welches Vergnügen Sie erwartet.« Thal nahm das Filiermesser in die Hand. »Das hier ist das schärfste Messer von allen. Es schneidet Fleisch wie Butter. Es ist so scharf, dass man kaum etwas spürt, bis die kalte Luft über die freigelegten Nerven streicht, wo vorher noch Fleisch gewesen ist.« Thal presste seine Knie gegen Simons Kopf, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. »Ich habe die Geschichte von Ihrer Mutter gehört. Die hat mich richtig inspiriert.«
»Retten Sie Ihre Seele«, flüsterte Simon, dessen Gesicht ins Gras gepresst wurde.
»Ist das ein Standardsatz, den man im Priesterseminar lernt ?«
»Sie sind mit dem Teufel im Bunde.«
»Oh ja. Jetzt geht's los. Halleluja, Amen, Jesus Christus, rette mich, o Herr, und so weiter.« Thal verdrehte die Augen. »Verschonen Sie mich damit. Sie stören meine Konzentration.« Mit der Geschicklichkeit eines Chirurgen schnitt Thal das Hemd von Simons Rücken.
Michael, der vor dem Steinbrunnen lag, wand sich verzweifelt. Ein tiefes Stöhnen drang aus seiner Brust.
»Dieses Messer ist die Klinge eines Künstlers. Man hält es wie einen Pinsel zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger.« Thal führte es ihnen vor.
Michaels Blick fiel auf Thals Hand. Sein kleiner Finger und der Ringfinger standen in einem ungewöhnlichen Winkel ab. Bisher war ihm das nicht aufgefallen, aber jetzt...
Dann fiel es ihm ein, und er verlor vollends den Mut.
Diese Werkzeuge hatte er schon einmal gesehen. Er erinnerte sich an eine längst vergangene Nacht, als ihm sein eigenes Messer in die Schulter gerammt worden war, ehe er von einem Wahnsinnigen über den Boden einer Künstlerwerkstatt gezerrt wurde ... Michael hatte bis zum heutigen Tage Schmerzen in der Schulter, wenn das Wetter umschlug. Er erinnerte sich, dass er in jener Nacht zum ersten Mal den Wunsch verspürt hatte, einen Menschen zu töten, einen abscheulichen Killer, der sich anschickte, eine Frau auf unmenschliche Weise zu foltern.
»Wie geht es Ihrer Schulter?« Thal grinste. Er schien Michaels Gedanken lesen zu können.
Die Werkzeuge, die vor Michael im Gras lagen, waren dieselben, die er vor fünfeinhalb Jahren in einer Wohnung an der Fifth Avenue gesehen hatte. Es war Dennis Thal gewesen, der Helen Staten überfallen und sich darauf vorbereitet hatte, ihren nackten Körper zu verstümmeln. Wegen Thal hatte Michael damals seine Flucht aus der Botschaft von Akbikestan abgebrochen. Thal war der Mann gewesen, gegen den er in der Wohnung von Helen Staten gekämpft hatte. Wegen Thal war er geschnappt worden und ins Gefängnis gewandert ...
»Jetzt verstehen Sie bestimmt, warum Sie mich so sehr interessieren«, sagte Thal fröhlich und wandte sich wieder seinen Messern zu. »Das sind nur ein paar Fingerübungen, damit Sie einen Vorgeschmack auf das bekommen, was Sie erwartet. Vorfreude ist die schönste Freude, nicht wahr ? Ich denke nun schon seit geraumer Zeit über die Art und Weise Ihres Ablebens nach. Ich hatte gehofft, dass ich am Ende belohnt werde, wenn ich Finster empfehle, Sie zu engagieren, die Schlüsse] zu stehlen. Und nun ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen.«
Hilflos krümmte sich der mit Handschellen gefesselte Michael vor dem Brunnen. Galle stieg ihm in die Kehle.
»Bleiben Sie ruhig«, sagte Thal kichernd. »Sie könnten mich erschrecken, und dann rutscht möglicherweise meine Hand ab, sodass diese schöne Klinge ins Herz Ihres Freundes dringt.«
Simon versuchte, seinen Körper vom Verstand und den Gefühlen zu trennen. Er hatte die Bilder seines Vaters vor Augen, der seine Mutter auf dieselbe entsetzliche Art und Weise gequält hatte. Sie hatte ihr Schicksal ertragen. Und nun war er an der Reihe. Er würde Schreckliches erleiden und seine Seele verlieren.
Mit höchster Konzentration beugte Thal sich über Simon und schickte sich an, Fleisch von einem Muskel zu schneiden. Er vergaß alles rings um sich.
Und das war sein Untergang. Er hörte das leise Pfeifen nicht, als der Fuß durch die Luft schoss, und er sah auch den Schatten des wütenden Riesen nicht. Die mit einer Stahlkappe verstärkte Stiefelspitze traf Thal genau am Ohr und schleuderte ihn zu Boden. Er rutschte durchs feuchte Gras. Aus seinem Ohr floss Blut. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, aber eines wusste er: Der Riese wollte ihn töten.
Wie ein in die Enge getriebenes Tier sprang Thal auf und zog seine Waffe vom Gürtel. Dann standen beide Männer sich Auge in Auge gegenüber. Beide hielten Waffen in der Hand und richteten sie auf den jeweils anderen.
»Das hier ist nicht ganz Ihr Zuständigkeitsbereich, Busch«, spottete Thal.
»Das hier hat nichts mit dem Gesetz zu tun.« Unbeirrt richtete Paul die Pistole auf Thal.
Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte Thal Angst, wahnsinnige Angst. Sie stieg ihm von den Füßen bis ins Herz und spiegelte sich in seinen Augen. Thal hatte sein Leben lang die panische Angst genossen, die er anderen Menschen einflößte. Sie war für ihn die reinste Sinnenfreude. Doch bis zu diesem Augenblick hatte er noch nie erlebt, dass sich ein anderer an seiner Angst weidete. Thal war wie gelähmt. In seinem Kopf herrschte Chaos. Und dann tat er das Einzige, was ihm einfiel: Er rannte davon, wobei er auf Paul feuerte.
Paul rollte über den Boden und erwiderte die Schüsse. Thal verschwand in der Dunkelheit hinter den Scheinwerfern. Michael und Simon, die noch immer im Licht der Scheinwerfer auf der Erde saßen, boten Thal ideale Zielscheiben. Paul reagierte sofort. Er packte Michael und zerrte ihn in die Schatten hinter dem Brunnen. Ohne eine Sekunde zu verlieren, rannte er zurück ins grelle Licht des Wagens, um Simon zu holen. Während hinter ihm Schüsse abgefeuert wurden und die Kugeln den Boden in unmittelbarer Nähe aufrissen, packte Paul den Priester an den Füßen, zog ihn durch den Kugelhagel in den Schutz der Brunnenmauer und lehnte ihn gegen den Brunnenrand.
Dann drehte er sich um und ergriff die Handschellen hinter Michaels Rücken, drückte sie gegen die Steinmauer des Brunnens und befahl: »Jetzt bloß nicht bewegen.« Er setzte die Mündung der Waffe auf die Kette zwischen den Handschellen, drückte ab und zerschoss sie. Gleich darauf hatte er Simons Handschellen ebenfalls zerschmettert.
»Bleibt hier«, stieß Paul hervor, ehe er zurück in die Nacht rannte.
Paul kroch durchs Gras und hielt sich im Schutz der Dunkelheit. Nur das leise Geräusch des Motors war zu hören. Wenn es ihm gelang, in die Limousine zu springen, könnte er seine Freunde holen und verschwinden. Selbst wenn Thal die Reifen zerschoss, könnten sie sich weit genug von dem Killer entfernen, um außer Gefahr zu sein.
Paul schlich hinter den schwarzen Wagen. Dabei war er sich bewusst, dass er jeden Augenblick erschossen werden konnte. Er war noch immer aufgewühlt. Es war kein Zufall, dass Thal plötzlich in sein Leben getreten war und dass dieser Mistkerl mit Finster unter einer Decke steckte. Paul hatte sich stets auf seine Instinkte verlassen können. Jetzt bedauerte er, nicht auf seine innere Stimme gehört zu haben, als sie ihn vor Dennis Thal gewarnt hatte.
Diesmal aber würde er nicht mehr zögern und sich gar nicht erst damit aufhalten, diesem Dreckskerl die Meinung zu sagen. Er würde Thal auf der Stelle erschießen. Zum Teufel mit den Gesetzen!
Kugeln durchschlugen die Motorhaube der Limousine. Paul wurde hinter dem Wagen festgenagelt. In seinem Magazin waren noch fünf Schuss, aber die nutzten ihm nichts, wenn es Thal gelang, ihn abzuknallen ...
Paul rannte los und riss die Fahrertür auf.
Die Kugel drang in seine rechte Schulter. Sein Arm fiel kraftlos herunter, und die Wucht des Einschlags warf ihn gegen den Wagen. Paul verlor den Halt und stürzte zu Boden.
Mit der linken Hand tastete er nach der Waffe. Er griff ins Gras, verdrängte den Schmerz in seinem Arm und hatte seine Pistole fast erreicht...
Der Stiefel traf ihn mit voller Wucht. Er schrie auf, als die Knochen unter dem brutalen Tritt brachen. Thal hockte sich hin, hob Pauls Waffe auf und schleuderte sie in die Dunkelheit.
»Hallo, Peaches.« Aus Thals Ohr rann Blut. »Fehler über Fehler. Einige übersieht man schnell, andere können fatale Folgen haben. Was ist mit dem Gesetz passiert?«, spottete er. »Erinnern Sie sich an das Gesetz? Ihr Gesetz? Keine Kompromisse. Das Gesetz steht über allem.«
Die Anschuldigungen setzten Paul ebenso zu wie die Schmerzen. Er war noch immer Polizist. Thal beschuldigte ihn, die Gesetze nicht mehr zu beachten, aber das entsprach nicht der Wahrheit. Thal konnte nicht begreifen, dass in dieser Situation ein höheres Gesetz in Kraft trat: das Gesetz der Freundschaft und Loyalität. Ein Kompromiss, den einzugehen Paul seiner moralischen Grundsätze wegen verpflichtet war. Mitunter hatte man die Macht und das Bedürfnis, ein Auge zuzudrücken, während das Leben kurzfristig eine andere Richtung einschlug. Aber man musste immer die Konsequenzen tragen.
Thal verlagerte sein ganzes Gewicht auf Pauls Hand. Die Rücklichter der Limousine warfen blutrote Schatten auf Thals Gesicht. Er schob ein neues Magazin in seine Pistole und lud sie durch. Lächelnd richtete er die Waffe auf den Kopf des Mannes, den er bis aufs Blut verabscheute. »Bei Ihnen wird es schnell gehen, doch bei Ihrer Frau wird es umso länger dauern ...«
Paul wurde kalkweiß, als seine schlimmsten Ängste Wirklichkeit zu werden drohten.
Thal umfasste die Waffe mit beiden Händen und zielte seelenruhig auf ihn. Paul schloss die Augen.
Unvermittelt, von einer Sekunde zur anderen, strömte die Luft aus Thals Körper. Er wurde rückwärts gegen die Limousine geworfen. Alles ging so schnell, dass er nicht die Zeit fand, sich vor dem zweiten und dritten Schlag zu schützen. Michael und Simon hatten sich auf ihn gestürzt und schlugen blindwütig auf ihn ein. Genauso plötzlich, wie sie ihn angegriffen hatten, ließen sie von ihm ab und traten zurück.
Thal konnte kaum noch stehen. Die Waffe war ihm aus der Hand gefallen. Zum zweiten Mal in dieser endlosen Nacht wartete er auf den tödlichen Schuss.
Doch der kam nicht. Paul, Simon und Michael blickten Thal an, ohne sich zu bewegen und ohne das leiseste Geräusch zu machen. Stumm starrten sie ihn an und warteten. Thal wusste nicht, was er davon halten sollte. Dann erst stellte er fest, dass er nicht mehr atmen konnte. Er presste eine Hand auf seinen Leib. Als er sie wegzog, war sie klebrig und blutverschmiert.
Die Erinnerungen an seine Opfer kehrten zurück. Helen Staten, James Staten, die Frauen und die Männer, Dutzende von Opfern ... alle starrten ihn schweigend an und wurden stumme Zeugen seines Todes.
Das Skalpell war so scharf, dass Thal den Schnitt gar nicht gespürt hatte. Er hatte nicht einmal gesehen, wie Simon ihm die Bauchdecke aufgeschlitzt hatte, sodass sein Inneres nun aus der klaffenden Wunde quoll.
Er taumelte, stürzte zu Boden.
Dann legten die kalten Tentakel des Todes sich um ihn. Er starb mit einem stummen Schrei auf den Lippen.