16.

Im Old Stand herrschte Hochbetrieb. Die Gäste standen dicht gedrängt an der Theke. Es regnete in Strömen, und der Alkohol floss ebenfalls in Strömen. Die Softballspiele fielen heute Abend ins Wasser; nun war Trinken angesagt. Man konnte sich nur schreiend verständigen. Wer hierhergekommen war, um in Ruhe ein Bier zu trinken, hatte Pech gehabt.

Michael saß hinten in der Kneipe an einem Tisch und wartete. Er saß bereits eine Stunde dort und nippte noch immer am ersten Glas. Als Mary eingeschlafen war, hatte er ihr Zimmer verlassen, Paul vom Handy aus angerufen und ihn gebeten, sich in der Kneipe mit ihm zu treffen. Michael war völlig am Ende und hatte sonst niemanden, an den er sich wenden konnte. Er brauchte dringender als je zuvor einen Freund.

Und nun saß Michael hier und wartete. Er musste Paul beichten, dass er gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Er hatte ihre Freundschaft schändlich ausgenutzt. Die Schuld, seinen Freund betrogen zu haben, wog schwer, doch die, seine Frau betrogen zu haben, war noch tausend Mal schlimmer. Immer wieder dachte Michael darüber nach, was dieser Simon gesagt hatte. Wenn die Pforte des Himmels geschlossen war – und das schien immer wahrscheinlicher geworden zu sein, so verrückt es sich auch anhörte –, hatte er Marys Hoffnung auf ein ewiges Leben zerstört. Er hatte ihren Glauben auf eine unvorstellbare Weise verletzt. In Michaels Kopf herrschte ein Chaos wirrer Gedanken, die sogar den Lärm in der Kneipe übertönten.

Kurz darauf quetschte sich ein verärgerter und wütender Paul in die Ecke, in der Michael saß. Paul bemühte sich nach Kräften, seine Wut zu zügeln. Michael senkte den Blick und schwieg.

»Wo warst du ?«, fragte Paul.

»Ich musste ein paar Dinge erledigen.«

»Das ist doch Blödsinn, Michael. Rück endlich mit der Sprache raus. Wo bist du in den letzten zehn Tagen gewesen ?«

Michael starrte Paul an und wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte das Donnerwetter schnell über sich ergehen lassen und dann sofort zu Mary zurückkehren.

»Weißt du eigentlich, in was für eine Lage du mich gebracht hast?«, fuhr Paul wütend fort. »Ich habe dich fast zwei Wochen lang gedeckt, mein Junge, und das kann mich meinen Job kosten, kapiert?«

»Ich komme gerade aus dem Krankenhaus«, sagte Michael leise.

Als Paul den Blick zu ihm hob, verschwand die Wut aus seinen Zügen, denn Michaels Miene sprach Bände. Paul wusste sofort Bescheid.

»Wie schlimm ist es ?«

»Es ist hoffnungslos«, sagte Michael.

»Ich ...«, stammelte Paul. Er hatte vorgehabt, Michael in der Luft zu zerreißen; jetzt vergaß er seine Wut. »Was kann ich tun, Mike?«

Michael schaute seinen Freund an, ohne seine Frage zu beantworten. In seinen Augen spiegelten sich Gewissensbisse und Angst.

»Ich habe Mist gebaut«, sagte Michael leise und senkte den Kopf, als würde er eine Beichte ablegen.

»Wie meinst du das ?« Paul runzelte die Stirn. »Was hast du getan?« »Ich habe Mary verdammt.«

Paul runzelte verwirrt die Stirn. Jetzt machte er sich nicht nur Sorgen um Mary.

»Ich habe alles zerstört, woran sie glaubt.«

»Was redest du da ? Es ist nicht deine Schuld, dass sie krank geworden ist.«

»Es heißt, dass die Menschen, die wir lieben, immer den Preis für unsere Sünden bezahlen ...«

»So ein Blödsinn. Marys Zustand hat nichts damit zu tun, wer du bist und was du getan hast.«

»Warum kann ich nicht an ihrer Stelle im Krankenhaus liegen?«

»Hör auf, so zu reden. Es ist nicht deine Schuld. Auf dieser Welt passieren nun mal Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Sie geschehen, und niemand weiß, warum.«

»Ich wünschte, ich könnte sie zurückbringen.«

»Was zurückbringen?« Paul war verwirrt. »Mike, was hast du getan?«

»Ich war in Europa.« Michael holte tief Luft. »Und habe zwei Schlüssel gestohlen.«

»Was denn für Schlüssel ?«, fragte Paul.

»Ich habe die Schlüssel gestohlen, um Marys Behandlung zu bezahlen.«

»Ich verstehe nicht...«, sagte Paul verwirrt.

»Ich habe die Schlüssel an Finster verkauft, den Milliardär. Er ist der Teufel, Paul! Ich habe die Schlüssel an den Teufel verkauft!« Es fiel ihm schwer, seine eigenen Worte zu glauben.

»Mike ... ?«

»Es waren die Schlüssel zum Himmelreich. Die Schlüssel für die Himmelspforte.«

Fassungslos starrte Paul Michael an. Er wusste nicht, wie er mit diesem offensichtlichen Nervenzusammenbruch seines Freundes umgehen sollte. »Du redest Blödsinn, Michael.« Paul rutschte auf seinem Stuhl ein Stück nach vorn. »Ich weiß, das du unter gewaltigem Stress stehst...«

Michael blickte ihm in die Augen. »Das ist die Wahrheit.«

Paul sah es ihm an. Michael glaubte tatsächlich, was er sagte, und das machte Paul Angst. Er hatte es schon mehr als einmal mit verrückten Kriminellen zu tun gehabt. Er wusste, dass sie an ihre eigene Welt glaubten, an ihre eigene Definition von richtig und falsch, von gut und böse.

Aber so etwas ...

»Du glaubst allen Ernstes, was du da sagst? Du glaubst wirklich ...«

»Es spielt keine Rolle, was ich glaube«, unterbrach Michael ihn. »Wichtig ist, was Mary glaubt. Ich habe ihr das genommen, was ihr wichtiger ist als alles andere: ihren Glauben, ihr ewiges Leben.«

Paul hatte plötzlich wahnsinnige Angst. Sein bester Freund schien durchgedreht zu sein, und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Vielleicht war es am besten, ihn mit wirklichen Problemen zu konfrontieren. »Hör zu, Michael, da ist noch eine Sache ...«

Michael beugte sich vor.

»Du hast gegen deine Bewährungsauflagen verstoßen. Wir müssen uns darum kümmern.«

»Das ist meine geringste Sorge.«

»Nein, ist es nicht. Könnte sein, dass du wieder in den Knast wanderst.«

»Ich habe dir das alles im Vertrauen erzählt, Paul. Als Freund.«

»Ja, du bist mein Freund, Michael, aber Gesetz ist Gesetz. Wenn jemand herausbekommt, dass du das Land verlassen hast, sitzen wir beide im Dreck.«

»Ich muss das, was ich Mary angetan habe, wieder geradebiegen.« Michael schien ihm gar nicht zuzuhören.

»Du bist verrückt, Michael. Du gibst dir die Schuld an Marys Krankheit.«

»Ich muss los.« Michael stand auf und blickte Paul vorwurfsvoll an. »Danke für deine große Hilfe ...«

Die sarkastische Bemerkung versetzte Paul einen Stich. »Ich kann dich nicht gehen lassen, Michael«, sagte er. »Tut mir leid.«

»Was willst du denn tun ? Willst du mich in den Knast werfen, während meine Frau stirbt?«

Jetzt war Paul wieder so wütend wie bei seiner Ankunft in der Kneipe. Michael hatte den Spieß umgedreht und ihm den Schwarzen Peter zugeschoben. »Fahr zur Hölle!«

Michael ging zur Tür und murmelte: »Ich bin schon auf dem Weg dorthin.«

Pauls Kinder kreischten vor Vergnügen. Die beiden hatten eine für Geschwister ungewöhnlich enge Beziehung. Wie kleine Tornados wirbelten sie mit ihren Plastik-Laserschwertern durch die Wohnung.

Doch Paul bekam es kaum mit. Als würde er in einer schalldichten Blase sitzen, stocherte er schweigend in seinem Essen und nahm die Kinder kaum wahr. Er hatte keine Lust zu reden. Im Augenblick hatte er zu gar nichts Lust. Er verlor zwei seiner besten Freunde: Mary starb an Krebs, und Michael verlor den Verstand, und er konnte nichts für sie tun. Nie zuvor hatte er sich so hilflos gefühlt.

Und wie um alles noch schlimmer zu machen, hatte Michael ihm den Rücken zugekehrt. Wie konnte dieser Mann gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen, nach allem, was Paul für ihn getan hatte? Er spürte eine solche Leere in sich, als hätte der Sommerwind plötzlich alles weggefegt, wofür er jemals gekämpft hatte.

Jeannie saß ihm schweigend gegenüber und wartete, bis er von selbst erzählte. Es war besser, wenn sie ihn nicht bedrängte. Normalerweise half Paul ihm, sich den Kummer von der Seele zu reden.

Die Kinder tobten noch immer herum, und Pauls schalldichte Blase bekam Risse. Jeannie sah ihm an, dass er verärgert war. »He, ihr zwei, ein bisschen leiser«, sagte sie und hoffte, das Unvermeidliche zu verhindern.

Aber es waren Kinder, und sie kreischten noch lauter, tobten noch ausgelassener. Und dann passierte es: Robbies Arm schwang durch die Luft und erwischte die Glaskaraffe auf dem Tisch. Sie fiel zu Boden und zerbrach. Die klebrige Limonade spritzte durch die Luft.

Paul sprang auf. »Könnt ihr nicht auf eure Mutter hören? Ich habe es satt! Hier wird sich einiges ändern! Habt ihr verstanden?«

Jeannie schickte die verängstigten Kinder auf ihr Zimmer. »Los, ihr zwei, nach oben. Schlafanzüge anziehen, Zähne putzen, und dann könnt ihr euch einen Film anschauen.«

Als Jeannie sich wieder zu Paul umdrehte, nachdem die Kinder verschwunden waren, ging dieser nervös hin und her. Er strich sich über die Stirn und ballte die Hand immer wieder zur Faust, als würde er die Manschette eines Blutdruckmessgeräts aufpumpen.

»Was ist mir dir?«, fragte Jeannie besorgt. »Warum hast du so miese Laune?«

Paul seufzte. »Es geht um Michael. Er hat gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen. Er hat es mir selbst gesagt.« Erschöpft sank er wieder auf seinen Stuhl, als hätten ihm schon diese wenigen Worte zu viel Kraft abverlangt. Dann fuhr er leise fort: »Er hat etwas gestohlen ... in Europa.«

»In Europa? Ich dachte, er wollte in den Süden reisen«, erwiderte Jeannie erstaunt. »Was wirst du jetzt tun?«

Paul zuckte die Achseln. »Ich muss ihn aufs Revier bringen.«

»Muss das sein? Es gibt bestimmt eine logische Erklärung für alles«, sagte Jeannie besorgt.

»Ja. Er hat es getan, um Marys Behandlung zu bezahlen.«

»O Gott...« Jeannie konnte sich vorstellen, wie schmerzhaft das alles für Paul war. Er würde das Leben seines besten Freundes ruinieren, weil er als Polizist nicht anders handeln konnte. Und wie würde Mary in ihrem jetzigen Zustand darauf reagieren ?

»Ich habe die Gesetze nicht gemacht, Jeannie. Es ist nicht meine Aufgabe, mir Erklärungen anzuhören. Dafür ist der Richter da.«

»Sie werden Michael ins Gefängnis stecken, und das wird Mary umbringen ...«

»Jeannie.« Paul schaute sie an. »Marys Behandlung hat nicht angeschlagen. Der Krebs ist stärker.«

Jeannie war eine starke Frau, doch nun saß sie schockiert auf ihrem Stuhl. Tränen traten ihr in die Augen. Mary war seit der High-School ihre beste Freundin. »Sind die Arzte ganz sicher? Es muss doch etwas geben ...«

Paul schüttelte den Kopf. Es gab nichts, was er ihr hätte sagen können, um ihr Hoffnung zu machen.

Eine ganze Weile saßen sie schweigend da. Jeannie war seit fünfzehn Jahren mit Paul zusammen. In all den Jahren war er der Fels in der Brandung gewesen, der Stärkere von ihnen beiden. Er war zu zahllosen Beerdigungen gegangen: Seine Mutter und sein Bruder waren im Abstand von nur drei Monaten gestorben; Kollegen waren gestorben, Freunde, sogar sein Partner im Job, der im Dienst erschossen worden war.

Nie hatte Jeannie Paul weinen sehen.

Bis heute Abend. Als die Tränen nun flössen, schien es, als würde der Kummer seines ganzen Lebens aus ihm strömen.

Paul stand in der Tür des Kinderzimmers und schaute auf seine schlafenden Kinder, die sich in ihre weißen Sommerdecken eingerollt hatten. Sie waren so unschuldig, so optimistisch. Das Leben hatte ihnen ihre Träume noch nicht gestohlen. Die Eltern versuchten immer, die Welt ihrer Kinder vor der harten Realität der Erwachsenen zu schützen.

Paul schämte sich, dass er seinen Sohn und seine Tochter so angebrüllt hatte. Sie hatten sich nur wie Kinder benommen; das war keine Sünde. Dabei hatte Paul sich so viel Mühe gegeben, anders als sein strenger Vater zu sein. Er hatte sich aufgeopfert, um Teil ihrer Erziehung zu sein, ihr Vater und ihr bester Freund zugleich – alles das, was sein eigener Vater für ihn selbst nicht gewesen war.

Paul beugte sich über seine Kinder und küsste sie auf ihre rosigen Wangen, ehe er zu Bett ging.

Hoffentlich bekam er in dieser Nacht ein Auge zu.

Michael holte zwei Gläser und eine Flasche Whiskey und ging damit ins Arbeitszimmer. Der Raum war in Dunkelheit getaucht. Nur das Licht der Straßenlaterne schien hinein. Hawk lag zusammengerollt neben Michaels Schreibtisch und schlief.

»So, jetzt wissen Sie es«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit.

Michael schenkte Whiskey ein und reichte Simon, der hinter dem Schreibtisch saß, ein Glas. Dann schaltete er die Schreibtischlampe ein und setzte sich auf einen Stuhl. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«

Michael war zwei Stunden lang durch Byram Hills gelaufen und hatte das schreckliche Gefühl gehabt, den Verstand zu verlieren. Brach er unter dem Druck, dem er sich ausgesetzt hatte, zusammen? Die Träume, die er einst hatte, wurden zu Albträumen, und die Albträume wurden zur Realität.

Er hatte Marys Hoffnungen auf ein Weiterleben nach dem Tod zerstört. Er hatte die Freundschaft zu Paul zerstört. Unbemerkt hatte der Wahnsinn sich an ihn herangeschlichen – fast so wie der Krebs, der Mary befallen hatte. Und jetzt verschlang der Wahnsinn sein Hirn und der Krebs Marys Körper.

Michael wollte Hilfe, wollte Antworten – und es gab nur eine Person, die sie ihm geben konnte: Simon. Er war der Einzige, an den Michael sich noch wenden konnte.

»Erklären Sie mir bitte«, begann Michael, »warum ich glauben sollte, was Sie sagen?«

»Ihnen fehlt der Glaube an sich selbst. Wie sollte es da möglich sein, einem anderen zu glauben? Und dann auch noch mir?«

»Versuchen Sie es«, forderte Michael ihn auf.

»Jesus hat zu seinen zwölf Jüngern gepredigt. Sie kennen seine zwölf Apostel?«

»Ja, ich habe eine katholische Schule besucht«, erwiderte Michael mit leisem Spott.

»Als Jesus am Ufer von Caesarea Philippi stand, fragte er seine Jünger: ›Was sagen die Leute, wer ich bin?‹ Und sie antworteten: ›Manche sagen, du bist Johannes der Täufer. Andere sagen, du bist Elias. Wieder andere sagen, du bist Jeremias oder einer der Propheten.‹ Und Jesus sagte: ›Und was glaubt ihr, wer ich bin ?‹

Die zwölf Männer saßen da und dachten über die Frage nach, aber nur einer wusste die Antwort. Und dieser Jünger sagte: ›Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.‹ Und Jesus sagte zu seinem Jünger: ›Du bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen.‹ Und er verlieh dem Jünger, den er Petrus nannte, die Macht, alle, die Erlösung suchten, zu verdammen oder freizusprechen. Und er sagte: ›Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.‹ Er gab ihm die Macht, die Pforten des ewigen Lebens zu kontrollieren, denn er reichte Petrus zwei Schlüssel, die von dieser Macht durchdrungen waren – einen goldenen und einen silbernen.« Simon hob den Blick. »Die Schlüssel zur Himmelspforte. Nach dem Tod, der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu wurde dieser Jünger das erste Oberhaupt der Kirche Jesu Christi, der Christenheit. Petrus, der erste Papst. Und die Macht, die Jesus ihm verliehen hatte, ging seither an seine Nachfolger über, zusammen mit den Schlüsseln.«

Simon lehnte sich zurück.

»Dann misst die Kirche diesen beiden Schlüsseln also einen sehr hohen Wert bei?«, fragte Michael.

»Sie können sich nicht vorstellen, wie hoch sie den Wert der Schlüssel einschätzt.«

»Und natürlich bewahrt man etwas, das einen so ungeheuren Wert hat, in einer verfallenen Kirche am Ende der Welt auf«, sagte Michael zynisch. »Für mich sind diese Schlüssel nichts weiter als abergläubischer Hokuspokus.«

»Sie mögen unseren Glauben im Augenblick nicht teilen.«

Simon stand auf und ging im Zimmer auf und ab. »Aber Sie sollten mich deshalb nicht verspotten.« Er blieb abrupt stehen. »Diese Schlüssel hat Petrus vor seinem Tod an jenem Ort hinterlegt, an dem Jesus gen Himmel gefahren ist. Eine Verbindung zwischen Himmel und Erde. Der Ort, an dem die Himmelfahrtskirche gebaut wurde ...«

»Das ist ein Mythos! Ein Märchen, das im Laufe der Jahrhunderte immer mehr ausgeschmückt wurde!«

»Petrus hat es verfügt, und jeder Papst nach ihm hat dem zugestimmt, dass die Schlüssel dort liegen sollen. Solange die Schlüssel das Eigentum des Papstes und der Kirche waren, war diese Verbindung gesichert. Die Pforten waren geöffnet ...«

»Moment mal.« Michael hob eine Hand. »Diese Schlüssel wurden beschützt. Von Ihnen selbst.« Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, zum Gegenschlag auszuholen. »Und Sie haben versagt.«

Simon antwortete nicht. Er starrte Michael an und wandte dann den Blick ab.

»Und jetzt müssen Sie dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kommt, nicht wahr? Weiß der Vatikan davon?«, fragte Michael. »Ich bezweifle es, sonst gäbe es wohl noch mehr von Ihrer Sorte.«

Simon packte Michael am Kragen, riss ihn vom Stuhl hoch und zerrte ihn durchs Zimmer. »Ich sollte Sie einfach umbringen. Oder noch besser, Sie verstümmeln und Sie Ihrem Schicksal überlassen. Dann könnten Sie ganz alleine ausbaden, was Sie angerichtet haben. Finster wird zurückkommen. Das wissen Sie. Er wird Sie und Ihre Frau nicht in Ruhe lassen. Und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als mich mit Ihrem anmaßenden Unsinn zu verspotten. Lieber beleidigen Sie mich, als Ihre Frau vor der Verdammnis zu retten.

Ihre Arroganz widert mich an.« Er stieß Michael auf die Couch.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Finster wirklich der ist, für den Sie ihn halten«, sagte Michael schwer atmend. »Ich sehe keine Beweise ...«

»Beweise? Sie haben Ihren Beweis. Finster hat Sie engagiert, um für ihn zu stehlen. Sie waren sein Bauernopfer.«

»Finster ist ein Sammler und ein geachteter, erfolgreicher Geschäftsmann...«

»Er ist alles Mögliche, nur kein Mensch.«

»Woher wollen Sie das wissen? Das ist doch verrückt.«

»Sein Name wurde wiederholt in Verbindung mit seinem Interesse an profaner Kunst genannt, die geschaffen wurde, um die Kirche zu verunglimpfen. Ich habe mir gesagt – wie alle anderen auch –, dass dieser Mann krank ist. Doch als einige dieser Kunstwerke vom Schwarzmarkt verschwanden, nahm ich mir vor, seinen Lebenslauf ein wenig gründlicher zu überprüfen. Und dabei stellte sich heraus, dass er gar keinen Lebenslauf hat.«

»Das ist bei manchen Leuten so. Mächtige, reiche Leute, die ihre Vergangenheit verschleiern wollen und die Mittel dazu haben.«

»Aber er wurde im Gegensatz zu den anderen niemals geboren.« Simon starrte Michael an.

Michael lachte.

»Sie finden das lustig?«, fragte Simon. »Es gibt keine Akte über Finster – nirgendwo.«

»Sind Sie sicher?«

Simon ging nicht auf die Frage ein. »Vor ein paar Jahren habe ich Finster einen Überraschungsbesuch in Berlin abgestattet. Niemand wusste von meinem Reiseplan, aber er war da und wartete auf mich, als ich aus dem Zug stieg. Er stand ganz allein auf dem Bahngleis, und ich fragte ihn geradeheraus, wer er ist. ›Warum stellen Sie mir eine Frage, deren Antwort Sie bereits kennen ?‹, wollte er von mir wissen. Ich hatte mir vorgenommen, ihn zu beschuldigen, sich gegen die Kirche und gegen Gott verschworen zu haben. Er stritt alles ab. Das Problem war, dass er es abstritt, ehe ich meine Anschuldigungen überhaupt ausgesprochen hatte. Er wusste alles, was ich sagen wollte, schon vorher. Ehe ich mich versah, wachte ich in dem Zug auf, der nach Rom zurückkehrte. Und ich konnte mich nicht daran erinnern, wie ich dorthin gekommen war. Seit diesem Tag vergeht keine Nacht, in der Finster mich nicht in meinen Träumen heimsucht.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Michael schüttelte den Kopf.

»Er ist der finstere Engel, der vor Anbeginn der Zeit aus dem Himmel vertrieben wurde.«

»Das ist bloß eine Geschichte«, sagte Michael abfällig. »Ein Märchen, das dazu angetan ist, die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. Kleine Kinder verstecken sich unter ihren Betten, wenn sie diese Story hören. Mütter kauern sich ängstlich in die Ecke und betteln um Vergebung. Alle rennen zu ihrem mildtätigen Gott, damit er sie rettet und sie vor dem bösen Satan beschützt, den es angeblich gibt.« Michael setzte sich aufrecht hin und wurde mit jedem Wort selbstsicherer. »August Finster ist bloß ein selbstgefälliger Geschäftsmann, der zu viel Macht besitzt und ganz Europa – und scheinbar auch Sie – in seinen Bann zieht.«

Simon setzte sich gegenüber von Michael auf einen Stuhl. »August Finster ist gut aussehend und charismatisch, freundlich und herzlich. Aber alles an ihm ist Fassade. In Wahrheit ist er der schwärzeste Teufel. Er geht auf Ihre innersten Wünsche und Bedürfnisse ein, weil er weiß, was Sie sich wünschen. Und er weiß auch, was Ihnen Angst und Schrecken einjagt. Mit diesem Wissen treibt er sein Spiel.« Simon beugte sich vor. »Und er hat auch mit Ihnen gespielt.« Simon starrte Michael mit unerschütterlichem, kaltem Blick an. »Was für ein Zufall, dass Sie die Antwort auf Ihre Gebete in der Stunde Ihrer größten Verzweiflung erhielten und dass Sie die Chance bekamen, das zu bekommen, was Sie von niemandem sonst bekommen hätten. Im Gegenzug brauchten Sie nur eine einfache, aber frevelhafte Aufgabe zu übernehmen. Wer ist derjenige, der hier versagt hat?«

Im Zimmer wurde es plötzlich dunkler, und Michael fühlte sich eingeengt. Er hörte deutlich die Geräusche ringsum: die Autos draußen auf der Straße, das Ticken der Uhr ... All diese Geräusche schienen die Angst in ihm zu verstärken.

»Was will er?«, fragte Michael.

»Was er immer gewollt hat«, antwortete Simon. »Unsere Seelen. Er wird sie alle bekommen. Weil er die Schlüssel besitzt, kontrolliert er die Himmelspforte.«

»Nehmen wir an, dieser Unsinn stimmt: Warum kann Gott die Pforte nicht einfach wieder öffnen ? Sie war schon einmal geöffnet, als Jesus am Kreuz hing. Ist es nicht so?«

Seitdem Simon als Sechzehnjähriger diesen entsetzlichen Augenblick erleben musste, der ihn bis ins Innerste erschüttert hatte, fürchtete er sich vor nichts mehr. Sein Herz und seine Gefühle waren an jenem schrecklichen Tag gestorben. Seitdem kannte er keine Angst und keine Gefühle mehr. Bis jetzt. »Gott müsste zurückkehren. Und das wäre die Erfüllung einer biblischen Prophezeiung. Es wäre das Ende der Welt, wie immer Sie es nennen wollen. Überall würde Gabriels Horn erschallen zum Zeichen, das Gott zurückkehrt. Er wäre der Tag des Jüngsten Gerichts. Michael, wir müssen diese Schlüssel zurückholen.«

Michael wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Alles, was in den letzten Wochen passiert war, schien plötzlich einen Sinn zu ergeben. Jeder Schritt, den er gegangen war, hatte ihn hierhergeführt. Er hatte nicht nur das Leben der Menschen, die er liebte, verletzt und zerstört – er hatte ihren Glauben mit Füßen getreten.

»Wir müssen aufbrechen«, drängte Simon. »Wir haben nicht viel Zeit.«

»Meine Frau liegt im Sterben. Ich kann sie nicht noch einmal allein lassen.«

»Das werden Sie müssen, tut mir leid«, sagte Simon ohne Mitgefühl.

»Ich kann hier nicht weg. Marys Leben ...«

»Marys Leben geht zu Ende. Sie können nichts tun, um das aufzuhalten. Aber wenn Ihnen etwas an Marys ewigem Leben liegt, dann ist noch Zeit. Retten Sie es, Michael. Retten Sie die Seele Ihrer Frau.«

Die ganze Nacht warf Michael sich hin und her. Da er es nicht mehr fertigbrachte, allein im Ehebett zu schlafen, war er auf die unbequeme Couch mit den kaputten Federn umgezogen, die gegen seine Schulterblätter drückten. Doch dieses Lager war ihm lieber als die Gedanken, die ihm durch den Kopf geschossen waren, als er sich allein im Doppelbett herumgewälzt hatte.

Würde es immer so sein, wenn Mary nicht mehr lebte? Michael war nicht in der Lage, sich jetzt damit auseinanderzusetzen. Noch lebte Mary.

Nachdem Simon gegangen war, war Michael durch die nächtlichen Straßen geirrt. Ziellos lief er durch die Nacht, bis er schließlich vor dem Krankenhaus stand und auf Marys dunkles Fenster starrte. Doch er ging nicht hinein. Wenn er Mary gesehen hätte, hätte sein Kummer ihn wieder überwältigt. Das durfte nicht geschehen. Er musste einen klaren Kopf behalten. Falls er die Reise mit Simon antrat, wusste er nicht, wann er zurückkommen würde. Mary könnte während seiner Abwesenheit sterben, und wie sollte er damit leben?

Sicher, er hätte Simon auch alleine reisen lassen können, aber dann hätte er nie erfahren, ob es Simon gelungen wäre, die Schlüssel zurückzuholen. Bis ans Ende seiner Tage würde Michael sich mit der Frage quälen müssen, ob Mary an einen besseren, barmherzigeren Ort gelangen würde.

Michaels Glaube an Gott war zerstört und existierte nicht mehr, doch Marys Glaube war stärker denn je. Sie glaubte an das ewige Leben, an die Ewigkeit und an den Himmel.

Michaels zerstörter Glaube und Marys unerschütterliches Gottvertrauen standen sich gegenüber.

Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen.

Er würde Simon begleiten.

Der dunkle Pfad Gottes
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