Kapitel 11

Rosie und Margaret stoppten vor Mr Seymours halb verfallener Hütte an der Hauptstraße von Casterton. Rosie trug einen Teller mit Essen zur Haustür und folgte ihrer Mutter hinein. Drinnen umfing sie Dunkelheit, und ein dumpfer Geruch legte sich über ihre Haut. Im Wohnzimmer stank es stechend nach Katzenurin.

Die feuchten Wände waren bis zur niedrigen Decke mit einer freudlosen Tapete beklebt. Rosies Augen überflogen eine Kollektion von gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos aus einem anderen Zeitalter. Größtenteils zeigten sie elegante, langbeinige Rennpferde, deren Jockeys neben der Rennbahn ihre Trophäen in die Luft hielten. In der Ecke saß, so unordentlich und schmuddlig wie das ganze Zimmer, ein alter Mann zusammengesunken in einem modrigen Lehnsessel. Aus dem Sessel spross an unzähligen Stellen das Rosshaar, so als würde dem Möbel, genau wie dem Mann darin, ein struppiger Backenbart wachsen.

»Mr Seymour? Das ist meine Tochter Rosemary«, brüllte Margaret den verschrumpelten Alten an. Die verkrümmte, knochige Kralle auf den Gehstock gestützt, beugte er sich vor und sah Rosie aus zusammengekniffenen Augen an.

»Hübsch«, war alles, was er sagte.

»Hier ist Ihr Lammbraten«, brüllte Margaret, wobei sie Rosie den Teller abnahm, die Folie abzog und das Essen auf ein Tablett stellte. Sie legte Messer und Gabel links und rechts neben den Teller und platzierte das Tablett dann auf Mr Seymours Schoß.

»Nettes Füllen«, sagte er mit Blick auf Rosie. »Willst du mal zum Rennen gehen?« Dann schlug er sich so fest auf den Schenkel, dass das Tablett um ein Haar von seinem Schoß kippte.

»Iss endlich auf, dummer alter Bock«, murmelte Margaret, während sie das Tablett wieder in die Waagerechte brachte und das Fleisch in kleine Bissen zu schneiden begann. Er plapperte immer weiter, den Blick fest auf Rosie geheftet.

»Gute Tage, die Renntage. Feine Füllen am Renntag … sehr gute Beine. Verflucht gute Beine.«

»Ein Exjockey und Viehtreiber«, flüsterte Margaret ihrer Tochter zu. »Sein Vater war auch schon Jockey. Eine schreckliche Familie. Ganz schrecklich. Der hier ist stocktaub und dumm wie Brot.«

Sie verdrehte die Augen und beugte sich vor, um den Alten anzubrüllen: »Bis nächste Woche, Mr Seymour. Morgen bringt Ihnen Mrs Chillcott-Clark das Essen. Sie kann auch das Katzenklo sauber machen. Außerdem ist morgen Waschtag, legen Sie also Ihre schmutzigen Sachen bereit.« Dann richtete sie sich zu voller Größe auf und sah angeekelt auf ihn herab.

»Du brauchst ihn nicht wie einen Idioten zu behandeln. Er ist bloß alt«, flüsterte Rosie. Margaret warf ihr einen verletzten Blick zu und klackerte durch den Flur aus dem Haus.

Vorsichtig näherte sich Rosie Mr Seymour.

»Mr Seymour? Äh … Verzeihung, aber Sie kennen sich offenbar mit Pferden aus. Woher weiß man, wann eine Stute ihr Fohlen bekommt?«

»Füllen. Ein feines Füllen«, lallte er, und prompt rann ein Klecks Soße an seinem Kinn herab. Rosie legte die Hand auf den Arm des alten Mannes und wiederholte ihre Frage. Er drehte den Kopf und sah sie an. Sein Blick war so direkt, dass sie zurückzuckte.

»Deine Stute ist trächtig?«

»Ja, sie ist trächtig.«

»Ah ja!«, sagte er, als wäre erst jetzt der Groschen gefallen. »Erst hört sie auf zu fressen. Dann kriegt ihr Euter Flecken. Weiße Flecken. Und sie tritt. Gegen ihren Bauch. Und ihren Schlitz. Kriegt eine schön lockere Pflaume. Eine schön lockere Pflaume und weiche Hinterbacken. Ganz schlaff, nicht straff wie deine. Dann wird ihr Zitzenwachs klar. Erst gelb, dann klar. Und sie frisst wie der Teufel. Hast du gehört, Mädel? Sie kriegt ein hübsches Fohlen, diese Stute. Mit guten Beinen und einem strammen Rücken.«

»Danke. Jetzt weiß ich, worauf ich achten muss«, sagte Rosie.

»Sie hat einen ordentlichen Schlag einstecken müssen, deine Mum da«, brabbelte er weiter. »Einen ordentlichen Schlag. Kann ich riechen. Aber du machst das schon.« Der Alte lachte, und Rosie konnte das halb zerkaute Essen in seinem Mund sehen.

Sie wich langsam zurück. »Noch mal vielen Dank, Mr Seymour. Bis dann. Wiedersehen.«

Während sie durch den gewundenen Flur eilte, fragte sie sich, ob Seymour wohl etwas über Jack Gleeson wusste. Vielleicht sollte sie noch einmal umkehren und ihn fragen? Sie hatte den Flur zur Hälfte durchquert, als sie erschrocken aufschrie und einen Satz zurück machte. Sie war eben auf etwas geprallt, was sie für einen Schatten gehalten hatte, den die Mäntel am Garderobeständer warfen. Stattdessen war es ein Mann, kein Schatten, der sich als Silhouette vor dem grellen Licht der offenen Tür abzeichnete. Rosie presste den Rücken an die Wand und ließ ihn mit gesenktem Blick vorbei.

»Entschuldigung. Sie haben mich erschreckt. Entschuldigung. Verzeihung«, sagte sie. Sie bekam eine Gänsehaut, als er an ihr vorbeiging. Sie schaute auf und blickte in die unglaublich blauen Augen eines phantastisch aussehenden jungen Mannes. Schüchtern holte sie Luft und stürmte dann aus dem Haus.

Ihre Mutter wartete schon ungeduldig auf dem Beifahrersitz des Pajeros.

»Was hast du so lange bei diesem grässlichen Greis getrieben?« Sie sah, wie blass ihre Tochter plötzlich war. »Was ist denn? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Rosie schüttelte den Kopf und ließ den Motor an. »Wohin jetzt?«

»Wir müssen nur noch zwei Essen abliefern. Dann erwartet uns Susannah Moorecroft zu einem späten Lunch.«

Rosie sah ihre Mutter mit offenem Mund an.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Also, Rosie«, meinte ihre Mutter mahnend, »das ist schon ausgemacht, seit – «

»Nein! Auf keinen Fall, Mum! Du kannst dir deine Freundinnen wohin schieben. Mir reicht es. Ich setze dich dort ab, und du kannst sehen, wie du nach Hause kommst!«


Später, nachdem sie ihre fassungslose Mutter in der Einfahrt der Moorecrofts abgesetzt hatte, fuhr Rosie in die Stadt zurück, um in dem Museum am Rangierbahnhof auf die Jagd zu gehen. Lange betrachtete sie die alten Flaschen und historischen Überbleibsel, die dort still und stumm hinter Glas standen.

Dann fuhr sie den großen Hügel hinauf, der sich über Casterton erhob. Sie stieg aus, setzte sich ins lange, gelbe Gras und ließ ihr Gesicht von dem warmen Wind streicheln, während ihr Blick über den Fluss und die Hauptstraße schweifte. Zwischendurch betrachtete sie immer wieder die Fotokopie eines alten Fotos der Stadt, das sie in ihren Händen hielt. Hatte es damals, als Jack Gleeson in die Stadt geritten kam, so ausgesehen?