35.

Die Straße vor der kleinen Steinkirche war kaum befahren, wie Michael feststellte, als er aus einem der bunten Kirchenfenster schaute. An diesem stillen Ort, an dem es nach Weihrauch und Wachs roch, erinnerte er sich an die Zeit, als ihm dies alles noch etwas bedeutet hatte. Leise hatte er die Gebete von Damico nachgesprochen, dem alten Priester mit dem krummen Rücken und der Schwäche für Gnocchi und Sambuca. Wenn Michael in seiner Kindheit die Gemeindekirche betrat, hatte er Erleichterung und Trost verspürt. Es war ein Ort, den er immer aufsuchen konnte, um zu beten oder einen Gefallen zu erbitten oder einfach nur, um zu reden. In der Kirche hatte er zu Gott gesprochen. Und Gott hatte ihn erhört. Michael hätte schwören können, dass Gott ihm als Kind sogar geantwortet hatte. Das war sein eigenes kleines Wunder.

Doch als Michael älter wurde, hatte er immer deutlicher das Gefühl gehabt, dass Gott ihm nicht mehr richtig zuhörte. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass Gott ihm nie richtig zugehört hatte. Als sich ihm die Welt eröffnete und er sie so sah, wie sie wirklich war, fühlte er sich betrogen. Er hatte niemals ein Wunder erlebt. Was er für Gottes Stimme gehalten hatte, war nur sein eigenes Unterbewusstsein gewesen, das mit ihm sprach und ihm die Antworten gab, die er tief in seinem Inneren bereits kannte.

Alles, was er als Kind gelernt hatte, alles, woran er glaubte, als er älter wurde, war eine Lüge wie die Titanen der griechischen Mythologie oder die nordischen Göttersagen von Thor und Odin. Auch Gott war nur ein Märchen, an das sich die Ängstlichen in schweren Zeiten klammerten. Etwas, das ihnen angeblich Halt gab und das auf alles Unerklärliche eine Antwort parat hatte.

All diese Pracht und Herrlichkeit, dieses selbstgefällige Verhalten der Priester ... sie waren für Michael der Inbegriff der Scheinheiligkeit geworden. Sie waren die Manifestation der Lüge, indem sie diesen grausamen Mythos in einer gleichgültigen Welt aufrechterhielten. Jeder war davon überzeugt, dass sein Gott wahrhaftig war und obendrein der richtige Gott. Alle glaubten, dass sie und ihre Glaubensbrüder die Einzigen auf dem Planeten wären, die Frieden und Trost im Leben nach dem Tod finden würden.

Doch dann hatte er Mary kennen gelernt, und er hatte ihren Glauben akzeptiert und es nie gewagt, mit ihr über Glaubenskonflikte zu sprechen. Er war verliebt – und was tat man nicht alles aus Liebe. Jeden Sonntag ging er mit ihr in die Kirche und saß neben ihr, aber nicht ins Gebet, sondern in Gedanken versunken. Es war sein eigenes kleines Ritual, und er nutzte die Zeit, um über Mary und das Leben, über Kinder und die Arbeit nachzudenken. Er tat so, als würde er die Messe aufmerksam verfolgen, wie er es als Kind gelernt hatte, während er seine wahre Meinung für sich behielt. Doch als er von Marys Diagnose erfahren hatte, war es Michael nicht mehr gelungen, den Schein zu wahren. Er hatte recht. Gott existierte nicht.

Und jetzt saß er hier in dieser Kirche, rannte vor seinen Verfolgern davon und wusste nicht einmal, warum er gejagt wurde.

Michael umklammerte Marys goldenes Kreuz. Er spürte nichts Spirituelles, aber er spürte sie. Der kleine goldene Glücksbringer gehörte Mary, und sie hatte ihn gebeten, ihn zu tragen und ihn nicht mehr abzulegen. Und das würde er auch nicht tun. Vielleicht würde das Kreuz ihn ja beschützen – nicht etwa, weil es irgendeine spirituelle Bedeutung hatte, sondern weil es ihn daran erinnerte, warum er hier in Deutschland war und sich in dieser Kirche versteckte: aus Liebe. Es hatte nichts mit dem zu tun, was er glaubte, sondern damit, woran Mary glaubte.

Es war Mittagszeit. Ein paar Gläubige waren im Laufe des Morgens gekommen, hatten Kerzen angezündet und sich schweigend zum Gebet niedergekniet. Michael näherte sich unauffällig dem Altar und schaute auf das rote Neonschild »Notausgang«, das in dieser zweihundert Jahre alten Kirche befremdlich wirkte. Langsam öffnete er die Tür. Niemand zu sehen. Er stieg die Treppe hinunter.

An der Ecke stand ein Verkäufer, der Brezeln und Limonade verkaufte. Es war zehn Stunden her, seit Michael im Flugzeug eine Tüte Erdnüsse gegessen hatte. Er war hungrig, durstig und müde. An Schlaf war im Augenblick nicht zu denken, aber gegen den Hunger musste er etwas unternehmen. Ein kleiner Umweg hätte sicherlich keine bösen Folgen.

Er schaffte es nicht einmal über die Straße. Ein Dutzend Streifenwagen hielten mit kreischenden Reifen vor ihm an. Polizisten mit durchgeladenen Waffen sprangen heraus, umringten ihn und richteten die Pistolen auf ihn.

Michael brauchte keinen Dolmetscher. Er verstand auch so, was sie von ihm wollten.

Er hob die Hände und ergab sich.

Der dunkle Pfad Gottes
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