Kapitel 3

Rosemary bog langsam mit dem alten Volvo ihrer Mutter auf die breite Hauptstraße von Casterton. Nach den Exzessen vom Vortag wirkte der ganze Ort verkatert, und die Straße war ungewöhnlich leer. Bob stellte gerade erst die Schilder auf den Gehweg vor seinem Zeitungsladen. Er starrte Rosemary nach, als sie vorbeifuhr, und klappte dann den Ständer auf, auf dem Nicole heiratet wieder zu lesen war und darunter, in winzigen Buchstaben: behauptet Wahrsagerin.

Beim Imbiss hängte Johnno eben die Eisflaggen heraus, während seine Frau Doreen lethargisch den Staub vom Gehweg fegte. Als Rosemary vorbeifuhr, hielt sie inne und stützte sich auf ihren Besen.

Rosemary parkte hinter dem Büro des Chronicle neben Duncans schnittigem roten Flitzer. Bevor sie die wacklige Hintertreppe hochstieg, drehte sie sich noch einmal um und schaute auf den Glenelg River. Dort, auf der ebenen Fläche unter den großen roten Eukalyptusbäumen am Fluss, arbeitete Billy O’Rourke mit einer jungen Vollblutstute. Die junge Stute tänzelte und schnaubte in der Morgensonne, während er ruhig auf sie einredete. Wie es wohl war, so frei zu sein, fragte sich Rosemary unwillkürlich. Den ganzen Tag mit unverdorbenen, frischen Tieren wie diesem halbwüchsigen Fohlen zu verbringen? Leicht angekatert nach dem Chardonnay und der vielen Sonne vom Vortag beschloss sie, später mit ihm über den Job zu sprechen, den er für sie hatte. Sie drückte die Tür auf und trat in die staubig riechende Redaktion des Chronicle.

Duncan war schon da, zusammen mit Derek, der aufgeregt loskläffte und auf den Hinterbeinen tanzte, um an Rosemarys Bein zu kratzen. Duncan stand an seinem Schreibtisch und schüttelte das klobige Goldarmband an seinem dicken Handgelenk. Schon jetzt verdunkelten Schweißflecken sein lachsrosa Hemd. Er sprach aufgeregt in ein Telefon und fuhr sich mit der Hand durch die drahtigen blonden Haare, die, so vermutete Rosemary, nicht nur getönt, sondern noch dazu in Form gesprayt worden waren. Mit dem Stift in seiner anderen Hand malte Duncan mit hektischen Strichen großbusige Weiber auf den Notizblock auf seinem Schreibtisch.

»Ich dachte, deine Mutter hätte dir Geld für Bücher geschickt? Jepp. Ah-ha. Na gut. Ich schicke dir einen Scheck. Aber gib nicht alles für Gras aus. Oder Schnaps. Nein, bin ich nicht! Wie geht es deiner Mutter überhaupt?«

Bemüht, Duncans Gespräch mit seiner Tochter nicht zu belauschen, ließ sich Rosemary auf ihren Schreibtischstuhl fallen und fuhr den klobigen Uraltcomputer hoch. Auch er surrte lethargisch, als wäre er verkatert. Sie legte eine neue Datei an und begann, die Texte für ihre Fotos vom Renntag einzutippen.

»Mit zusammengekniffenen Arschbacken, um nicht allzu laut zu furzen, versammelten sich am Renntag v. l. n. r. Mrs Elizabeth Richards von Brookland Park, Susannah Morecroft von der Hillsville Station und Margaret Highgrove-Jones von der Highgrove Station.«

Erst als Duncan den Hörer auf die Gabel knallte und in die Hände klatschte, änderte sie hastig die erste Hälfte des Begleittextes.

»Morgen!« Er strich seine Haare zurück und hüpfte auf der Stelle wie ein Fußballspieler beim Aufwärmtraining. »Alles bereit für eine aufregende Nachrichtenwoche?«

»Ehrlich gesagt nicht«, antwortete Rosemary leise.

Sie wollte gerade dem hüpfenden Duncan ihren Film überreichen, als ihre Mutter in einer Wolke von Moschusparfüm durch die gläserne Eingangstür geschwebt kam. Margarets Gesicht war in sich zusammengefallen und geradezu verzerrt. Rosemary zog beunruhigt die Stirn in Falten. So verängstigt hatte ihre Mutter nicht einmal dreingesehen, als am Freitag vor dem Wochenende des »offenen Gartens« die Schafe in ihre Blumenbeete geraten waren.

»Rosemary.« Margarets Stimme versagte. »Es hat einen Unfall gegeben.«

Duncan war augenblicklich an ihrer Seite.

»Mrs Highgrove-Jones. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Margaret sah zitternd ihre Tochter an und blinzelte die Tränen zurück.

»Mum? Es ist doch nicht Julian? Oder Dad?«, fragte Rosemary, während sich die Angst wie Blei in ihrer Magengrube festsetzte.

»Sam. Es ist Sam«, flüsterte ihre Mutter. »Er ist tot.«


Die Knie an die Brust gezogen, saß Rosemary seit Stunden auf dem Fensterbrett in ihrem Zimmer und wiegte sich vor und zurück. Seit drei Tagen hockte sie inzwischen in ihrem Zimmer. Heute aber musste sie es verlassen. Heute wurde Sam beerdigt.

Wieder und wieder hatte sie im Geist die Stunden durchlebt, seit sie von Sams Unfall erfahren hatte. Der Schock. Die plötzlich einsetzende Angst. Sie erinnerte sich, von ihrem Stuhl in der Redaktion gerutscht und auf den Boden gefallen zu sein, wo sie am ganzen Leib zu zittern begann. Dann spürte sie Duncans Hand auf ihrer Schulter und die Finger ihrer Mutter, die ihr übers Haar strichen. Behutsam halfen die beiden ihr auf und führten sie nach draußen. Bob kam neugierig aus seinem Zeitungsladen gelaufen, und Doreen, Johnno und ihre Tochter Janine schauten betroffen von ihrem Imbiss zu ihr herüber. Sie wurde in den Geländewagen ihrer Mutter gesteckt. Ihr Vater saß mit versteinerter Miene auf dem Fahrersitz und wartete auf sie. Sie wurde auf direktem Weg nach Hause gefahren und auf ihr Zimmer gebracht. Sie wusste nicht genau, was ihr der Arzt gegeben hatte, aber sie wusste sehr wohl, dass die Vorhänge in ihrem Zimmer seit Tagen nicht aufgezogen worden waren. Auch in ihrem Kopf schienen sich schwere, dunkle Vorhänge geschlossen zu haben wie ein dichter Nebel. Jedes Mal, wenn sich der Nebel ein wenig lichtete, holte die Wirklichkeit sie ein, und sie weinte in ihr Kissen, bis sie Kopfschmerzen bekam. Sie wünschte sich so sehr, dass Sam in seinem glänzenden roten Holden Pick-up vors Haus gefahren kam. Sie stellte sich vor, wie er sie anlachte, ihr erklärte, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Sie wartete auf ihn. Aber er kam nicht mehr. Er würde nie wiederkommen. Die Nachricht, dass auch Jillian gestorben war, war ebenfalls zu ihr durchgedrungen. Aber irgendwie hatte Rosemary diesen Gedanken immer wieder weggeschoben. Bis jetzt.

Jetzt musste sie zu Sams Beerdigung. Sie konnte ihre Mutter unten hören.

»Doch nicht diese Krawatte, Julian! Hast du den Kranz? Pass doch auf damit! Glaubst du, man kann sehen, dass die Blumen aus unserem Garten sind? Sollte ich das auf die Karte schreiben? Bestimmt würde es den Angehörigen etwas bedeuten, wenn sie wüssten, dass die Blumen aus meinem eigenen Garten sind. Gerald, hilf mir, die Schnalle zuzumachen, ja?«

Die dröhnende, autoritäre Stimme ihrer Mutter erinnerte Rosemary an damals, als ihr Großvater gestorben war. Ihre Familie hatte der Trauer praktisch keinen Platz gelassen.

»Er hatte ein gutes Innings«, war alles, was ihr Vater dazu gesagt hatte. Außerdem hatte man sowieso den Eindruck, dass ihr Großvater das Haus nie verlassen hatte. Seine Porträts und seine Besitztümer waren immer noch da, wo sie seit jeher gewesen waren. Die Gemälde von Rosemarys Ururgroßvater und seiner Frau hingen immer noch an der Bilderschiene, die durch den ganzen Flur verlief, ihre Spazierstöcke standen immer noch in dem eleganten Schirmständer, und ihr Porzellan wurde immer noch in hohen Stapeln in dem schweren Sideboard aufbewahrt. Bleich und ernst starrten die Gesichter ihrer Ururgroßeltern aus den dunklen Holzrahmen.

»Man kann aus ihren Gesichtern ablesen, wie das Blut weitergegeben wurde«, hatte ihr Prudence einmal auf einem Rundgang durchs Haus erklärt. »Die edle schottische Abstammung ist unübersehbar. «

»Zum Glück haben sich die eng zusammenstehenden Augen nicht vererbt«, hatte Rosemary dazu gemeint. »Oder das grässliche Hakennasen-Gen. Oder der Hang zu viel Speck in langweiligen Klamotten.« Nach dem letzten Kommentar hatte sie Prue beklommen angesehen. Prue stand in ihrem langweiligen Kleid im Flur und sah eindeutig fett aus.

»Aber Rosemary!«, schnaufte Prue. »Du weißt die Vergangenheit nicht zu schätzen… Deine Vergangenheit. Das ist dein Erbe. Es ist ein Teil von dir.«

»Ich will es nicht haben. Ich kriege eine Gänsehaut davon. Ein Haus voller miesepetriger Greise.«

»Ach Gott. Ich wäre begeistert, wenn ich in einem so großen Haus wie diesem leben dürfte und einen schicken Bauernburschen zum Heiraten gefunden hätte.«

Während Pruedence immer weiter schwadroniert hatte, hatte Rosemary die Gemälde neben den Familienporträts betrachtet. Es waren größtenteils Stillleben von toten Fasanen und von erschossenen, noch blutenden Hasen neben irgendwelchen Zinnbechern, wobei die Tötungswerkzeuge jeweils sorgfältig in Position gebracht und mit viel Liebe zum Detail abgemalt worden waren. Außerdem gab es Bilder von windgepeitschten schottischen Hochmooren mit wolligen Highland-Rindern, deren Hörner manisch in den sturmgepeitschten Himmel piekten. Auch wenn dies das Gebiet in Schottland war, aus dem die Familie ihres Vaters stammte, gab vor allem ihre Mutter historische Anekdoten aus dem Ahnenstamm der Highgrove-Joneses zum Besten. Rosemary hatte trotzdem nicht das Gefühl, dass all das irgendwas mit ihr zu tun hatte. Ihre Heimat waren die Eukalyptusbäume am Fluss und die rollenden Hügel von Highgrove. Es war ihr unbegreiflich, warum ihre Mutter so stolz auf diese düsteren Schinken und dieses Vermächtnis war.

Ein leises Klopfen an der Zimmertür riss sie aus ihren Gedanken.

»Rose, Schatz. Zeit zu gehen«, hörte sie die weiche Stimme ihrer Mutter. Sie trat ins Zimmer und ts-ts-te, als sie ihre Tochter so verknautscht auf dem Fenstersims sitzen sah. »Aber so kannst du unmöglich gehen!«

Sie richtete Rosemary auf. Dann zupfte sie ihr Kostüm gerade, zerrte eine Bürste durch Rosemarys Haare und reichte ihr einen kleinen roten Lippenstift.

»Trag den auf.« Rosemary gehorchte. »So. Viel besser. Jetzt komm.«

Widerwillig folgte Rosemary ihrer Mutter die Treppe hinunter, vorbei an den Porträts längst verblichener Familienmitglieder. Als sie an den Bildern vorbeiging, schienen die toten Augen sie zu verfolgen.


In der Kirche starrte Rosemary reglos auf die blauen und weißen Agapanthus, die in einer hohen Urne vor der Kanzel standen. Sie schluckte einen schmerzlichen Kloß in ihrem Hals hinunter. Ihre Mutter saß leise schluchzend neben ihr. Gerald saß neben seiner Frau, das graue Haar mit Gel geglättet und mit Tränen in den Augen. Den ganzen Gottesdienst hindurch starrte er zu dem Buntglasfenster mit Christus am Kreuz empor. Julian hatte die gleiche Position eingenommen wie sein Vater. In der Bank vor ihnen saß Sams Mutter Elizabeth. Normalerweise war sie eine strenge, aufrechte, präzise Frau, aber heute hing sie zusammengesunken im Arm ihres Mannes. Rosemary sah unauffällig auf Marcus, Sams Vater. Er war Sam so ähnlich, dass sie das Bedürfnis spürte, über die Banklehne zu springen und seine kräftigen braunen Hände zu ergreifen. Aber als er sich umdrehte und sie traurig ansah, erkannte sie, dass er keineswegs Sam war. Sam lag tot in dem Sarg, der vor ihnen auf der Rollbahre stand.

Als sie in die Kirche gekommen waren, hatten alle Trauergäste Sams Eltern Trost gespendet, sie in die Arme genommen und ihnen leise ihr Mitgefühl ausgesprochen. In Rosemarys Nähe war niemand gekommen. Ihr hatten die Leute nur traurige Blicke zugeworfen, und dann waren sie weitergegangen. Was wussten die anderen wohl, rätselte Rosemary. Das Bild von Sam und Jillian, die nach dem Rennen auf dem Sattelplatz zusammengestanden hatten, blitzte in ihrem Geist auf. Rosemary schluckte ein Schluchzen hinunter und blickte auf das glänzende Holz von Sams Sarg. Sie wollte bei diesem endgültigen Abschied Liebe für ihn empfinden, aber stattdessen empfand sie nur den Griff der Angst und einen unseligen Verdacht, der jeden Gedanken verdüsterte.

Hinterher hielt sie, wie betäubt vor der Kirche in der Hitze stehend, in der herausströmenden Menge nach Dubbo Ausschau. Aber sie konnte ihn nirgendwo entdecken.

»Wo ist Dubbo?«, fragte sie ihre Mutter.

»Immer noch im Krankenhaus«, war die knappe Erwiderung.

Rosemary rätselte, ob Dubbo wohl zu der Beerdigung gekommen wäre, wenn er gekonnt hätte. Sein bester Freund war tot, und er hatte den Wagen gefahren, in dem er umgekommen war. Hätte er gewagt, hier aufzutauchen? Rosemary spürte, wie ihre Haut vor Zorn auf Dubbo kribbelte, und begann wieder zu weinen. Ihr einzigartiger Sam war tot.


Die Trauergäste blieben nicht lang bei den Clubsandwiches ohne Rinde und dem Tee in den dünnen Porzellantassen, die nach der Beerdigung im Heim der Chillcott-Clarks gereicht wurden. Sie unterhielten sich gedämpft, legten Marcus und Elizabeth beruhigend die Hand auf und verschwanden so bald und so unauffällig wie möglich aus dem riesigen alten Kasten. Rosemary saß aufrecht auf dem Sofa und fuhr mit den Fingern die Mulden und Falten in den braunen Lederpolstern nach. Als ihr Blick auf den kunstvoll geknüpften Teppich zu ihren Füßen fiel, verschwamm das Bild in Tränen. Auf diesem Teppich hatten sie und Sam sich das erste Mal geliebt. Sie hatte die weiche Wolle in ihrem Rücken gespürt, während Sam den Rock über ihre Taille geschoben und ihr die Bluse vom Leib gezogen hatte.

»Keine Angst, Rose. Vertrau mir.« Im nächsten Moment hatte sie gespürt, wie der Gummi des Kondoms an ihrer Haut rieb, und während Sam mit immer kräftigeren Stößen in sie eindrang, hatte sie die Zähne zusammengebissen und nach hinten und oben geschaut. Ihr Blick hatte sich mit dem unbeseelten, glasigen Blick eines Hirsches gekreuzt, dessen Kopf über dem Marmorkamin aufgehängt war.

Nachdem Sam fertig gewesen war, hatte er ihr erklärt: »Pass auf Mums Teppich auf, Pooky. Er ist aus England, verstehst du?« Rosemary hatte sich ein Kichern verkneifen müssen. Ehrlich gesagt hatte sie sich ihr erstes Mal ein wenig anders vorgestellt, aber dafür war Sam hinterher besonders nett zu ihr gewesen und hatte ihr ein selbst gemachtes Eis mit glasiertem Ingwer gebracht. Sie hatten sich auf der Couch zusammengekuschelt, Eis gegessen und einander angelächelt.

Jetzt kam Marcus Chillcott-Clark und setzte sich zu ihr auf die Couch. Sie hatte den Kopf zur Seite gedreht und versucht, den Hirsch wie damals kopfüber zu sehen.

»Wie hältst du dich?«

»Ehrlich gesagt weiß ich es selbst nicht«, antwortete sie heiser.

»Elizabeth und ich würden uns freuen, wenn du uns besuchen kämest. Du sollst nicht das Gefühl haben, dass du dich von uns fern halten musst.«

»Ach«, sagte sie, bemüht, die richtigen Worte zu finden. »Danke. Das ist sehr nett.« Dann starrte sie wieder auf den Teppich, und in ihrem Herzen nistete sich die Kälte ein.