2.
In Michaels Laden für Sicherheitstechnik herrschte peinliche Ordnung. Elektronische Bauteile hingen an der Hartfaserplatte. Überwachungsmonitore, Kameras und Schaltpulte standen in den Regalen. Ein paar Schreibtische säumten die Rückwand – eine Vorkehrung für die hoffentlich erfolgreiche Zukunft des Unternehmens. Im Augenblick führte er das Geschäft allein. Es verfügte über einen hochmodernen Verkaufsraum, in dem Minikameras, Abhörgeräte, optische Spezialgeräte und Alarmanlagen aller Art angeboten wurden. Am besten verkauften sich die Sicherheitssysteme. Auf diesem Gebiet fühlte Michael sich am ehesten zu Hause. Das Geschäft war nicht groß, doch er hatte es selbst aufgebaut. Auch wenn sie im Augenblick noch auf Marys wöchentliches Gehalt angewiesen waren – Michael wollte dafür sorgen, dass Mary ihren Job eines Tages an den Nagel hängen konnte.
Ohne dass Michael es bemerkte, betrat ein Fremder das Geschäft, ein gut aussehender Mann Mitte sechzig mit braunen Augen und dunklen Brauen. Sein langes weißes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug einen dunklen Regenmantel über einem teuren, europäischen Anzug und roch nach Geld.
Als Michael sich umdrehte und unerwartet den Mann sah, schrak er zusammen.
Der Mann lachte. Seine Stimme hatte einen leichten deutschen Akzent. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Das Lächeln des Fremden war einnehmend.
»Bedaure, Sir, aber wir haben geschlossen«, sagte Michael, wühlte in der obersten Schublade des Schreibtisches und zog ein paar Entwürfe heraus. »Tut mir leid, aber ich bin in Eile.«
»Ich fasse mich kurz.« Der Fremde reichte Michael eine Visitenkarte. »Ich glaube, wir könnten einander von Nutzen sein.« Er ging durchs Büro und schaute sich um. »Ich könnte Ihnen helfen, Ihre Probleme zu lösen, und Sie könnten mir helfen, meine zu lösen.«
»Probleme? Tut mir leid, Mister ...«, Michael spähte auf die Visitenkarte, »Finster.« Er steckte die Karte ein, nahm aus einem Schrank einen Briefumschlag, auf dem »Angebot« stand, und warf ihn zusammen mit den Entwürfen in seine Aktentasche. Dann hakte er den Schlüsselbund an seinen Gürtel und blickte den Mann an. »Außerdem habe ich keine Probleme, Mister. Kommen Sie jetzt bitte, ich muss zumachen.« Gefolgt von dem Fremden, ging Michael zur Tür, schaltete die Alarmanlage ein, zog das Eisengitter herunter, schloss ab und ging über den Parkplatz des kleinen Einkaufszentrums zu seinem Wagen.
Finster ging neben ihm her. »Ihnen wäre eine großzügige Vergütung sicher«, versuchte er es noch einmal.
Michael hob die Hände und blieb stehen. Er wusste genau, in welche Richtung das Gespräch ging. »Ich habe den Job gewechselt.«
»Die Umstände ändern sich«, sagte Finster.
»Meine nicht«, erwiderte Michael und ging weiter.
»Rufen Sie mich an, falls Sie es sich anders überlegen!« Finster schaute Michael nach, als dieser zu seinem Wagen ging. »Und verlieren Sie meine Karte nicht.«
»Warten Sie lieber nicht auf meinen Anruf«, gab Michael zurück, ohne sich umzudrehen.
Es war eine hübsche, bescheiden eingerichtete Zweizimmerwohnung, die Mary in ein gemütliches Heim verwandelt hatte. Sie lag im dritten Stock eines gepflegten Wohnhauses, in dem sie sich wohl fühlten. Als Michael und Mary eintraten, trottete ein riesiger, sabbernder Berner Sennenhund auf Michael zu.
Michael setzte sich auf den Boden und tollte kurz mit dem schwarz-braun-weißen Hund herum. »Ich gehe mit Hawk um den Block, okay?«, sagte er dann zu Mary, nahm die Leine vom Tisch in der Diele und ging zur Tür.
»Aber komm nicht so spät«, sagte Mary, obwohl sie wusste, dass ihre Worte auf taube Ohren stießen.
Nach fünfzehn Minuten kehrte Michael zurück. Der Spaziergang hatte ihm gutgetan.
»Michael?«, rief Mary aus dem Schlafzimmer. »Ja?«
Keine Antwort.
»Mary? Was ist?«
Michael betrat das Zimmer, in dem es so düster war, dass er die Hand vor Augen nicht sehen konnte. »Mary ?« Er drückte auf den Lichtschalter, doch die Lampe blieb dunkel. Wahrscheinlich war die Birne kaputt. »Hör auf mit dem Unsinn, Mary.«
Er schaute im Badezimmer nach. Niemand zu sehen. Noch einmal drückte er auf den Lichtschalter. Wieder blieb es dunkel. »Ich finde das gar nicht komisch, Mary.«
Die Schlafzimmertür fiel zu.
Michael ging reflexartig in die Hocke. Binnen eines Sekundenbruchteils war seine Wachsamkeit geweckt, und seine Instinkte übernahmen die Kontrolle. Es war mehr als fünf Jahre her, doch seine Muskeln erinnerten sich noch an jede Bewegung, und seine Sinne waren so geschärft wie eh und je.
Er wich einen Schritt zurück. Im selben Augenblick stürzte sich jemand auf ihn. Michael stockte das Herz. Er wollte schon zum Schlag ausholen, hielt sich aber instinktiv zurück. Die Gestalt wirbelte ihn herum, stieß ihn aufs Bett, sprang auf ihn und riss sein Hemd so ungestüm auf, dass die Knöpfe in alle Richtungen flogen.
Die Anspannung fiel von Michael ab, als Mary flüsterte: »Du hast vergessen, mir einen Kuss zu geben.«
Mary, die unter den zerwühlten Decken auf einem Berg Kissen lag, streichelte CJ, ihre Katze, während Michael sich Shorts anzog. Trotz der Spannungen in letzter Zeit liebten sie sich noch genauso wie vor sechseinhalb Jahren, als sie sich kennen gelernt hatten.
Mary war damals vierundzwanzig gewesen und hatte kurz zuvor ihr Lehramtsexamen abgelegt. Obwohl Michael acht Jahre älter war als Mary, hatte es bei ihrer ersten Begegnung sofort gefunkt. Dabei war sie wenig romantisch verlaufen: Mary hatte ihren Wagen zurückgesetzt und dabei Michaels Auto gerammt. Sofort lagen sie sich in den Haaren und stritten sich zwanzig Minuten lang darüber, wer Schuld hatte. Der Streit erreichte einen Höhepunkt, als Michael erklärte, dass er unter einer Bedingung nachgeben würde: wenn Mary sich zum Essen einladen ließe. Er wusste selbst nicht, weshalb er sie gefragt hatte. Es war eine spontane Idee gewesen. Und Mary wusste bis zum heutigen Tag nicht, warum sie Ja gesagt hatte. Niemand hatte ihr irisches Blut jemals so in Wallung gebracht wie dieser Mann.
Nachdem sie zwei Monate miteinander geflirtet hatten, flogen sie zu den Virgin Islands, wo sie sich am Strand trauen ließen. Sie brauchten keine Blumen, keine Freunde und keinen Brautmarsch. Für sie war es die perfekte Zeremonie, denn sie hatten ihren Traumpartner gefunden. Die Trauzeugen waren ein achtzig Jahre altes Ehepaar, das sie auf dem Flug zu den Inseln kennen gelernt hatten. Weder Bräutigam noch Braut hatten Verwandte, die sie zur Feier einladen konnten oder wollten.
Die Einzige, die eingeschnappt war, als sie von der Hochzeit erfuhr, war Jeannie Busch. Selbst ihr hatte Mary ihren Freund nicht vorgestellt. Jeannie lernte ihn erst kennen, als beide mit dem Ehering am Finger aus den Flitterwochen zurückkehrten. Zuerst spielte Jeannie die Beleidigte, erschien ein paar Tage später aber mit Hochzeitsgeschenken und schloss Michael in die Arme.
Sie zogen in Michaels Sommerhaus in Bedford, das Mary binnen kürzester Zeit in ein gemütliches Zuhause verwandelte. Michael, der es gewöhnt war, im Restaurant zu essen, fühlte sich anfangs ein wenig unbehaglich, was sich aber rasch änderte, denn Mary kochte hervorragend. Michael lernte ihr kulinarisches Talent bald zu schätzen und musste schließlich eine Meile an seinen täglichen Dauerlauf anhängen, um die zusätzlichen Kalorien zu verbrennen.
Mary wiederum entdeckte Michaels handwerkliches Geschick und spannte ihn in die Umgestaltung der Wohnung ein, die nach ihren Vorstellungen vorgenommen wurde. Sie wurden ein glückliches Paar, obwohl sie so unterschiedlich waren – oder gerade deshalb.
Sie konnten nicht ahnen, dass am Horizont bald düstere Wolken aufziehen würden.