Ballarook Station, um 1870

Die Arbeit im Scherstall war zum Erliegen gekommen, weil die Schafe zu nass zum Scheren waren, und so saß Jack im Quartier und lauschte dem lärmenden Gerede der Männer. Er blieb stumm. Er war zu sehr damit beschäftigt, an Mary Ryan zu denken. Sie wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Erstmals hatte er Mary im Obstgarten gesehen, wo sie mit den Kindern von der Station Zitronen gepflückt hatte. Sie hatte honigfarbenes Haar, das von einer dunkelblauen Schleife zusammengehalten wurde, und sie hatte einen Berg von Zitronen in ihrer Schürze gehalten. Nicht weit von ihr entfernt hatte ihr schwarzes Pony das süße grüne Gras im Obstgarten gerupft, während die Kinder die Satteltaschen des Tieres mit Zitronen voll gepackt hatten. Jack hatte Mary angelächelt, und sie hatte sein Lächeln erwidert.

Seit jenem Tag verband sie eine lockere Freundschaft, die mit witzigen Bemerkungen gewürzt war. Mary lachte oft über Jack oder zog ihn auf und verleitete ihn schon im nächsten Moment mit ihren strahlend blauen Augen, ihr von seinen Plänen für Kelpie zu erzählen. Dann lauschte sie ihm wie gebannt und schaute zu, wie sich seine vollen Lippen bewegten. Jack hatte Kelpie während der Schur weiter ausgebildet, aber nun nutzte die Hündin ihren freien Tag weidlich aus, indem sie an Jacks Seite döste, um ihren empfindlichen Pfoten und den steifen Muskeln Ruhe zu gönnen.

Erst als die Sonne durch die Wolken brach und durch das Fenster hereinschien, schaute Jack von seinem Buch auf. Ein Jubelschrei stieg von den Männern auf, und alle drängten ins Freie, rastlos nach der erzwungenen Untätigkeit.

Jack räkelte sich und versenkte sich erneut in sein Buch, denn er wartete nur darauf, dass der Nachmittag vorüberging und er Mary auf die Bunyip Station zurückbegleiten konnte. Doch gleich darauf hörte er, wie Mark nach ihm rief. Er ging nach draußen, dicht gefolgt von Kelpie, und sah, dass die Männer in einem großen Kreis beisammen standen.

»Wir hätten eine Wette für dich, Gleeson«, sagte Mark. »Ein Spiel, das nur ein einziger Mann und ein einziger Hund auf dieser Station gewinnen können.«

Die Männer warfen Münzen in den ausgebeulten Hut, den Mark unter ihren Nasen herumschwenkte. Selbst der Koch war aus seinem Küchenhaus getreten und vervollständigte das Hauspersonal, das sich das Schauspiel des »Hühnchens in der Dose« nicht entgehen lassen wollte. Mary führte die Kinder aus dem Unterrichtsraum und scharte sie ein wenig abseits der Männer um sich. Jack sah kurz zu ihr hinüber und zwinkerte. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu lächeln.

Wie jedes Mädchen, das auf einer Station im Westen aufgewachsen war, war Mary daran gewöhnt, dass die jungen Wanderarbeiter kamen und gingen und mit ihr und ihren Schwestern flirteten. Aber Jack war anders als die anderen. Er hatte etwas Ernsthaftes und Sanftes an sich, und sie hätte ihm ewig zuhören können, wenn er von seinen Tieren erzählte, angefangen von dem faulen, alten Faulpelz bis zur aufgeweckten, jungen Kelpie. Mit seiner von der Arbeit im Freien gegerbten Haut und seinen rauen, dreckigen Händen strahlte Jack etwas Ungezähmtes aus, aber gleichzeitig hatte er ein hübsches Gesicht mit blauen Augen und hohen Wangenknochen und kurzes, ordentlich geschnittenes Haar. Anders als die übrigen Männer war er sonntags immer rasiert und hatte ein glattes Gesicht. Er sprach sogar wie ein feiner Herr. Mary spürte eine Gänsehaut, als er sich aus der Gruppe der Männer löste und zusammen mit Kelpie in den Kreis trat.

»Es werden keine Wetten mehr angenommen«, rief Mark und stellte den Hut auf einem Pfosten ab. Dann legte er eine alte Dose in die Mitte des Kreises. Sie lag seitlich im Schmutz, doch die glänzende Oberfläche funkelte in der Sonne. Im nächsten Moment griff er nach einem Sack, aus dem er, am Rand des Menschenringes, ein aufgeschrecktes Huhn schüttelte. Es war kein flauschiges Küken mehr, aber auch noch kein ausgewachsenes Tier. Die kleinen Knopfaugen und der stumpfe Schnabel wirkten noch kükenhaft, doch es hatte bereits die langen, festen Beine einer erwachsenen Henne. Es flatterte mit den winzigen Flügeln und plusterte sich auf, um das Gefieder zu richten, und piepte dann ängstlich, während sich die Augen der grellen Sonne anzupassen versuchten. Die Männer schauten gespannt auf das Federtier und die Dose.

»Nie im Leben!«, rief ein pickelgeplagter Tagelöhner. »Das schafft er auf keinen Fall!«

Kelpie schaute, vor Spannung zitternd, zu Jack auf. Sie war eben erst sechs Monate alt. Jack hatte sie während der ersten Wochen der Schur auf Ballarook jeden Tag hart arbeiten lassen, aber nichts konnte ihr Bedürfnis, Tiere zu treiben, stillen. Vom Aussehen her war sie eine gewöhnliche Colliehündin, aber ihre Augen zeigten eine ungewöhnliche Intelligenz, wenn sie, die Ohren eifrig aufgestellt, arbeitete. Und arbeiten konnte sie wirklich. Sie konnte einfach alles treiben, von den Hühnern bis zu den Enten, von den Böcken bis zu den Bullen, von den Lämmern bis zu den triefnasigen Kindern, die auf der Station lebten. Kelpies Hirtenhund-Instinkt war so stark, dass sie bisweilen sogar versuchte, die Schwalben zusammenzutreiben, die zwischen den Nestern unter den Giebeln der Außengebäude auf der Station herumschwirrten. Dank einer unverbrüchlichen Verbindung zwischen den beiden war Jack in der Lage, Kelpies Instinkte genau zu lenken. Seine Stimme steuerte ihren Geist, er führte sie in jeder Sekunde. Es war so, als würde sie nur für ihn leben.

Leise befahl Jack: »Kelpie, nach drüben.« Sie umzirkelte das Huhn im Uhrzeigersinn, wobei sie ungerührt über die Stiefel der Männer trabte, um einen möglichst großen Abstand zu dem Huhn zu halten. Das junge Huhn versuchte aufgeregt und mit abgehackten Schritten zu entfliehen. Aber schnell wie ein Peitschenschlag war Kelpie auf der anderen Seite und verwehrte ihm die Flucht. Sie ließ sich auf den Bauch sinken und wartete kurz ab, bis sich das Huhn beruhigt hatte. Behutsam schob sie erst eine Pfote nach vorn, dann die andere, und schlich auf diese Weise dicht an den Boden gepresst und leise wie eine Katze immer näher an das Huhn heran. Die Henne wich ängstlich zurück, sah aber ihren Weg abgeschnitten, als Kelpie wie von Zauberhand auf der anderen Seite des Rings auftauchte. Ganz langsam trieb Kelpie die Henne in die Mitte des Kreises auf Jack zu.

Jack stellte sich leise hinter die Dose. Kelpie sah auf. Als wäre sie durch eine Geheimsprache mit ihm verbunden, setzte sie sich in Bewegung, spiegelbildlich zu Jack, und drückte sich auf der anderen Seite der Dose in den Staub, sodass das Huhn genau zwischen ihnen war. Auf Jacks tiefen, leisen Pfiff hin kroch Kelpie vorwärts. Mit einem leisen Glucken wich die junge Henne immer weiter zurück, der Dose entgegen. Die Männer schauten schweigend zu, die Hände vor der breiten Brust gefaltet oder tief in den Hosentaschen ihrer Dungarees vergraben. Das halbwüchsige Küken legte den Kopf schief und beäugte misstrauisch die Dose.

»Kelpie«, kommandierte Jack ruhig. »Komm ran.«

Kelpie näherte sich der Henne mit genau abgemessenen Bewegungen, wobei sie jedes Mal innehielt, sobald sie merkte, dass das Tier zu fliehen drohte. Mehrere Sekunden verstrichen, bis sich die Henne, scheinbar hypnotisiert durch den starren Blick des Collies, wieder entspannte. Wieder kroch Kelpie vorwärts, bis sie nur noch Zentimeter von der Henne entfernt war. Dann wagte das Huhn, den Kopf scheinbar ergeben gesenkt, einen zaghaften Blick in die runde, dunkle Höhlung der Dose. Die dünnen Lider schoben sich einmal langsam über die braunen Knopfaugen. Ein leises, anerkennendes Raunen lief rundum durch die Männer. Der Mund des pickligen Jungen klappte auf, und Mark leckte sich angesichts des zu erwartenden Gewinns schadenfroh die Lippen. Das Huhn setzte eine Klaue in die Dose, zog den Kopf ein und schob sich mit dem ganzen Körper in die dunkle Höhlung. So blieb es in der Dose liegen, während die Scherer in lauten Jubel ausbrachen. Sie schlugen Jack kopfschüttelnd mit ihren großen, lanolinverschmierten Händen auf den Rücken oder zupften sich am Bart. Die Kinder hüpften aufgeregt herum und klatschten in die Hände.

»Also, das ist mal ein Ding!«, sagte der größte und stämmigste der Scherer. »So etwas hab’ ich meiner Lebtag nicht gesehen!«

»Von einem Hund ausgenommen!«, rief ein anderer und zog dabei die leeren Hosentaschen nach außen.

»Ich hab’ euch doch gesagt, dass Jack und sein Hund den Teufel in die Hölle zurücktreiben könnten, wenn sie wollten«, sagte Mark. Dann schüttelte er das Huhn aus der Dose in den Sack zurück.

Jacks Blick wanderte über die Menge hinweg zu Mary, die immer noch abseits stand, umtanzt von den begeisterten Kindern. Er zwinkerte ihr wieder zu, und diesmal lächelte sie zurück.

Aufgemuntert durch das Zwischenspiel zogen die Männer wieder in das düstere Küchenhaus ab, um weiter Karten zu spielen. Mary sprach leise mit ihrer Schwester Clare, die daraufhin die Kinder ins Unterrichtszimmer zurückführte. Mary blieb mit sichtlich geröteten Wangen stehen. Erst als die Männer wieder in ihrem Quartier verschwunden waren, trat sie vor Jack hin.

»Können Sie mir noch mal zeigen, wie sie die Schafe durch den Stall treibt? Ich habe gehört, sie kann über die Schafsrücken laufen, und zwar von einem Ende des Stalls bis ans andere.«

Jacks Augen wurden groß. »Sind Sie sicher? Wenn Ihr Vater erfährt, dass Sie mit mir allein sind, wird er mich aufknüpfen lassen.«

Ohne ein weiteres Wort nahm Mary seine Hand und führte ihn in den Schurstall.

Drinnen spürte Jack, wie ihm vor Aufregung ganz heiß wurde, als sich Mary dicht neben ihn stellte und ihre kleine, warme Hand an seinem Arm aufwärts schob.

»Eigentlich möchten Sie meinen Hund gar nicht arbeiten sehen, oder?« Er drehte sich um und sah sie an.

»Natürlich möchte ich.« Sie lächelte zu ihm auf. »Aber das hat doch Zeit.«

Jack atmete die feuchte, vom Schafsgeruch schwere Luft ein. Draußen schoben sich schon wieder schwarze Wolken vor die Sonne, und ein dröhnender Donnerschlag ließ den Stall erbeben.

Mary zuckte zusammen und stieß einen erstickten Schrei aus.

»Ich habe schreckliche Angst vor Gewittern«, sagte sie, ohne im Geringsten verängstigt auszusehen. Sie schmiegte sich an seine Brust.

Jack legte die Arme um ihren Rücken.

»Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben, Miss Ryan. Ich habe Sie sicher im Griff«, sagte er.

»O ja, das haben Sie, Mr Gleeson.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie küssten sich, während sich draußen das Gewitter in einem Regenguss entlud und der Wind durch die Lüftungsklappen hereinpeitschte, dass die Wollflocken über die Schurstände flogen.



Das Blechdach schepperte im Wind, und die Hüttentür knallte gegen die Wand. Rosie schreckte aus dem Schlaf. Eingerollt vor dem Kanonenofen liegend blinzelte sie zur Tür. Diesel und Gibbo sprangen auf und begannen, vor Aufregung scharf zu bellen. In der Tür stand eine große Gestalt. Rosie war nicht sicher, ob sie wachte oder träumte, und hielt erschrocken die Luft an.

»Jim?«, flüsterte sie, weil sie kaum zu hoffen wagte, dass er wirklich und wahrhaftig vor ihr stand. Er war triefend nass und bibberte vor Kälte. Rosie stellte sich auf die Zehenspitzen, umschlang ihn mit beiden Armen und drückte ihre warmen Lippen auf seinen eiskalten Mund.

»Mein Gott! Ich dachte, du wärst ertrunken«, sagte sie. »Komm, wir wärmen dich auf.« Sie begann, ihn auszuziehen, und küsste ihn, als sie sein Arbeitshemd abgestreift hatte, auf Hals und Schultern.

»O Rosie. Rosie! Gott sei Dank bist du in Sicherheit!«, hauchte Jim und begann, ihr seinerseits die Kleider vom Leib zu ziehen. Er umfasste mit seinen großen Händen ihre Brüste und beugte sich vor, um sie zu küssen. Rosie zerrte mit zitternden Fingern an den Knöpfen seiner Jeans und schälte den steifen Denim von seinen kalten, bleichen Beinen. Bald lagen sie nackt neben dem Ofen, bibbernd und eng umschlungen. Und während sie so zusammen auf der uralten Matratze lagen, suchte Jim Rosies Blick.

»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, gestand er.

Rosie hielt Jim mit aller Kraft fest und fühlte, wie sie ein warmes Gefühl durchströmte. Ihre Fingerspitzen wanderten scheinbar ziellos über seine Haut und ertasteten dabei seinen Puls, der unter ihrer Berührung flatterte wie ein gefangener Schmetterling. Er war am Leben, und sie war es auch. Sie bewegten sich im Einklang, wie in einem langsamen, feierlichen Tanz, voller Hunger und fasziniert von der Lebendigkeit und der Wärme des anderen. Als Jim sie endlich nahm, stöhnte Rosie kehlig auf und legte den Kopf in den Nacken, bis sie zu den Dachziegeln über ihnen aufsah. Ganz langsam begann sich Jim zu bewegen. An seinen kraftvollen Körper geklammert, spürte Rosie die bittersüße Qual, die es bedeutet, eine so tiefe Leidenschaft für einen anderen Menschen zu empfinden. Und dann schauderten beide und schrien ihre Lust in den Wind und den Regen hinaus.

Hinterher hielt Jim sie so zärtlich in den Armen und flüsterte ihr so liebevoll ins Ohr, dass Rosie glaubte, ihr müsste das Herz brechen.

»Ach Rosie, mein wunderschönes Mädchen. Gott sei Dank habe ich dich gefunden«, murmelte er in ihr Haar.