Kapitel 35

Rosie stieß sich vom Felsen ab, zog die Hände durchs Wasser und ließ sich treiben. Sie blickte in den blauen Sommerhimmel auf und atmete tief aus, während die Strömung sie flussabwärts trug. Sie hörte ein Platschen. Dann noch eines. Rosie drehte sich in die Bauchlage, um nachzuschauen, woher der Lärm kam.

Am Ufer standen Julian mit einer Nikolausmütze und Evan mit einem Rentiergeweih und ließen Steine über das Wasser hüpfen. Um sie herum tanzten die Hunde, acht an der Zahl: Dixie, Gibbo und Diesel und dazu die für die Auktion bestimmten Welpen Chester, Clyde, Coil und Sally. Duncans kleiner Terrier Derek war ebenfalls dabei, auch wenn er leicht indigniert wirkte, dass er sich mit arbeitenden Hunden abgeben musste. Ein Jack Russell, dachte Rosie, ist ein großer Hund, der im Körper eines kleinen Hundes gefangen ist. Sie pfiff kurz, und alle Hunde stellten die Ohren auf.

»Kommt, Kelpies!«, rief sie. Ein paar von ihnen stürzten sich ins Wasser, die anderen schlichen misstrauisch über die Steine und ließen sich vorsichtig ins Nass gleiten. Bald schwammen alle um sie herum, während Derek entrüstet vom Ufer aus kläffte.

»Essen!«, rief Margaret von ihrem Liegestuhl aus, der unter einem riesigen Eukalyptus stand. Derek verstummte abrupt und trottete zu ihr hinüber, um sich bettelnd unter den Tisch zu verkriechen, wo die Getränke und die Picknickkörbe standen.

Rosie spürte, wie die Tageshitze sich über sie legte, während sie aus dem Fluss watete und über die heißen Flusskiesel zu ihren Stiefeln und ihrem Sarong hüpfte. Die Hunde folgten ihr spritzend.

»Lauft, und macht Platz!«, befahl sie, und die Hunde rannten das Ufer entlang, um unter den schattigen Bäumen zu lagern.

Evan und Julian ließen sich, noch klatschnass, in ihre Liegestühle fallen und fassten nach ihren Gläsern.

»Gläser füllen, jetzt kommt ein Toast«, befahl Duncan, auf dessen Stirn der Schweiß glänzte.

Alle erhoben die Gläser.

»Fröhliche Weihnachten!«, riefen sie im Chor.

In der Stille, während alle tranken, erkannte Rosie, dass sie noch nie so glücklich gewesen war.

»Das ist einfach genial«, meinte sie. »Das entspannendste Weihnachten überhaupt

»Du hast es ihr also noch nicht erzählt?«, bemerkte Evan mit einem Seitenblick auf Julian.

»Was erzählt?« Rosie setzte sich auf.

Julian seufzte. »Nichts Wichtiges. Ich erzähl es dir später.«

»Was?«

»Nur dass Evan auf dem Weg hierher ein Schaf mit Fliegenbefall gesehen hat.«

»Wie mein Papa sagen würde: Machdirkeinenkopfdeswegen«, wiegelte Evan ab. »Erst das Essen, dann die madendurchsetzte Wolle.«

»Ach!«, mischte sich Margaret ein. »Wo wir gerade von Maden in der Wolle sprechen, ich habe ein Geschenk für Rosie!« Sie kramte im Heck des Pajero herum und zog schließlich eine in Weihnachtspapier verpackte Schachtel heraus.

»Für dich«, sagte sie und überreichte Rosie die Schachtel.

»Mum, ich dachte, wir wären uns einig gewesen. Keine Weihnachtsgeschenke, bis die Farm Profit abwirft«, wehrte Rosie ab.

»Ich weiß«, antwortete Margaret. »Aber du bist bestimmt nicht mehr sauer auf mich, wenn du es aufgemacht hast.«

Rosie riss das Papier ab.

»O wow!«, sagte sie aufrichtig begeistert, als sie eine Fliegenschere herauszog. »Brandneu. Und sie gehört mir allein. Vielen, vielen Dank, Mum.«

»Schau, ich habe sie sogar gravieren lassen.«

Rosie fuhr mit dem Finger die Inschrift nach. Rosie Jones. Sie stand auf und bedankte sich mit einer feuchten, flusswassergetränkten Umarmung bei ihrer Mutter.

»Der Mann im Eisenwarenladen hat gesagt, wenn du das nächste Mal in die Stadt kommst, zeigt er dir, wie du sie schleifen musst«, erklärte ihr Margaret und wedelte eine Fliege von ihrem Gesicht weg. »Ich dachte, ich schenke sie dir gleich, dann kannst du sie auf dem Heimweg an diesem Schaf ausprobieren.«

Rosie legte die Schere zu ihren Füßen ab und nahm einen Schluck. Dann schaute sie auf die im Schatten lagernden Hunde. Manche leckten ihr nasses Fell, andere dösten, wieder andere schnappten nach den lästigen Fliegen. Sie sah Julian und Evan an, die ihre Sandwiches kauten, und zuletzt Duncan und Margaret, die sich gegenseitig mit langen, dünnen Brezeln fütterten. Sie wünschte, Gerald wäre hier und könnte sehen, wie glücklich seine Familie war. Aber wenn er andererseits damals nicht den Mut aufgebracht hätte, Highgrove zu verlassen, wäre nichts von alldem so gekommen.

Rosie war aufrichtig froh, dass Gerald endlich sein Glück gefunden hatte. Er hatte am Morgen von Giddys Wohnung aus angerufen und allen ein frohes Weihnachtsfest gewünscht. Obwohl er und Margaret offiziell nicht miteinander redeten, hatte sie gehört, wie ihm ihre Mutter ebenfalls fröhliche Weihnachten gewünscht hatte, als sie ans Telefon gegangen war.

»Ich hole dir eins der Kinder«, hatte sie unmittelbar danach erklärt und den Hörer beiseite gelegt, um laut zu rufen: »Julian? Rosie? Gerald möchte euch sprechen.«

Rosie hatte über die vergangenen Monate hinweg eine echte Veränderung in Gerald bemerkt. Inzwischen behandelte er sie nicht anders als Julian und gab ihr oft Hinweise und Ratschläge, wie sie die Farm führen sollte. Er schien die Highgrove Station kein bisschen zu vermissen, aber er behauptete, er würde sie und Julian vermissen. Heute am Telefon hatte er sogar erklärt, er sei stolz auf Rosie und auf das, was sie für die Familie leistete.

Rosie blickte seufzend auf den verschlafenen Sommerfluss, der lautlos an ihrem Weihnachtspicknick vorbeiströmte. Trotz der Hitze musste Rosie zittern, wenn sie daran dachte, mit welcher Gewalt das eisige Wasser im Winter an ihren Kleidern gezerrt und sie nach unten gezogen hatte. Ihr die Luft geraubt hatte. Wieder stand ihr Jims entsetzte Miene vor Augen und gleich danach das verängstigte Rollen von Oakwoods Augen, als die in Panik geratenen Hunde außer Sichtweite getrieben wurden. Ihre Erinnerung verzehrte sich danach, zu der Hütte weiterzuwandern und noch einmal Jims zärtliche Berührungen zu erleben. Fast glaubte sie seine tröstende, sanfte Stimme zu hören und die Wärme seines an ihren Leib geschmiegten Körpers zu spüren. Aber Rosie schob diese Erinnerungen entschlossen beiseite. Inzwischen hatte sie sich abgefunden, dass sie Jim Mahony nie wiedersehen würde. Plötzlich sprangen die Hunde bellend auf und reckten die Schnauzen der Anhöhe entgegen. Von dort näherte sich ein Pick-up.

»Zeit zum Schwimmen«, sagte Julian und stand auf. Evan folgte ihm.

»Wollt ihr gar nicht wissen, wer das ist?«, fragte Rosie.

Aber Evan und Julian waren schon die Uferböschung hinuntergerutscht und ließen sich ins kühle Wasser gleiten.

»Das Bier wird hier zu warm«, meinte Duncan. »Ich stelle es lieber an einem schattigen Fleck ins Wasser«, damit war auch er verschwunden.

»Mum? Was soll das?«, fragte Rosie, weil nur Margaret sitzen geblieben war, als der Pick-up näher kam.

»Vielleicht ist das noch eine Überraschung für dich?«

»Was wird hier eigentlich gespielt?« fragte Rosie. Durch die Hitzeschlieren hindurch konnte Rosie das Fahrzeug erkennen und begann zu lächeln.

In seine besten Arbeitssachen gekleidet, das Haar gekämmt und frisch geschnitten mit dem obligatorischen Hut, kam Billy O’Rourke auf Rosie und Margaret zu, umtanzt von den Hunden, die ihn eifrig begrüßten. Er trug ein großes, rechteckiges Paket in den Händen. Was in aller Welt tat Billy am Weihnachtstag hier draußen?

»Hallo!«, rief er. »Fröhliche Weihnachten euch beiden.«

»Hi!«, antwortete Rosie verdutzt. »Dir auch fröhliche Weihnachten. « Und dann gab sie ihm einen schnellen Kuss.

»Ich bin hergekommen, um dir das hier zu geben«, sagte er und überreichte ihr das Paket. »Margaret, Duncan und ich haben es organisiert.«

Rosie riss das Papier auf. Vor ihr lag, in dunkles Holz gerahmt, der erste Artikel ihrer Serie über Gleesons Kelpies.

»Es ist eine Druckfahne, die Duncan extra für dich gezogen hat. Genauso wird sie nächstes Jahr im Chronicle abgedruckt«, versprach Billy.

»Wow!«, entfuhr es Rosie. »Das ist ja phantastisch.«

In der Mitte war ein Foto eines stolzen, spitzohrigen Kelpies zu sehen, und unter dem Titel Casterton, Geburtsort der Kelpies stand in fetten Lettern geschrieben: Erste Folge einer Serie von Rosie Jones.

»Damit wollen wir dir für deine Arbeit danken«, erklärte Billy.

»Und dir zeigen, wie stolz wir auf dich sind«, sagte Margaret.

Rosie überflog den eingerahmten Artikel. Sie konnte kaum glauben, dass sie es geschafft hatte. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hatte sie ihren Job zu Ende gebracht.

»Es kommt gut, wie?« Billy polierte mit dem Ärmel eine Ecke des Glases.

Rosie schaute zum Flussufer hin, wo Duncan eine Bierdose in der Luft schwenkte. Dann sah sie ihre Mutter an.

»Da ist noch etwas, Rosie«, gestand ihre Mutter nervös. »Ich habe mit Billy geredet. Und wir sind beide der Meinung, dass es an der Zeit ist, es dir zu sagen.«

»Was zu sagen?«

»Lass mich das nehmen«, sagte Billy. Er nahm ihr den Rahmen ab und lehnte ihn an den Picknicktisch.

Margaret holte tief Luft. »Es ist Billy«, sagte sie schließlich. »Er ist dein Vater.«

Rosie spürte, wie die Gefühle sie übermannten, als sie wie zum ersten Mal in Billys freundlich lächelndes Gesicht blickte. Blitzschnell zogen die Tage, an denen sie gemeinsam die Pferde und Hunde abgerichtet hatten, an ihren Augen vorbei. Der Tag am Fluss während des Rennens, als sich sein Hund neben sie gesetzt hatte. Billy war immer in ihrer Nähe gewesen, fast als wollte er sie beschützen. Er war ihr Sicherheitsnetz gewesen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie zeigte mit dem Finger auf ihn.

»O mein Gott!«, lachte und weinte sie gleichzeitig. »Du!«

Billy trat vor, mit Tränen in den Augen, und drückte sie in einer bärenhaften Umarmung an seine Brust. Rosie schob ihn wieder weg, hielt ihn mit ausgestreckten Armen fest und sah abwechselnd auf Margaret und Billy.

»Aber warum habt ihr mir das nicht schon früher verraten?«

Billy schüttelte den Kopf. »Anfangs wusste ich es nicht. Jedenfalls nicht sicher.«

»Ich habe ihn nicht eingeweiht«, gestand Margaret leise und beschämt.

»Erst als ich dich nach vielen Jahren wiedersah, ist bei mir der Groschen gefallen. Da warst du schon erwachsen und kamst in die Stadt und zur Zeitung. Ich wusste einfach, dass du etwas von den O’Rourkes in dir trägst. Aber erst als ich gesehen habe, wie du mit deinem Hund arbeitest – da war ich mir ganz sicher. Trotzdem habe ich geschwiegen. Es hätte nichts gebracht, noch mehr Staub aufzuwirbeln. Ich dachte, ich passe lieber aus sicherer Entfernung auf dich auf. Ich weiß, dass du eine Menge durchgemacht hast.«

Rosie sah Margaret vorwurfsvoll an. Sie hätte Billy schon vor Jahren die Wahrheit sagen sollen.

»Ich weiß, das war dumm und egoistisch«, sagte Margaret, als hätte sie die Gedanken ihrer Tochter gelesen. »Als die Wahrheit schließlich ans Licht kam und Gerald uns verließ, fand ich, dass es höchste Zeit war, das Chaos zu ordnen und Billy aufzuklären.«

»Du musst deiner Mutter verzeihen, Rosie«, sagte Billy. »Wir waren beide jung und dumm.«

»Inzwischen sind einige von uns alt und dumm«, ergänzte Margaret.

Rosie schüttelte lächelnd den Kopf. Sie sah Billy an, als sähe sie ihn zum ersten Mal, und studierte die gedrungene Statur, die sie ganz offenkundig von ihm geerbt hatte. Seine natürlich gebräunte Haut, genau wie ihre. Und seine so unglaublich blauen Augen. Wie ihre.

»Ich dachte die ganze Zeit, es wäre Carrots«, sagte Rosie schließlich.

»Was?«, empörte sich Margaret. »Was denkst du eigentlich von mir!«

Und dann mussten alle lachen.