37.
Michael lag auf einer harten Pritsche. In der Zelle war es kalt. Seitdem er hier war, hatte er jedes Zeitgefühl verloren, und bis jetzt war niemand erschienen, um ihm Fragen zu stellen. Die Nachbarzellen waren leer, doch ein Stück weiter den Gang hinunter hörte er leise Stimmen.
Michael überlegte, ob er bitten sollte, die amerikanische Botschaft anrufen zu dürfen. Dann aber wurde ihm klar, dass man dort schnell herausfinden würde, dass er auf der Flucht war. Und woher sollte er wissen, ob die Berliner Polizei nicht vielleicht schon Kontakt zu den Amerikanern aufgenommen hatte und dass er auf deren Ersuchen verhaftet worden war?
Nein, es war besser, die Botschaft nicht zu verständigen.
Die Tür am Ende des Zellenblocks wurde geöffnet. Der Wärter, der Michael in die Zelle gebracht hatte, kam den Gang hinunter. Aber jetzt war er nicht allein. Michael hörte die Schritte einer zweiten Person.
Als der Wärter in sein Blickfeld trat, bestätigte sich Michaels Vermutung. Zwei Meter hinter dem Wärter stand ein Mann im Schatten.
»Sie haben Besuch«, sagte der Wärter.
Michael stand auf und blickte angestrengt in die Dunkelheit, konnte den zweiten Mann aber nicht erkennen. Der Wärter ging davon, und der Fremde trat in das matte Licht.
»Hallo, Michael«, sagte Finster.
Michael starrte ihn erstaunt an.
»Wie sind Sie denn hier gelandet?« Finster schaute sich um. »Keine besonders schöne Umgebung. Ich habe versucht, Sie gegen Kaution hier rauszuholen, aber mir wurde gesagt, dass Sie ausgeliefert werden.«
»Warum sind Sie hier?«, fragte Michael. »Um mich zu töten?«
Finster starrte ihn durch die Gitterstäbe an und begann dann zu lachen. »Wie kommen Sie denn darauf? Ach, das war sicher Simon, dieser gottesfürchtige Scheißkerl. Hat er Ihnen diesen Unsinn eingeredet? Simon ist ein Spinner. Seit Jahren schon verbreitet er Gerüchte, dass ich eine Art Teufel sei. Sehe ich wie ein Teufel aus ?«, fragte er fröhlich. »Es ist das Geld, Michael.« Finster beugte sich vor. »Und die Frauen. Die Menschen verbinden Reichtum und Sex gerne mit dem Bösen. Aber das ist lächerlich, nicht wahr? So wie manche Menschen das Böse fürchten, könnte man meinen, wir lebten noch im Mittelalter. Wenn ich doch für jeden, der mich als gottlos bezeichnet, zehn Cent bekäme! Und was Ihren neuen Freund Simon betrifft – der ist ein Fanatiker. Warum sagen Sie nichts, Michael? Freuen Sie sich denn nicht, mich zu sehen?«
»Warum sind Sie hier?«, fragte Michael noch einmal.
»Ich habe gehört, dass Sie zurückgekommen sind, um die Schlüssel zu holen. Sie wollen mir doch nicht meine Schlüssel wegnehmen, Michael?« Finsters Stimme klang wie die eines Vaters, der sein Kind ermahnte.
Michael zögerte. Vielleicht hatte er unrecht, und Simon war ein Fanatiker. Vielleicht hatte er ihm zu schnell Glauben geschenkt.
»Ich wusste, dass Sie kein falsches Spiel mit mir treiben würden, Michael.« Finster rieb sich die Hände, um sie zu wärmen, und senkte dann betrübt den Blick. »Ich habe das von Ihrer Frau gehört...«
Michael zuckte zusammen.
»Ihr soll es furchtbar schlecht gehen.«
Die Sorge um seine Frau schlug Michael sofort auf den Magen.
»Es tut mir wirklich leid«, fuhr Finster fort. »Ich weiß, wie gerne Sie in ihren letzten Stunden bei ihr sein würden. Ich werde alles tun, was ich kann, damit Sie schnell wieder nach Hause kommen. Ich lasse meine Beziehungen spielen.«
»Sie brauchen mir nicht zu helfen.«
»Wirklich nicht? Nun, es tut mir jedenfalls sehr leid, dass es Ihrer Frau schlechter geht«, sagte Finster. »Und Sie tun mir ebenfalls leid, Michael. Es gibt nichts Schlimmeres, als einen geliebten Menschen zu verlieren.«
»Sie haben meine Frau verdammt. Warum haben Sie es mir nicht gesagt?«
»Was gesagt?«
»Wer Sie sind«, sagte Michael und starrte ihn herausfordernd an.
Finster musterte Michael und nahm sich Zeit, ehe er antwortete. »Haben Sie Gott gefunden?«, fragte er dann mit sanfter Stimme.
»Ich habe keine Angst vor Ihnen.« Michael stellte sich dicht vor die Zellentür, woraufhin auch Finster ein Stück vortrat, sodass sie sich ganz nahe gegenüberstanden. Doch Michael ließ sich nicht beirren.
»Für wen halten Sie mich, Michael?«
Michael antwortete nicht.
»Denken Sie an Ihre Frau, Michael. Wenn Sie diese Sache hier forcieren, wird sie alleine sterben. Sie wird Ihren Namen rufen, und Sie werden Ihre restlichen Jahre hier unten verrotten.« Finster zeigte auf die feuchte Zelle. »Und das nur, weil Sie eine dumme Entscheidung getroffen haben. Ich kann Ihnen helfen, aber wenn Sie in die Nähe meiner Schlüssel kommen...«
»Ihre Schlüssel?«
»Ich habe Sie in gutem Glauben dafür bezahlt. Wir hatten eine Abmachung.«
»Eine Abmachung ? Sie haben nicht alle Bedingungen offenbart!«
»Sie, ein Mann ohne Glauben, wollen mir sagen, dass Sie irgendeinem dahergelaufenen Itaker, einem religiösen Spinner, mehr glauben als mir? Simon erzählt Ihnen, dass ich der Teufel bin, und Sie werden sofort ein Gläubiger, was? Halleluja! Hat er seinen Worten irgendwelche Taten folgen lassen? Hat er die Behandlung Ihrer Frau bezahlt? Hat er Ihnen eine Viertelmillion Dollar gegeben? Ich habe Ihnen einen Bonus bezahlt. Simon hat nicht mal ein Gebet für sie gesprochen.
Hat er Ihnen diese rührende Geschichte von seiner Mutter und seinem Vater erzählt? Wie sein Vater seine Mutter im Namen des Teufels geschändet hat? Blödsinn, alles Blödsinn. Er hat Sie zu seinem Handlanger gemacht. Er will, dass Sie die Schlüssel für ihn stehlen, damit er sie auf dem Schwarzmarkt verkaufen kann. Den Himmel retten – so ein Scheiß. Wem vertrauen Sie, Michael? Jemandem, der Ihnen geholfen hat? Oder jemandem, der versucht hat, Sie zu töten?«
Michael starrte Finster verwirrt an. Könnte er sich so sehr geirrt haben? Trotz allem, was Simon ihm erzählt hatte, entsprach das, was dieser Mann hier sagte, der Wahrheit. Könnte es wirklich sein, dass er nur Simons Handlanger war und albernem religiösem Plunder nachjagte, während seine Frau alleine im Krankenhaus lag und starb? Und Finster hatte ihm geholfen: mit Geld, freundlichen Worten und dem Angebot, ihn zu unterstützen. Simon hatte ihm nichts angeboten.
Wem sollte er glauben? Simon? Finster? Sollte er auf sein eigenes Gefühl vertrauen? Weder Simon noch er selbst waren der Grund dafür, dass er hierhergekommen war. Mary und das, woran sie glaubte, waren der Grund. Glaube: Die Fähigkeit, das Unfassbare zu glauben. Alles andere beiseitezuschieben, um die Möglichkeit von etwas Größerem anzuerkennen. Mary konnte er vertrauen, denn auch sie hatte ihm immer vertraut. Mary war sein Glaube.
»Sie können mich mal«, zischte Michael.
Finsters Augen waren jetzt eiskalt. Michael zuckte zusammen, als er durch die Gitterstäbe griff und mit seinen langen, manikürten Fingern leicht über seine Wange strich. »Glauben Sie, ich würde mir von einem so unbedeutenden Menschen wie Ihnen solche Unverschämtheiten bieten lassen, wenn ich der wäre, für den Sie mich halten? Denken Sie mal darüber nach. Wenn ich der wäre, für den Sie mich halten, würde ich Sie dort verletzen, wo Sie am verletzlichsten sind. Ihre Seele würde mir gehören. Ich würde sie für alle Ewigkeit zu meiner Frau machen. Ah, was wäre es für eine Freude, Ihre Mary so lange zu vögeln, bis sie die Besinnung verliert. Hat sie einen biegsamen Körper, Michael?«
Diese Schläge saßen. Michael wurde leichenblass und brachte keinen Ton mehr heraus.
Michael hatte jedes Zeitgefühl verloren, und in der Zelle war kein Fenster, sodass er nicht einmal wusste, ob es draußen hell oder dunkel war. Im ganzen Block war es drückend still. Er hörte nicht einmal eine Ratte über den Boden huschen. Die beiden Glühlampen lieferten so eben genug Licht, dass er etwas sehen konnte. Seine Gedanken und Träume drehten sich um Mary. Wie lange war es her, dass er sie gesehen hatte ?
Er musste hier raus! Er musste mit Mary sprechen und sie in seinen Armen halten. Er musste zu Ende bringen, was ihn hierhergeführt hatte.
Als das Stahltor zum Zellenblock zuschlug, hallte das Echo von den kahlen Wänden wider. Dann wurde eine Zellentür geöffnet und fiel krachend wieder zu. Michael hörte schnelle Schritte. Dann stand Ivan Crusick von Interpol, der Michaels Aufnahme abgewickelt hatte, auf der anderen Seite der Gitterstäbe. Crusick zog einen dicken Schlüsselbund hervor, suchte den richtigen Schlüssel und schloss die Zelle auf. »Ihre Auslieferungspapiere sind fertig«, sagte er auf Englisch mit starkem Akzent.
»Sie sind zu freundlich«, spottete Michael.
Crusick erwiderte nichts.
Michael folgte ihm einen langen Gang hinunter zu dem ersten von mehreren großen Toren. Er wusste nicht, welche Papiere Crusick überhaupt meinte, doch es war ihm egal – Hauptsache, er kam hier raus. Er würde diesen Ort nicht vermissen.
Als sie den Gang hinunterliefen, sah er, dass keine einzige Zelle belegt war. Dabei hätte er schwören können, dass er in der vergangenen Nacht die Stimmen anderer Häftlinge gehört hatte. Und er hatte zu keinem Zeitpunkt das Krachen des Tores gehört, was darauf hätte hindeuten können, dass diese Leute entlassen worden waren. So ein Geräusch entging keinem Häftling.
Im Licht von Ivan Crusicks Taschenlampe stiegen sie eine schmale Treppe hinauf. Hier gab es kein Licht. Vermutlich waren die Steine zu dick, um Kabel zu verlegen. Die Treppe schien endlos lang zu sein, und es waren viel mehr Stufen, als Michael in Erinnerung hatte. Es dauerte zwei Minuten, bis er Licht sah.
Schließlich gelangten sie in moderne Büroräume, in denen reges Treiben herrschte. Im Gegensatz zum altertümlichen Kellergeschoss hatte hier das Hightech-Zeitalter Einzug gehalten. Computer, Kameras und elektronische Sicherheitsschleusen erleichterten den Polizeikräften die Arbeit.
Michael wurde zu einem Ausgabeschalter geführt. Dort bekam er seine Kleidung und die wenigen persönlichen Dinge zurück, mit denen er hierhergekommen war. Er bestätigte den Empfang mit seiner Unterschrift, worauf er sich in einer Umkleidekabine umziehen durfte. Anschließend führte Crusick ihn durch weitere Türen, bis sie die letzte Tür erreichten, die Michael noch von der Freiheit trennte.
»Drehen Sie sich zur Wand um«, forderte Crusick ihn auf und nahm eine gründliche Leibesvisitation vor. Michael kannte diese Prozedur, doch ihm drängte sich die Frage auf, wie er sich in den letzten dreißig Sekunden eine Waffe hätte besorgen sollen.
»Sie können sich wieder umdrehen«, sagte Crusick. Michael drehte sich um. »Arme ausstrecken.« Das kalte Metall der Handschellen schloss sich um seine Handgelenke. Crusick öffnete die letzte Tür, führte Michael schweigend hinaus auf einen kleinen Hof und schlug die Tür hinter ihm zu.
Er sagte kein Wort, als er Michael einfach stehen ließ und ins Polizeipräsidium zurückkehrte.
Michael war verwirrt. In Handschellen stand er vor dem Polizeipräsidium mitten in Berlin. Das Protokoll sah vor, dass er zum Flughafen und zurück in die USA begleitet wurde. Das Protokoll sah aber auch vor, dass man ihm sagte, was vor sich ging.
Auf dem Hof gab es zwei Türen: die Eisentür hinter ihm und den Ausgang vor ihm. Michael überlegte gerade, was er tun sollte, als die Tür geöffnet wurde.
Paul stand vor ihm.
Es regnete in Strömen. Ohne Regenschirm führte Paul den mit Handschellen gefesselten Michael über den großen, regenüberfluteten Parkplatz des Polizeipräsidiums. Es dauerte nur Sekunden, bis beide Männer nass bis auf die Knochen waren. Man konnte kaum zwei Meter weit sehen, doch Michael und Paul interessierten sich im Augenblick nicht besonders für die Umgebung. Sie sahen sich nicht an und sprachen kein Wort.
»Warum bist du abgehauen?«, fragte Paul schließlich.
Michael antwortete nicht, schaute stattdessen auf seine Handschellen. Seine Situation hatte sich nicht großartig verbessert. Zuerst saß er im Gefängnis, und jetzt war er gefesselt.
»Ich wollte dir helfen.« Pauls Stimme klang erschöpft. Er hatte nur einen Flug nach Berlin mit Zwischenstopp in London bekommen. Die Reise hatte über zwölf Stunden gedauert.
»Lass mich in Ruhe, ja? Deinen blöden Spruch von wegen Gesetz ist Gesetz kann ich nicht mehr hören.«
Dann herrschte wieder Schweigen. Paul war wütend. Er setzte für diesen Mann sein Leben aufs Spiel, und der machte ihm zum Dank Vorhaltungen.
»Wie kannst du Mary das antun?«, sagte er schließlich.
»Jetzt fang bloß nicht so an.«
»Doch, genau so, ob es dir gefällt oder nicht«, erwiderte Paul. »Sie kämpft um ihr Leben, und du treibst dich in der Weltgeschichte herum. Wach endlich auf, Junge!«
»Du hast ja keine Ahnung, um was es hier geht«, zischte Michael und drehte sich abrupt zu Paul um. »Ich hatte keine andere Wahl. Verstehst du denn nicht? Ich liebe sie.«
In diesem Augenblick fielen Schüsse. Ein ganzes Magazin wurde leergefeuert. Die Kugeln prallten vom nassen Asphalt und den geparkten Autos ab.
Der Schütze stand irgendwo links von ihnen. Paul sprang auf Michael zu, riss ihn nach unten und schützte ihn mit seinem Körper. Die Schüsse endeten. Nur das Rauschen des Regens war zu hören.
Paul zog Michael zwischen zwei Autos und spähte in die Richtung, aus der die Schüsse abgefeuert worden waren. Sein Blick schweifte über den überfluteten Parkplatz, doch im strömenden Regen konnte er niemanden entdecken. Trotzdem versuchte er, sich ein Bild von der Situation zu machen. Wenn der Schütze ein Profi war, würde er seine Position wechseln, sein Opfer ins Visier nehmen und töten.
Paul fluchte leise. Er war unbewaffnet, denn er hatte mit einer Waffe kein Flugzeug besteigen können. »Michael, was zum Teufel ist hier los?«, wollte er wissen.
»Mach die Handschellen ab«, drängte Michael und streckte die Arme vor. »Mit den Dingern bin ich die perfekte Zielscheibe.«
»Damit du fliehen kannst?«, erwiderte Paul. »Für wie dämlich hältst du mich eigentlich?«
»Wenn du die Handschellen nicht aufschließt, bin ich ein toter Mann.« Michael schaute ihn mit flehendem Blick an.
»Keine Chance, Partner.« Paul packte Michael, rannte mit ihm durch die Autoreihen und benutzte die Fahrzeuge als Deckung. »Du hast es also wieder mal geschafft, jemanden anzupissen«, sagte er während des Laufens. »Wer ist es diesmal?«
Ungefähr zehn Meter entfernt erblickte Paul einen rennenden Schatten. Er ließ sich neben einem BMW auf den Boden fallen. Auch Michael ging in Deckung. Die ganze Sache roch nach einer Falle. Im Gefängnis konnten sie Michael nicht töten; das hätte zu viele Fragen aufgeworfen. Also ließen sie ihn frei und schickten ihn aufs Schlachtfeld, wo die Killer schon auf ihn warteten. Er war mit Handschellen gefesselt und wehrlos. Paul war vermutlich nur Statist und wusste gar nicht, welche Rolle er in dieser Angelegenheit spielte.
Wieder fielen Schüsse, diesmal von rechts. Paul und Michael rannten in geduckter Haltung durch die Pfützen und wichen nach links aus. Plötzlich änderte sich die Schussrichtung. Jetzt kamen die Schüsse von links.
Es waren zwei Schützen.
Sie saßen in der Falle.
Paul versuchte, die Tür des grauen Citroens zu öffnen, hinter dem sie hockten, doch der Wagen war abgeschlossen. Sie konnten nicht einmal das Fenster einschlagen. Der Alarm hätte ihren Verfolgern ihren Standort verraten.
Die Schüsse verstummten wieder. Paul wusste nicht, was schlimmer war: die Stille, in der nur das Prasseln des Regens zu hören war, oder das Geräusch der Schüsse. Als die Schüsse gefallen waren, hatte er instinktiv reagiert und nur ans nackte Überleben gedacht. Aber diese Stille zerrte an seinen Nerven. Die Angst vor dem, was passieren könnte, lähmte ihn. Die Killer wussten das und nutzten dies, um die Gejagten unter Druck zu setzen. Und ihre Rechnung ging auf.
Paul und Michael schauten sich an. Sie waren in einer beinahe hoffnungslosen Lage. Paul sah ein, dass Michael recht hatte. Mit den Handschellen hatte er keine Chance.
Als die Handschellen auf den Asphalt fielen, wurde sofort wieder auf sie geschossen. Der Schütze hatte sich ihnen weiter genähert. Die Schlinge zog sich immer enger zu. Michael zeigte auf eine schmale Lücke zwischen ein paar Autos. Sie rannten gemeinsam dorthin. Die Querschläger schlugen knapp hinter ihnen in den Asphalt, zerschmetterten Autoscheiben und ließen Reifen platzen. Sie suchten Schutz hinter einem unbesetzten Kassenhäuschen. Abrupt verstummten die Schüsse.
Paul erkannte, dass der heftige Regen ein Segen für sie war. Die Schützen waren Profis. Normalerweise wären er und Michael längst tot gewesen. Der Wolkenbruch nahm den Killern die Sicht.
»Wir müssen unsere Entfernung vergrößern, dann können wir ihnen vielleicht entwischen«, sagte Michael.
»Nein!«
Paul drehte sich um und blickte in die Mündung einer .44 Magnum. Der Mann stand keine zwei Meter von ihm entfernt. Sein dunkelblauer Jogginganzug war durchnässt. Er hatte langes blondes Haar, das an seinem Kopf klebte. Sein Gesicht war zu einer hasserfüllten Grimasse verzogen. Er richtete seine Waffe auf Michael, doch ehe er abdrücken konnte, stellte Paul sich schützend vor seinen Freund.
»Ich kann auch euch beide mit einer Kugel töten«, versprach der Killer und rief dann: »Anders!«
Hinter ihm waren Schritte zu hören. Der zweite Killer näherte sich. »Mein Bruder wird enttäuscht sein«, sagte der Blonde. »Er hat mit mir um fünf Euro gewettet, dass er euch tötet.«
Er nahm sein Ziel ins Auge, doch plötzlich wurde ein Pistolenlauf auf seine Schläfe gepresst, und eine Hand umklammerte seine Kehle. Er rang röchelnd nach Luft.
»Nein«, flüsterte eine Stimme. »Ihr Bruder wird niemanden mehr erschießen.« Es war Simon. Er riss Anders herum und brach ihm mit einer schnellen Bewegung das Genick. Bevor der Blonde reagieren konnte, jagte Simon dem Mann eine Kugel in die Schläfe. Der Leichnam fiel auf die nasse Erde. Blut rann über den Asphalt und wurde vom Regenwasser weggespült.
Simon hob den Blick. Seine Augen waren kalt. »Wir sollten verschwinden«, sagte er zu Paul und Michael.
»Was ist mit den Leichen?«, fragte Paul.
Doch Simon war schon aus seinem Blickfeld verschwunden und in Regen und Nebel untergetaucht.
In der Gegend, in der sie sich befanden, gab es zahlreiche dunkle Gassen. Ab und zu huschten ein paar Ratten auf der Suche nach Essbarem umher; ansonsten verirrte sich kein Lebewesen dorthin. Daher war eine solche Gasse der ideale Ort, um einen Mietwagen zu verstecken. Simon konnte es sich nicht leisten, die Aufmerksamkeit eines neugierigen Polizisten auf sich zu lenken. Im Nachhinein stellte er fest, dass diese Sorge unbegründet war. Sogar auf dem Polizeiparkplatz hatte sich kein einziger Polizist aufgehalten. Die Ermordung von zwei Killern sorgte nicht für die Aufregung, mit der man gerechnet hätte. Simon hatte dreizehn Stunden lang vor dem Gefängnis auf der Lauer gelegen, nachdem er von Michaels Verhaftung erfahren hatte. Es war unmöglich gewesen, ihn an Ort und Stelle zu befreien. Daher nahm Simon sich vor, denjenigen, der Michael mit einem Auslieferungsantrag im Gefängnis abholte, zu töten und anschließend Finster aufzuspüren.
Nachdem Simon die beiden Killer getötet hatte, waren sie in Simons Mietwagen ohne weitere Zwischenfälle geflohen. Während der Fahrt herrschte langes Schweigen. Die drei Männer kochten vor Wut und bissen sich auf die Zunge, um ihren Zorn nicht an den anderen auszulassen. Doch irgendwann konnte keiner mehr die drückende Stille ertragen.
»Was hast du vor, Paul?«, fragte Michael.
»Was meinst du denn, was ich tun soll?«
Simon, der seine Arme über dem Lenkrad verschränkt hatte, sagte leise: »Sie sollten abreisen.«
Paul wirbelte herum. »Sie habe ich nicht nach Ihrer Meinung gefragt«, stieß er hervor, wandte sich wieder Michael zu und wartete auf eine Antwort.
»Du hast durch mich schon genug Arger gehabt«, sagte Michael.
»Ich bin nicht hierhergekommen, um mich zu vergnügen.«
»Was ich dir über diesen Finster erzählt habe ...«
»... ist wahr«, beendete Simon den Satz, während er ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad trommelte.
»Haben Sie ihm diesen Unsinn eingeredet?« Paul war so wütend, dass seine Stimme bebte.
»Das ist kein Unsinn.« Simon stieg aus.
»Wer sind Sie? Ein Fanatiker, der nur glaubt, was in der Bibel steht?«
»Ich bin Priester.«
Paul schwieg. Simons Worte machten ihn dennoch sprachlos. Schließlich hatte Paul gerade mit eigenen Augen gesehen, wie Simon einem Mann eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Der Killer in dem Jogginganzug hatte keine Chance gehabt.
Paul wandte sich Michael zu. »Ich bin nicht hierhergekommen, um dich gegen deinen Willen nach Amerika zu bringen.«
»Nein? Du hast doch dafür gesorgt, dass ich verhaftet wurde.«
»Da irrst du dich. Ich habe niemandem gesagt, dass du das Land verlassen hast – weder beim ersten noch beim zweiten Mal. Ich stand übrigens wie ein Idiot am Flughafen vor der Sicherheitsschleuse. Was sollte das, Michael? Du hast mir ins Gesicht gelogen.« Paul funkelte ihn an. Er atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. »Ich habe dich nicht verhaften lassen. Mein neuer Ex-Partner hat mich reingelegt. Erinnerst du dich an diesen tadellos gekleideten Mistkerl, der dich in deiner Wohnung verprügelt hat?«
Michael nickte.
»Er heißt Thal und hat interne Ermittlungen gegen mich geführt. Ich habe keine Ahnung, warum er mir einen reinwürgen will. Und jetzt glaubt der Kerl, ich hätte dich laufen lassen. Er will dich unbedingt ausliefern, um sich dann ins Fäustchen zu lachen, wenn sie mich fertigmachen. Der Junge ist verdammt gut informiert. Er wusste schon, wohin du fliegst, ehe du abgereist bist. Eine Stunde bevor du geschnappt wurdest, hat er Interpol deinen genauen Standort mitgeteilt.«
»Und warum dann die Handschellen? Wir sind doch Freunde«, sagte Michael, der noch immer wütend war.
»Freunde hin, Freunde her. Wenn man jemanden mit einem Auslieferungsantrag im Gefängnis abholt, sind Handschellen Vorschrift. Eigentlich sollte Thal dich heute am späten Abend abholen und zurück in die Staaten begleiten. Wenn du möchtest, kann ich das tun.« Paul beugte sich vor. »Die Handschellen waren zu deinem Besten. Ich wollte, dass du mir zuhörst und mich ausreden lässt.«
»Sie können uns nicht helfen«, warf Simon ungeduldig ein. »Michael, uns rennt die Zeit davon.«
Pauls Blick wanderte zu dem Priester. »Wie ich sehe, kommen wir beide gut miteinander klar, Pater.« Simon funkelte Paul böse an, doch Paul beeindruckte das nicht. Er wandte sich wieder Michael zu. »Ich glaube diesen Unsinn nicht, Michael, aber ...«
Er zog eine Akte aus der Tasche. »Hier drin steht alles über diesen Finster.« Er wandte sich wieder Simon zu. »Hier, lesen Sie. Er ist ein ganz normaler Mensch. Seine Geschäfte, Gewohnheiten, Vorlieben und der Frauentyp, den er bevorzugt – hier können Sie alles nachlesen. Sein Profil ist nicht besonders detailliert, aber ich wette, es ist viel mehr, als Sie und mein Freund bis jetzt gefunden haben.« Er blickte Michael an. »Habt ihr einen Plan?«
»Wir arbeiten daran«, sagte Michael.
Das Unwetter setzte wieder ein, und der starke Regen vertrieb die letzten Nebelschwaden. Simon sprach Gebete, während er unzählige Kreuze im Hotelzimmer verteilte. In einer Ecke brannten Kerzen mit lateinischer Inschrift. Sie warfen einen leuchtenden Schimmer in den Raum, der den Eindruck erweckte, ein heiliges Kraftfeld würde die Männer umschließen. In dem spartanisch eingerichteten Hotelzimmer herrschte eine mystische Atmosphäre, über die Paul gelacht hätte, wären die beiden anderen Männer nicht so ernst gewesen.
»Darf ich fragen, was Sie da machen?«, fragte Paul, der sich mit einem Bier in der Hand auf einem der Betten ausstreckte. Aufgrund des Irrsinns, dem er ausgesetzt war, hatte er beschlossen, seine Abstinenz vorläufig zu unterbrechen.
»Ich will uns beschützen«, erwiderte Simon leise.
»Vor wem?«
»Wo Licht ist, sieht man keine Dunkelheit. Das Böse meidet alles, was heilig ist.«
»Nicht da, wo ich herkomme. Wen wollen Sie fernhalten - Dracula?« Paul verdrehte die Augen.
Simon setzte seine Arbeit fort, ohne den Blick zu heben. »Es ist viel schlimmer.«
»Glauben Sie wirklich, diese Kerzen halten unsere Verfolger fern und beschützen uns vor ihnen?«
Simon nickte.
Paul seufzte. »Und wir sitzen hier in der Falle.« Er stand auf, ging durchs Zimmer und betrachtete die Kreuze. Er hatte noch nie eine solche Vielfalt gesehen. »Und was ist, wenn Sie sich irren? Wenn dieser Finster nicht der ist, für den Sie ihn halten ? Könnte es nicht sein, dass er bloß ein Milliardär und knallharter Geschäftsmann mit einem sonderbaren Faible für Schlüssel und großspurige Bodyguards ist?«
»Dann dürfte es nicht so schwierig sein«, meinte Simon. »Aber für den Fall der Fälle ...« Er ging zu seiner Tasche und zog ein Heckler & Koch-Maschinengewehr heraus.
»Okay.« Paul schaute Michael hilfesuchend an, aber der saß schweigend auf seinem Stuhl. »Was für eine Art Priester sind Sie eigentlich?«, fragte er Simon.
»Manche Priester kümmern sich um Kranke, andere nehmen die Beichte ab, lesen die Messe und verbreiten die Heilige Schrift«, erwiderte Simon, während er die Kreuze im Raum verteilte. »Sie erfüllen Aufgaben, die am besten zu ihren persönlichen Stärken passen – und dies an dem Ort, an dem die Kirche ihre Dienste verlangt. Aber meine Talente liegen auf einem anderen Gebiet. Ich beschütze Gott. Wenn ich Ihren Freund getötet hätte«, Simon zeigte auf Michael, »seinerzeit in Israel, als ich die Möglichkeit hatte ...«
»Was sagen Sie da?« Paul war empört. »Sie haben versucht, ihn zu töten?«
»Sie sind Gesetzeshüter. Sie sorgen dafür, dass die Gesetze in Ihrer Stadt und in Ihrer Gesellschaft eingehalten werden. Auch ich achte auf die Einhaltung der Gesetze. Das Gesetz, nach dem ich lebe, ist das Gesetz Gottes. Ich setze seine Gesetze durch, und wenn ein Mord notwendig ist, dann ...«
Er zuckte mit den Schultern. »Ist das ein so großer Unterschied zwischen uns?«
»Vergleichen Sie mich nicht mit Ihnen!«, zischte Paul mit zusammengepressten Zähnen.
»Sie wollten Michael verhaften, nur weil er das Land verlassen hat, und ihn ins Gefängnis stecken, weil er versucht, seine Frau zu retten. Er ist Ihr Freund, und doch würden Sie ihm das antun.« Simon wandte sich wieder den Kreuzen zu. »Für Sie haben die Gesetze offenbar mehr Wert als Ihre Freundschaft.« Nachdem er das letzte Kreuz platziert hatte, nahm er sein Whiskeyglas in die Hand. »Mein Gesetz hat für mich einen höheren Wert als das Leben. Wenn ich Michael sein weltliches Leben nehmen würde, bliebe ihm noch sein ewiges Leben. Wir alle hatten ein ewiges Leben. Aber jetzt... Nun, das habe ich ihm nicht genommen. Das hat Finster getan.«
Seltsamerweise verstand Paul, was Simon meinte. Er wusste genau, was dieser Mann ihm erzählte. Dadurch änderte sich jedoch nichts. »Meinen Sie nicht, das hat der Teufel getan?«, fragte Paul lächelnd.
Simon hasste es, verspottet zu werden. »Sind Sie hier, um uns zu helfen? Dann sollten Sie glauben, was ich sage. August Finster ist die Dunkelheit.«
»Wirklich?«, entgegnete Paul in herablassendem Tonfall. »Sie rennen durch die Gegend, verbreiten Ihren Blödsinn und machen meinen Freund zu Ihrem Handlanger. Nach wessen Pfeife tanzt Michael jetzt? Sie spielen mit seinen Gefühlen und nutzen die Krankheit seiner Frau aus – genau wie Finster.« Paul schaute Simon vorwurfsvoll an und hielt ihm den Zeigefinger vor die Nase. »Finster hat ihn wenigstens bezahlt.«
»Paul?« Michael richtete sich auf. Er hatte schon zu oft erlebt, dass Paul explodierte. Auch wenn er es schätzte, dass Paul ihn verteidigte, durfte er nicht zulassen, dass die Sache eskalierte. Sie mussten zusammenarbeiten und sich auf die vor ihnen liegende Aufgabe konzentrieren.
»Er verkauft dich für dumm, Michael. Siehst du das nicht?«, sagte Paul.
»Ich weiß, was ich tue«, erwiderte Michael.
»Ach ja ? Mary braucht dich. Sie braucht dich dringend. Ich weiß, dass du im Augenblick nicht klar denken kannst, aber ich kann es. Ich bringe dich nach Hause, bevor dich hier jemand tötet.«
»Was ich tue, ist richtig, Paul. Ich bitte dich als mein Freund, mir zu vertrauen.«
Paul wurde fast verrückt, und er fragte sich, warum er sich das antat. Er und Michael wären um ein Haar getötet worden. Jetzt saßen sie hier in diesem Raum ohne einen Plan, und da draußen liefen Killer herum, die sie töten wollten. Doch er sah in Michaels Augen dessen felsenfeste Überzeugung. »Okay. Aber ich glaube diesen ganzen Quatsch von Teufeln, der Hölle und ewiger Verdammnis trotzdem nicht, weil ich...«
»Glauben Sie an den Himmel?«, unterbrach Simon ihn leise.
»Darum geht es hier nicht.«
»Glauben Sie an den Himmel?«, rief Simon.
»Ja!«, rief Paul wütend zurück.
»Warum ist es dann so schwer, an die Hölle zu glauben? Das ist nur die Kehrseite der Medaille. Sie scherzen über das, was Sie nicht verstehen. Die Hölle ist real und ewig. Sie ist nicht irgendeine Wandmalerei, irgendein Schauspieler in einem Film. Ich wünschte, er wäre nur eine Bestie mit gespaltenen Hufen und Hörnern, aber das ist er nicht.« Der Priester wurde lauter, und seine Überzeugung wuchs mit jedem Wort. »Die Menschen haben ihre eigenen Vorstellungen vom Teufel und der Hölle: Dantes Inferno, die neun Kreise der Hölle, Feuer und Schwefel – das alles ist Blödsinn. Es sind die Vorstellungen der Menschen. Da wir die Schönheit und die Erlösung des Himmels nicht verstehen können, können wir auch nicht hoffen, die Todesqualen der Hölle zu verstehen. Sie ist dunkel, unerbittlich und ungeheuer böse.« Simon lachte. »Die Hölle verdient keinen Namen. Sie haben keine Vorstellung von dem abgrundtief Bösen, aber die werden Sie bekommen ... Ehe wir diese Sache hier durchgestanden haben, werden Sie besser als jeder andere Mensch auf Erden verstehen, was das wahre Böse ist.«